Vigo di Fassa – Aufstieg zur Rotwandhütte

Vigo di Fassa – Aufstieg zur Rotwandhütte

20.07.2003

Um acht Uhr morgens stehen wir endlich an der Talstation der Gondelbahn von Vigo di Fassa, nachdem wir die ganze Nacht von Koblenz durchgefahren sind, ohne auch nur ein Sekündchen zu schlafen (das gilt zumindest für mich – und angeblich auch für meinen Fahrer Michael).

Nach nunmehr drei Jahren Abstinenz haben wir uns erneut für einen Besuch im Rosengarten entschieden, dessen Name immer noch schmerzliche Erinnerungen in mir weckt. Dieses Mal bringen wir jedoch ein gutes Stück mehr Erfahrung mit, ganz zu schweigen von unseren neuesten Errungenschaften in Sachen Equipment – den flotten Steinschlaghelmen, die uns – egal, ob auf der Birne sitzend oder am Rucksack baumelnd – das gewisse professionelle Etwas verleihen. Bleibt zu hoffen, dass uns die Tage ein paar ordentliche Kawenzmänner auf die Köpfe krachen, damit sich die Teile auch amortisieren.

Gegen Entrichtung von je 6 € Preisgeld befördert uns die Gondel innnerhalb weniger Minuten den 600 Meter hohen Grashang hinauf zur sonnenbeschienen Bergstation (1997m). Gleich zwei Wege führen zu unserem Ziel, der Rotwandhütte (Roda di Vael, 2280m). Wir geben der Nummer 541 den Vorzug. Der ist zwar länger als der Val di Fassa-Höhenweg 545, dafür verlässt er jedoch schnellstmöglich den Wald und führt über felsiges Terrain. Bereits nach einer halben Stunde mäßigen Anstieges sind unsere T-Shirts vollkommen durchgeschwitzt – ein Zustand, der sich als symptomatisch für diesen Urlaub erweisen soll. Offenbar sind wir mitten in den mediterranen Hochsommer hineingeplatzt.

Nachdem wir einen Blick auf das bekannte Vajolettal geworfen haben, schnaufen wir uns müdeBlick auf Rotwand den Pfad unterhalb des zweistöckigen Zigolade-Massivs entlang. Am Pass unterhalb des Mugoni erwartet uns der großartige Ausblick auf die senkrechte Ostflanke der Rotwand (2806m).
Ein Mann macht sich in unseren Augen verdächtig, als er mit seiner Videokamera reichlichBody Snatchers merkwürdige Blumen aufnimmt. Diese Pflanzen haben wir noch niemals in natura gesehen, sie erinnern uns jedoch an eine außerirdische Spezies aus dem anspruchsvollen Hollywood-Streifen „Die Körperfresser kommen“ mit dem unvergessenen Donald Sutherland in der Hauptrolle. Wir beschließen, in dieser Hinsicht wachsam zu sein und die bizarren Kreaturen im Auge zu behalten. Auf keinen Fall möchten wir eines Morgens als hirnlose Automaten erwachen, die nur noch die Erhaltung ihrer Art im Sinn haben.

Nach etwa drei Stunden Gehzeit (inkl. Frühstückspause) erreichen wir schließlich die Rotwandhütte nebst der Imbissbude genannt Pederiva-Hütte und sind einigermaßen verblüfft über die hektische Beriebsamkeit, die dort vorherrscht.
Auf den Terrassen und Wiesen räkeln sich mehr als hundert Menschen herum – zumeist Italiener – undoans… zwoa… bsoffa! genießen plappernd die Sonne. Wir trinken jeder ein Weissbier und sind im Nu hackenstramm. So betrunken war ich nicht mehr seit letztem Rosenmontag – am hellichten Tage wohlgemerkt. Wir torkeln zu einem netten Wiesenplätzchen herüber und versuchen, wenigstens ein Häppchen des verlorenen Nachtschlafes nachzuholen. Vergebens. Konzenrationsängste machen sich breit. Nur ein paar kleine Döserchen sind drin.

Als sich der Trubel am Nachmittag ein wenig gelegt hat, rappeln wir uns auf und gehen die Besteigung des Hausberges Ciampaz (2316m) an. Dank wackliger Beine gestaltet die sichRotwandhütte vom Gipfel des Ciampaz gar nicht unschwierig. Auf dem Gipfel überkommen mich Absturzhalluzinationen. Ich freue mich auf mein Bett. Das Abendessen ist schnell abgehakt: die Spaghetti con Fleischsoße kommen als Kinderration daher, ich kaue jeden Bissen 40x und äuge neidisch zu den vier Hannoveranern am Nachbartisch hinüber, die so umsichtig waren, die Würstchenplatte zu ordern.
Die anderen Hüttengäste verschwinden bereits ab 20 Uhr auf den Zimmern. Wir beide sind mit einem Male wieder verdächtig wach und gehen wie so oft als letzte.

1.Tag: Rotwand (2807m) – via Hirzelweg zur Rosengartenhütte

© Stefan Maday 05.09.2003

Rotwand (2807m) – via Hirzelweg zur Rosengartenhütte

Rotwand (2807m) – via Hirzelweg zur Rosengartenhütte

21.07.2003

Für meine seit langer Zeit erste Nacht in größerer Höhe habe ich leidlich geschlafen.Rotwand von Nordosten Glücklicherweise sind die berüchtigten Atem- und Verdauungsgeräusche ausgeblieben, die in Massenunterkünften sonst leider nur all zu prävalent sind. Das Wetter verspricht zunächst heiteren Sonnenschein, doch die hohe Luftfeuchtigkeit und das Radio der Kellnerin lassen abendliche Gewitter befürchten. Nach dem standardisierten Frühstück machen wir uns an das heutige Tagewerk. Wir wollen zunächst die Rotwand be- und anschließend die Ferrata Masaré durchsteigen.

Ein erträglicher Anstieg zum Vaiolonpass (2560m) beschert uns schließlichBlick vom Vailonpass auf Latemar neben einer schönen Aussicht auf den (oder das) Latemar auch den Beginn des Rotwand-Klettersteiges. Neben dem obligatorischen Klettergeschirr kommen selbstredend die schicken Helme zum Einsatz. Michael hat übrigens einen weißen und ich einen roten, damit man uns aus dem Weltall leichter auseinanderhalten kann.

Wer sich die Rotwand von Westen oder von Osten aus genauer betrachtet, mag kaum glauben,Auf dem Rotwand-KS: Blick auf die Tscheiner-Spitze (2810m) dass es einen Weg geben könne, der einen Menschen ohne großartige Schwierigkeiten und Existenzängste dort hinauf beförderte. Doch eben jenes leistet der Rotwand-KS, der sich – dort, wo es angebracht scheint – stets gut gesichert über den nördlichen Grat etwa 250 Hm hinaufwindet.

Wir haben mehr Glück als Roberto Garcéa, der im Jahre 1965 im zarten Alter von 18 Jahren zu Tode gekommen ist – wie eine Gedenktafel knapp unterhalb des Gipfels bezeugt – und erreichen freudig den Gipfel der Rotwand.

Der ist großzügig ausgelegt und bietet Platz für jedweden Ansturm – heute sind wir jedoch nur etwaAuf dem Dach der Rotwand (2806m) zu zehnt. Die Aussicht lässt mittlerweile zu wünschen übrig, dunstig ist es in der Ferne und über uns ziehen Wolken auf. Da ich neuerdings Nichtraucher bin, fällt auch die früher obligatorische Gipfelzigarette flach und alles was mir bleibt ist die Freude über die gelungenge Besteigung eines aufregenden Berges an sich.

Einstieg in Masaré-KlettersteigDer Abstieg über den Südhang erfolgt zunächst gemütlich in Serpentinen bis zu einem steilen Kar. Hier zweigt der Masaré-KS ab. Wenig vertrauenerweckend führen Stahlseile die glatte, senkrechte Wand entlang. Ich steige kurz ein. Trittstifte sollen die fehlenden natürlichen Vorsprünge ersetzen. Handgriffe sind rar. Das ist uns dann doch zu gruselig und wir wählen lieber den direkten Abstieg durch das Kar, der steil, anfangs gesichert, später durch Schotter zur Rotwandhütte hinabführt.

Da der Nachmittag noch recht jung ist, beschließen wir, heute noch zur Rosengartenhütte weiterzustiefeln. Von der wissen wir nämlich aus Erfahrung, dass sie eine warme Dusche und ein köstliches Wiener Schnitzel bereit hält. Wegen des hohen Regenrisikos wählen wir den Hirzelweg, der einfach zu begehen ist und der sich einmal um den südlichen Sporn des Rosengarten herumzieht.Federvieh Dort treffen wir auf ein pompöses Monument in Gestalt eines Greifvogels und eine lange Sitzbank, auf der einige depressive Senioren herumsitzen. Während Michael ein Foto von dem Flattermann schießt, muss ich mir die Kommentare der älteren Herren anhören, wie ungerecht es doch sei, dass ich noch so jung sei und dass ich diesen Umstand doch gar nicht zu schätzen wisse. Ich kann mir jedoch – Hand aufs Herz – schlimmere Martyrien vorstellen, als den lieben langen Tag in der Sonne herumzusitzen, ohne arbeiten zu müssen. Doch ist es dem Menschen inhärent, dass er niemals mit dem zufrieden ist, was er hat.

Mit der ersehnten Hütte kommt auch das schwarze Gewitter in Sicht, das sich offenbar im Norden über dem Schlern austobt. Wir drücken noch einmal mächtig auf die Tube, nehmen prustend den finalen Anstieg und erreichen die Hütte, die mindestens so viele Namen wie der Teufel hat (Rosengartenhütte, Kölner Hütte, Rif. Coronelle, Rif. Fronza), trockenen Fußes. Als die Sintflut endlich einsetzt, haben wir schon geduscht (2,30 €) und geschnitztelt (10,50 € mit Pommes). Lustigerweise haben wir wieder unser niedliches altes Turmzimmerchen von vor drei Jahren zugeteilt bekommen. Nur dieses Mal werde ich nicht vor Schmerzen schreien müssen, sollte ich heute nacht durch einen unwiderstehlichen Drang über die steile knatschige Holztreppe einen Stock tiefer getrieben werden.

2.Tag: Klettersteig am Santner Pass – Antermoia-Hütte

© Stefan Maday 05.09.2003

Klettersteig am Santner Pass – Antermoia-Hütte

Klettersteig am Santner Pass – Antermoia-Hütte

22.07.2003

Nach herrlichem Schlaf im Zweibettzimmer gönnen wir uns für 6€ ein(e) Colazione – das ist so etwas ähnliches wie Frühstück, nur nicht so lecker. Das Wetter ist nach dem gestrigen Regen wieder zu gewohnter Stabilität zurückgekehrt. Weit im Westen, jenseits des Eisacktals, prangen die weißen Hänge der fast 4000 Meter hinaufragenden Ortlergruppe. Dort hat dieser (vorläufige) Jahrhundertsommer bisher keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Leider nützt uns der Sonnenschein momentan noch nichts, denn bis zum Erreichen des Santner Passes werden wir uns im finsteren Schlagschatten der Rosengartenspitze (Cima Catinaccio, 2987m) und des ihr vorgelagerten Baumannkammes bewegen.

Kaum aus der Haustür, erwartet uns bereits der grauenhaft steile Aufstieg auf das nächsthöhere Felsband. Am frühen Morgen blubbert das Blut noch fürchterlich viskos durch die Adern und auf dem oberen Absatz angekommen sind wir ziemlich sicher, dass dies subjektiv bereits die schlimmste Anstrengung für den heutigen Tag gewesen sein muss. Der Weg wird bald zum engen Krabbelpfad. Wir legen unsere Klettersteigsets an – die Helme haben wir schon bei Verlassen der Hütte aufgestülpt. So absurd die Dinger auch aussehen mögen – beim Rumkrabbeln im Fels geben sie einem schon ein gewisses Gefühl von Sicherheit – auch wenn es letztlich nur zwei Millimeter Plaste sind, die das weiche Hirn vom harten Dolomit abschirmen sollen. Und nach wenigen Minuten Gewöhnungszeit spürt man sie überhaupt nicht mehr.

Drahtseil- oder ähnliche Sicherungen sind zunächst Fehlanzeige. Als wir diesen Weg vor drei Jahren in umgekehrter Richtung durchstiegen haben, sah alles anders aus. Nur wenige markante Stellen sind mir in ErinnerungSantner Pass Klettersteig geblieben wie z.B. das Rattenloch, durch das wir uns bäuchlings hindurchquetschen. Die beiden barhäuptigen Deutschen hinter uns gehen einfach drumherum. Diese Alternative war uns wohl entgangen. Wir tun so, als hätten wir da selbstverständlich auch hergehen können, ohne uns überall einzusauen und einzubeulen, aber letztlich lasse die Benutzung vereinfachender Abkürzungen doch auf keinen ausgeprägten Sportsgeist schließen. Das nimmt man uns nicht so ganz ab. Immerhin beneidet man uns standesgemäß um unsere Kopfbedeckungen.

So klettern wir einige enge Kamine hinauf und treffen irgendwann auf die Schneerinne von damals, die in diesem Sommer de facto nur noch eine Rinne ist. Einige gesicherte Kletterpassagen und immer mehr Gegenverkehr folgen, bis wir schließlich den Santner Pass (2741m) erreichen.

Der Ausblick rundherum auf Latemar, das Eisacktal und die Vajolettürme ist beinahe so beeindruckend wie vor drei Jahren. Damals standen jedoch noch nicht solche Menschenmassen um uns herum wie heute. Wir sind in diesem Jahr drei Wochen später dran als sonst, was sich auch temperaturlich deutlich auswirkt.

Nach kurzer Freu- und Atempause marschieren wir das kurze Stück unterhalb der Laurinswand (2813m) zur Gartlhütte (2621m) hinunter. Wir setzen uns in die sengende Sonne, beobachten, wie sich die vielen Seilschaften an den grandiosen Vajolettürmen gegenseitig auf die Füße treten und futtern dabei Kekse und Ekelsalami. In Richtung Nordosten thront über dem Vajolettal ein bemerkenswerter Gipfel, der nicht recht in das formative Dolomitenschema „Turm, Klotz oder Wand“ hineinpassen will und von dem später noch die Rede sein wird.

Der 400Hm-Abstieg ins Vajolettal verläuft über einen Krabbel-Stolper-Hang und zieht sich verkehrsbedingt ordentlich in die Länge, denn uns kommen drei oder vier italienische SchulklassenSodom und Gomorrah! entgegen. Multipliziert man die Worte „Ciao!“, „Salve!“, „Buon Giorno!“, „Grazie!“ und „Prego!“ mit einem Faktor hundert, erhält man in etwa eine Vorstellung, welche Prüfung das für uns bedeutet.

Wir sind beruhigt, dass sowohl das „Herrlicher Anblich“-Schild als auch die Vajoletthütte immer noch fest verankert in der Erden stehen. Letztere hat nun wirklich den Titel „Ballermann der Dolomiten“ verdient, tanzt hier doch der Bär: Menschenmassen campieren auf den angrenzenden Wiesen und auf der Terrasse lümmeln sich minderjährige Bikinigirls herum. Dass es hier nachts teilweise bis 23 Uhr rundgeht, davon können wir Zeugnis ablegen – skandalöse Zustände für eine Zufluchtstätte des ehrwürdigen Alpenvereins.

Dennoch wollen wir heute noch weiter und Neuland entdecken. Ich lasse meinen Michael auf der Antermoiahütte anrufen. Dort teilt man ihm mit, dass bis auf vier Schlafgelegenheiten alle belegt seien und eben diese vier dürften laut Vorschrift nicht reserviert werden, sondern würden nach einem beliebten Motto aus dem Sachsenspiegel vergeben, das da lautet: wer zuerst kommt…

Es ist also keineswegs sicher, dass wir bei unserer Ankunft ein Bett erhalten. Die Bedienmaus der Vajolethütte meint, man könne besagte Hütte innerhalb zweier Stunden erreichen, wenn man schnell sei. Wir kennen unsere Fähigkeiten recht genau und rechnen daher mit dreien. Dennoch wählen wir die Gefahr!

Der Senioren-Highway Nr.584 windet sich zur Grasleitenpasshütte (2600m) hinauf, die ich in einer früheren Reportage reißerisch als „luxuriösen Fahrradschuppen“ bezeichnet habe.Grasleitenpass mit Fahrradschuppen Kurz vor besagter Hütte verlassen wir den Pfad und schlagen uns in östlicher Richtung den steilen, schottrigen Kar zum Antermoiapass (2726m) hinauf. In der Südwand des monströsen Kesselkogel (Catinaccio di Antermoia, 3002m) erspähen wir eine kleine Höhle – mehr eine Nische – in Höhe des Pfades. Wer weiß, wozu die noch einmal nützlich sein mag…

Ein kluger Bekannter hat einmal gesagt: „Wo’t nuff geht, geht’s uch wieda runna“ und er hat noch immer recht behalten. In unserem Fall sind es aber nur gute 200HM „runna“ in das desolate Antermoiatal, wo hinter dem gleichnamigen See auch die zugehörige Hütte (2496m) gähnt. Mit zweieinhalb Stunden Gehzeit liegen wir exakt in der Mitte des Schätzungsintervalls.

Das aparte, aber etwas ruppige Hüttenfräulein stürzt sich augenblicklich in komplexe Berechnungen undLago Antermoia – im Hintergrund die Marmolada erlöst uns schließlich von den Qualen der Ungewissheit – man hat tatsächlich noch Platz für uns! In fließendem Italian-English erklärt sie uns die Hausordnung und zeigt uns die Quartiere: Dachboden, Vierermatratzen. Kuschelig. Bisher sind noch alle frei. Die anderen kommen gewiss noch.

Das nächste Mal lasse ich mir schon zu Hause einen Bart wachsen, bevor ich in die Dolos komme. Denn wenn ich auf mein Schnitzel schaue, muss ich annehmen, dass man mir schon wieder einen Kinderteller serviert hat. Dafür lande ich einen Riesencoup – mit tatkräftiger Unterstützung unserer Tischnachbarn schlage ich bei der Planung des morgigen Tages zu allererst eine Besteigung des Kesselkogel beim kritischen Michael heraus – ein fabulöser Dreitausenderspaß!

Als wir uns um zehn in die Kiste begeben, sind immer noch sechs Schlafplätze frei. Die anderen kommen gewiss noch. Wenn nicht, sind wir auch nicht traurig.

3.Tag: Cima Scalieret (2887m) – Abstieg nach Vigo di Fassa durch das Vajolettal

© Stefan Maday 05.09.2003

Cima Scalieret (2887m) – Abstieg nach Vigo di Fassa durch das Vajolettal

Cima Scalieret (2887m) – Abstieg nach Vigo di Fassa durch das Vajolettal

23.07.2003

Der frühe Morgen bringt Ernüchterung: irgend etwas stimmt nicht mit dem Wetter. Der TagesanbruchAntermoia-Hütte vor der Croda del Lago lässt die gewohnte Jungfräulichkeit vermissen, diese sonst so beruhigende Klarheit und Unschuld, die einem Zuversicht verleiht und spricht: „egal was war und was noch sein wird, lauft erst mal los und fürchtet euch nicht“. Kaum haben wir nach erfolgreichem Colazione den See in Richtung Kesselkogel passiert, fängt es an zu pieseln. Leicht zunächst, doch der Himmel zieht sich sukzessive zu.

Die Hoffnung auf Dreitausenderspaß ist damit zunichte gemacht, denn bei Regen wollen wir den Kesselkogel-Klettersteig nicht angehen. Stattdessen stapfen wir zum Antermoiapass hinauf. KaumDie Höhle des Wolpertingers oben, beginnt es kräftig zu regnen. Flugs rennen wir zu der kleinen Grotte, die wir gestern entdeckt haben. Die erweist sich als obergemütlich. Wie immer versucht Michael, mir mit seinen albernen Wolpertinger- Gruselgeschichten Angst einzujagen. Zunächst mit Erfolg. Doch nach dem Brunch hellt sich der Himmel draußen wieder auf und der Gipfelhunger erwacht erneut in mir. Wir befinden uns unweit der Cima Scalieret (2887m), jenes Berggipfels, den wir gestern von der Gartlhütte aus erspäht haben.

Auch wenn es keinen offiziellen Pfad auf die Spitze gibt, konnten wir gestern dort oben LeuteCoolman vor dem Gipfel der Cima Scalieret und ein Gipfelkreuz ausmachen. Unser Entschluss ist gefasst. Ein erkennbarer Trampelpfad führt Blick auf Rosengartenspitze und Gartlhütte von der Höhle zum Passo Scalieret (2768m) hinüber, von dort arbeiten wir uns auf den Grat in Richtung Süden vor. Nun gerät die eigentiche Spitze ins Visir. Sie kommt für einen Dolomitengipfel ziemlich unspektakulär daher – quasi „alpin“ – ein Horn, welches man über den mäßig ansteigenden Grat ohne irgendwelche Kletterhilfsmittel erwandern kann – selbstsicheres Auftreten vorausgesetzt.

Oben (2887m) bemerken wir, wie hoch dieser unbedeutende Berg in Wahrheit ist, denn wir genießen einen fantastischen ?El Barto, qué haces allá?Ausblick auf den Rosengarten, insbesondere aber auf die Wolken, die aus Richtung Rosengartenspitze kommend wie Ejakulat im Wasser auf uns zu schießen. Geschwind steigen wir wieder ab und suchen die Nähe unserer heimeligen Höhle. Doch der befürchtete Kübelguss bleibt aus. Vielmehr verkrümeln sich die Wolken und die Sonne kommt immer häufiger zum Vorschein, als wir die Grasleitenpasshütte erreichen (zur Erinnerung: das war dieser Fahrradschuppen). Hier sollte man sich keinesfalls den Blick hinab in den berüchtigten Grasleitenkessel entgehen lassen, jene bodenlose Höllengrube, die uns vor drei Jahren soviel schmerzhaftes Lehrgeld abgezollt hat.

Wir beobachten einige Leute, die in den westlichen Teil des Kesselkogel-KS einsteigen, der unmittelbar über dem Pass beginnt. Für uns fällt dieser Spaß flach, denn wir wollen heute abend zurück im Fassatal sein und haben daher einen langen Weg vor uns. Der führt uns wieder einmal zur Vajolethütte, die uns noch einen Drink auf der Sonnenterrasse wert ist. Von den zwei Wegen, die uns unwiderruflich aus dem Vajolettal hinausführen, wählen wir den oberen (Nr.541), da er uns landschaftlich interessanter erscheint. Zu unserem Entsetzen führt er nach kurzem Abstieg wieder mehrere hundert Meter bergauf. Der Colle Barbolada (2375m) ist ein am Weg liegendes Gipfel-Sonderangebot.

Der Weg – so schön und abwechslungsreich er angelegt ist – beginnt sich allmählich zu ziehen.Murmeltiere bei der Paarung! Unter unzähligen kleinen Spitzen und Türmchen geht es – mal eng, mal großzügig – auf und ab, bis uns die Füße schmerzen, der Verstand einschläft und ich nur noch diese monotone, geisterhafte Stimme vernehme, die mir brutal „Vorwärts!“ befiehlt und dann mit zartem Unterton hinterher haucht: „Sonst ist bald die letzte Gondel ins Tal weg.“ Schließlich treffen wir auf den vertrauten Weg, den wir am Sonntag hinaufgekommen sind. Der schmerzhafte Abstieg über 300Hm ist unausweichlich und irgendwann erreichen wir die Bahnstation. Die letzte Gondel ist noch lange nicht weg, geschwind sind wir unten und kurven mit dem Auto in Richtung Gadertal, auf der Suche nach einem Zimmer für die Nacht.

Fazit: Der Rosengarten ist ein ganz großer, auch wenn er nach vier Tagen ein wenig zusammengeschrumpft ist.

4.Tag: Heiligkreuzkofel (Versuch)

© Stefan Maday 05.09.2003

Auf dem Fr. August-Weg zur Vajoletthütte (2243m)

Auf dem Fr. August-Weg zur Vajoletthütte (2243m)

29.06.2000

(i) Ein schöner Tag mit Fritz Wieder eine Nacht durchgeschlafen, das scheint zur Gewohnheit zu werden. Wir verzichten wiederum auf das Hüttenfrühstück und wollen es uns erst einmal durch etwas Almenbummeln verdienen. Das Wetter hat sich beruhigt, die Sonne leuchtet erstarkt vom Himmel, an dem sich noch die Wolkenfetzen tummeln, welche vom gestrigen Gewitter übrig geblieben sind. Im frischen feuchten Morgenlicht präsentiert sich die Gegend in malerischen Farben. Wir liegen zu Füßen des gewaltigen Langkofelmassivs, unter dessen Felskante wir heute einen beträchtlichen Teil unseres Weges in Richtung Westen zurücklegen werden. Wenigstens bis zur Tierser Alpl-Hütte wollen wir im Laufe des Tages vordringen, ein weiter Weg, von dem man uns jedoch versichert hat, daß er sehr einfach und daher hurtig zu begehen sei. Das Radio verspricht passables und leicht föhniges Wetter, das dürfte ein reiner Sonntagsspaziergang werden. Wir vertrauen uns dem Friedrich August-Weg an, den ich im weiteren der Kürze halber Fritz nennen möchte.
(ii) Immer den Langkofel entlang Ohne großartige Höhenschwankungen verläuft der Fritz am Südhang des Langkofel und oberhalb des Fassatales (Val di Fassa). Obwohl wir uns noch immer über der Baumgrenze befinden, die in den Dolomiten bei etwa 2000m liegt, ist der Südhang zumindest fleißig mit Gras bewachsen und nur gelegentlich steht nacktes Gestein an. Nach den hochalpinen Erlebnissen der beiden letzten Tage wiederum eine völlig andere Erfahrung für uns. Nirgends wirkt der Kontrast zwischen den sanften grünen Hügeln und den aus ihnen herausschießenden bleichen kantigen Felsbrocken krasser als beim Langkofel. Dieser Kontrast ist es, der den wahren Reiz der Dolomitenlandschaft ausmacht. Es übersteigt jegliche menschliche Phantasie, sich vorzustellen, daß diese kalkigen Klötze einst Korallenriffe in einem triassischen Flachmeer waren, die versteinerten und endlich nach Hebung der Alpen durch die Erosion wieder aus dem einstigen Uferschlamm herausgemeißelt wurden. Wir wandeln auf 200 Millionen Jahren abwechslungsreicher Erdgeschichte. Bald sind wir weit genug um den Col Rodela herumgelatscht, daß wir endlich doch noch zu unserem Marmolada-Anblick kommen. Der flache vergletscherte Nordhang schiebt sich gerade erkennbar durch den Dunst hervor. Ein Gipfelkreuz ist auch im Fernglas nicht auszumachen, der eigentliche Gipfel muß noch weiter hinten liegen. Wie zum Hohn besteht der höchste Dolomitengipfel nicht aus Dolomit, sondern aus ordinärem Kalkstein, wie man ihn in jedem Kochtopf findet. Wir entdecken einige Murmeltiere, soll heißen, das Falkenauge Michael entdeckt sie, deutet drauf und mit etwas Glück erkenne ich dann auch noch das ein oder andere Pelzknäuel, kurz bevor es in seine Höhle entschwindet. Oberhalb einer solchen Höhle werfen wir unser verdientes Frühstück ein. Unsere Brote sind derweil eine knappe Woche alt und nicht mehr genießbar, so opfern wir sie denn den Murmeltieren. Was bleibt, sind ein paar Zentimeter Salami und die Hoffnung auf ein üppiges Schnitzel zum Abendessen. Bald durchqueren wir die kleine Senke, in der die Sandro Pertini-Hütte liegt und marschieren unterhalb des Plattkofels weiter bis zur Plattkofelhütte (2300m). Hier herrscht plötzlich hektische Betriebsamkeit, eine große Gruppe von Langschläfern macht sich von der Hütte aus auf den Weg zum Gipfel. Der Plattkofel (2985m) ist der einzige Gipfel der Langkofelgruppe, der ohne Lebensgefahr begehbar ist. Die berühmten Spitzen Langkofel, Fünffinger und Grohmann sind ein Fall für echte Bergsteiger. Von Südwesten aus gesehen macht der Plattkofel seinem Namen alle Ehre, er wirkt wie eine riesige, sanft himmelwärts geneigte Rampe. Auf der entgegengesetzten Seite führt der steile Oskar Schuster-Steig hinunter in den Langkofelkar, den auch wir ursprünglich durchqueren wollten. Dann wären uns allerdings die vielen Kühe entgangen, die nun hinter dem Fassajoch unseren Weg säumen.
(iii) Das Auge ißt mit Die Szenerie wird nun richtig kitschig und postkartig, über Blumenwiesen schlängelt sich der Weg nach Westen, den Blick zur Linken auf das Fassamassiv, zur Rechten auf die Seiser Alm, der größten Alm der Alpen und zusammen mit dem Schlern der wohl bekannteste Naturpark der Dolomiten. Hier kommen Heidifans voll auf ihre Kosten. So treffen wir immer mehr Wanderer, als wir schließlich hinter dem Mahlknechtjoch den Senioren-Highway betreten, der an den Roßzähnen vorbei urplötzlich steil ansteigend zur Tierser Alpl-Hütte mit dem feuerroten Dach hinaufführt. Nach einigen Minuten furchtbarer, weil unvermuteter Anstrengung sitzen wir oben zu Tisch und lassen uns von einer schnuckeligen bayerischen Blondine einen kleinen Mittagshappen servieren. Heute sind wir erstaunlicherweise einmal schneller vorangekommen als erwartet. Blondine hin oder her, eigentlich haben wir keine Lust, den gesamten Nachmittag in der Hütte herumzulungern. Die Sonne hat sich mittlerweile wieder rar gemacht und zum Draußensitzen ist es viel zu kalt. Also beschließen wir, heute noch in den Rosengarten vorzustoßen. Nachdem wir unsere Trinkflaschen mit sündhaft teurem Tafelwasser gefüllt haben, folgen wir dem Weg mit der Nummer 3a nach Süden.
(iv) Der Rosengarten voller Dornen Schnell kommt wieder hochalpines Feeling auf, als wir uns über den teils drahtseilgesicherten Pfad nach oben arbeiten. Über das anschließende wüste Plateau marschierend fühlen wir uns endlich wieder heimisch. Bei Erreichen des Mahlknecht-Passes (2604m) stockt uns der Atem: zu unseren Füßen gähnt ein gigantischer Kessel, über und über angefüllt mit Geröll. Vis a vis liegt der Grasleitenpass auf etwa gleicher Höhe. Doch bis dahin wird es ein quälendes Stück Weg, das läßt sich jetzt schon abschätzen, denn der Pfad windet sich zunächst einmal beinahe bis zum Grund des Trichters hinunter, um dann wieder anzusteigen. Die Bergwanderei stellt im allgemeinen eine reichlich sinnlose Verschwendung von potentieller Energie dar, das wird uns hier so richtig bewußt. Ein nicht mehr ganz taufrischer Tiroler Alpenhaudegen, der mit seiner Mütze ausschaut wie der Nikolaus, und seine Begleitung machen uns vor, wie man eine Schotterpiste am effizientesten hinabsteigt. Mit Hilfe ihrer Stöcke stiefeln sie ohne Rücksicht auf Verluste schnurstracks auf dem kürzesten Weg den Hang hinunter, wobei sie kleine Lawinen lostreten, die ihre Fahrt zusätzlich beschleunigen. In einer Zigarettenlänge sind sie unten. Riskant und doch irgendwie elegant. So machen wir das aber nicht. Wir folgen den offiziellen Trittspuren durch die ungezählten Kehren. Eine knochenpeinigende Angelegenheit. Unser erster größerer Abstieg seit dem Grödner Joch vor zwei Tagen und bald schon jammern die Knieschneiben. Inspiriert durch den Nikolaus beginne ich zu rennen. Dann ist der Schmerz schneller wieder vorbei, denke ich mir. Das geht herrlich flott, wenn man den Boden kaum berührt und der lahme Michael ist schon bald weit hinter mir. Aber aufgepaßt, liebe Kinder, macht das nicht zu Hause nach! Unten angekommen erhalte ich den Lohn für meinen jugendlichen Leichtsinn: die alten Scharniere schmerzen und quietschen jetzt erst richtig vehement. Das war mehr als dumm und könnte sich noch als fatal erweisen. Wir müssen nicht gänzlich bis zur Sohle hinunter. Dort zweigt zwar ein Weg ab, der aber führt gen Westen zur Grasleitenhütte. Unser Pfad windet sich am östlichen Rand entlang. Das Geröll ist sehr viel grober als beim Abstieg und sobald es kurzfristig abwärts durch eine der tiefen Regenrinnen geht, wird der Schmerz unerträglich. Bald jedoch steigt der Pfad wieder steil an und ohne jegliches Zeitgefühl quälen wir uns langsam und mühsam hinauf zum Pass. Ein kleiner Trost: bergauf ist der Nikolaus auch nicht schneller als wir. Hier steht die Grasleitenpass-Hütte (2599m), ein luxuriöser Fahrradschuppen, in dem wahrscheinlich nur Hardliner und Gewitteropfer freiwillig übernachten. Der Hüttenwirt ist ein Motorrad Offroad-Champion, wie er gerne beweist, indem er mehrmals die Strecke in Richtung Vajoletthütte hoch- und runterjagt. Die letzten Meter zur ersehnten Vajoletthütte sind normalerweise nicht besonders anspruchsvoll zu gehen, in Anbetracht der 250Hm Differenz und meiner Anamnese ziehen sie sich aber wie Latex in die Länge. Wir haben es nicht eilig, die Sonne gibt wieder gelegentliche Intermezzi und wir senken unseren Kilometerschnitt durch viele kleine Humpelpausen.
(v) Vajolettparty Welch ein Schauer des Glücks mich durchzieht, als die Vajoletthütte endlich vor uns liegt. Direkt neben der Preußhütte auf einem kleinen Absatz in einer malerischen Schlucht, dem Vajolettal, gelegen. Das Tal wird von einem etwas fiesfarbigen gelben Bächlein durchströmt, aus dem ich nicht einmal dann trinken würde, wenn die Alternative Toilettenschüssel hieße. Doch vermutlich befördert er ganz unschuldig nur irgendwelche Sedimente in Richtung Adria. Die Hütte ist groß mit vielen Betten, wir ergattern ein Doppelzimmer. Leider hat es nur eine Bettpfanne, da wird es heute Nacht möglicherweise zu Verteilungskämpfen kommen. Hier herrscht ungewohnt viel Betrieb und Lärm, viele Gäste und vor allem eine italienische Schulklasse sorgen für eine unerwartete Atmosphäre. Wir sitzen gemeinsam mit zwei nicht schwindelfreien englischen Sozialarbeitern und zwei klettersteigverrückten Lehrerinnen am Tisch und lassen uns das Wiener Schnitzel mit Pommes schmecken. Draußen toben die Ragazzi jedesmal, wenn Holland einen Elfmeter verschießt und drinnen runden die jungen italienischen Kellnerinnen die Partystimmung perfekt ab. Meine Schmerzen lassen nach der ersten Buddel Vino Rosso bald nach. Für heute.
Über den Santner Pass zur Rosengartenhütte (2283m)

Über den Santner Pass zur Rosengartenhütte (2283m)

30.06.2000

(i) Man spricht deutsch Heute fühlen wir uns gar nicht fit, quälen uns aber schließlich doch aus dem Bett, um das Frühstück nicht zu verpassen. Das war eine weise Entscheidung, denn nach frischen Brötchen und Paracetamol geht es dem Gehirn bald viel besser. Meine Kniescheiben jedoch sind angeschwollen wie Ballons und schmerzen allein bei Berührung höllisch. Kaum, daß ich die Treppe herunterkomme. Wie soll das so weitergehen? Aus ungebrauchten Socken — die gebrauchten riechen nach einem Tag bereits schlimmer als eine Monatsproduktion Limburger — bastele ich mir provisorische Bandagen. Die sollen wärmen und stützen. Bei Michael hat es offensichtlich funktioniert, von dem höre ich diesbezüglich keine ernsthaften Klagen mehr. Da wir heuer nicht allzu viel vorhaben, könnten wir uns noch ein Stündchen im Bett herumlümmeln, denn laut Aushang sind die Zimmer bis 10 Uhr auszulassen, was immer das genau bedeuten mag. Da es uns jedoch ausdrücklich verboten ist, den Boiler für die Dusche anzugreifen, machen wir uns besser auf den Weg. Wir wollen über den Santner Pass und den berüchtigten nachfolgenden Klettersteig zur Rosengartenhütte marschieren, laut Karte nur ein Katzensprung. Ein Schild verspricht uns einen „Herrlichen Anblich“ vom Santner Pass aus, das kann ja eiter werden.
(ii) Torri del Vaiolet Erst einmal heißt es Höhe gewinnen. Westlich der Hütte kraxeln wir den felsigen Hang hinauf. Anstrengend zwar, doch ich finde das sehr viel angenehmer als das übliche Schottertreten. Solange es bergauf geht, spielen auch die Knie mit. Die Morgensonne brennt fleißig und uns wird ausnahmsweise richtig warm ums Herz. Nach einer Dreiviertelstunde beruhigt sich der Weg und führt die letzten Meter in Serpentinen hinauf auf ein gerölliges Plateau. Wir sind an der Gartlhütte (2621m) gelandet, zu Füßen der beeindruckenden Vajolettürme. Dreieinhalb Zinnen, die hellbraun senkrecht aus dem sanften Bergrücken schießen, bilden einen Anblick, an dem man sich gar nicht sattsehen kann. Die Bewohner der Gartlhütte sind um ihren Sommergarten wirklich zu beneiden. Eingedenk unseres großzügigen Zeitrahmens gönnen wir uns eine lange Pause mit Blick auf die Türme. Wir entdecken zwei Seilschaften, die sich gemächlich die Wände empor arbeiten. Was muß das für ein Gefühl sein, dort oben zu hängen, besonders dann, wenn man der Seilführer ist. Jeder Schritt, jeder Griff will sorgfältig gesetzt sein, die kleinste Unkonzentriertheit kann fatale Auswirkungen haben. Da dehnen sich zweihundert Meter zu einer kleinen Unendlichkeit. Nach mehr als einer Stunde raffen wir uns auf und folgen dem relativ gemütlich an der Westflanke des Plateaus ansteigenden Schotterpfad zum Santer Pass (2741m) nebst der gleichnamigen Hütte. Das Anblich-Schild hat nicht zuviel versprochen. Hinter uns dräuen immer noch die Vajoletttürme, zur Rechten dehnt sich das Eissacktal mit der Stadt Bozen. Hier enden die Dolomiten, die Berge dort hinten sehen aus wie überall in den Alpen. Vor uns blicken wir an der Westkante des Rosengartens entlang auf das Latemar-Massiv. Die Rosengartenhütte ist bereits zu sehen, bis dahin dürften es kaum mehr zwei Kilometer sein.

(iii) Pass des Schmerzes
Der Einstieg in den Klettersteig ist nicht zu übersehen, denn er spuckt peu a peu die Mitglieder einer Reisegruppe aus. Eine interessante Gesellschaft, bestehend aus einem jungen Mädchen und einigen älteren Herren. Einer fragt uns über den sagenhaften König Laurin ab, der einst im Rosengarten residiert haben soll, doch zu diesem Thema haben wir nicht viel beizusteuern.
Ein wenig mulmig ist uns schon zumute, als wir mit angelegten Gurten den Eisenweg betreten. Was wird uns dort erwarten? Nach den ersten Metern wird schnell klar, daß er auch nur ein Klettersteig wie viele andere ist. Leider führt er abwärts, unangenehm zu klettern, weil man nicht genau sieht, wo man hintritt. Aber Sicherungen gibt es reichlich und in den oft engen Spalten kann man auch nicht sehr tief stürzen. Highlight ist ein rutschiger kleiner Gletscher, der sich wie ein erstarrter Sturzbach über den Fels ergießt. Am über Kopf gespannten Seil hangeln wir uns hinüber ans andere Ufer.
Immer wieder kommen uns Wanderer entgegen, dann wird es eng. Zwischendurch einmal ein kurzer Anstieg, doch dann geht es wieder gnadenlos abwärts. Die Knie fangen allmählich wieder an zu schmerzen. Jeder kleine Hüpfer, jede kleine Drehung der Gelenke wird schließlich zur Tortur. Wer kennt nicht das Gefühl, bei jedem Schritt einen Eispickel durch die Kniescheiben gestoßen zu bekommen, der dann noch ordentlich in der Wunde herumgerührt wird. War der Klettersteig bisher ganz unterhaltsam, beginne ich nun das Ende herbeizusehnen. Das rückt in Gestalt der Rosengartenhütte immer mal wieder in Sicht, scheint jedoch nicht näher zu kommen. Mein Bewußtsein beginnt sich zu trüben, ich kann bald an gar nichts mehr denken und funktioniere einfach nur noch. Erinnerungen an enge Spalten und Rattenlöcher, durch die wir uns mit den riesigen Rucksäcken irgendwie hindurch zwängen. Immer weiter und kein Ende. Schließlich halluziniere ich, Sachsen kämen mir entgegen und fragten, wann die Action endlich losgehe.
Letztlich endet die Kletterei, der Pfad verläuft seichter und ich kann mit durchgedrückten Knien einigermaßen voranhumpeln. Sicherlich ein Anblick für die Götter. Nach vielen Pausen erreichen wir den Absatz, der genau oberhalb der Hütte liegt. Noch ein steiler, schmerzhafter und doch hoffnungsvoller Abstieg. Kaum sind wir endlich aus der Wand, purzelt eine Steinlawine wenige Meter hinter uns hernieder. Oben winkt jemand und vergewissert sich, daß wir noch leben. Ein Bergführer, er hat die Steine wohl absichtlich losgetreten, um den Leuten, die nach uns kommen, einen ähnlichen Schrecken zu ersparen. Das war ganz schön knapp. Ob der uns wirklich vorher gesehen hat?

(iv) Rosengartenhütte und das Ende
Wie dem auch sei, wir stehen vor der Rosengartenhütte — auch Kölner Hütte genannt — und ich bin von meinem Leid erlöst. Erfreulich zu sehen, daß die hier einen Sessellift haben, der ins Tal hinunter führt. Wir sind anscheinend die einzigen Gäste. Warme Dusche, Wiener Schnitzel mit Pommes, ein paar Bierchen und zu guter Letzt der Aufstieg in das kleine Turmzimmer. Um zehn Uhr geht das Licht aus.

Vor dem Einschlafen habe ich eine Vision: ich werde morgen nicht mehr laufen können. Karer Pass oder Durchsteigung der Rotwand lösen sich in Nebel auf. Ich sehe eine Fahrt mit dem Lift ins Tal und eine fünfstündige Odyssee mit den Südtiroler Verkehrsbetrieben nach St. Christina. Ich sehe Straßenschuhe, eine lange Autofahrt, Rotlicht und Antiphlogistika. Schade, daß es so enden mußte. Immer noch besser, als von Diarrhoe und Langeweile am Strand der Dominikanischen Republik dahingerafft zu werden.

PS: Der Schnarcher war einer der Fünf Freunde.

Das wars. Mehr kommt nicht. Vielleicht nächstes Jahr.

© Stefan Maday 16.08.2000