22.07.2003

Nach herrlichem Schlaf im Zweibettzimmer gönnen wir uns für 6€ ein(e) Colazione – das ist so etwas ähnliches wie Frühstück, nur nicht so lecker. Das Wetter ist nach dem gestrigen Regen wieder zu gewohnter Stabilität zurückgekehrt. Weit im Westen, jenseits des Eisacktals, prangen die weißen Hänge der fast 4000 Meter hinaufragenden Ortlergruppe. Dort hat dieser (vorläufige) Jahrhundertsommer bisher keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Leider nützt uns der Sonnenschein momentan noch nichts, denn bis zum Erreichen des Santner Passes werden wir uns im finsteren Schlagschatten der Rosengartenspitze (Cima Catinaccio, 2987m) und des ihr vorgelagerten Baumannkammes bewegen.

Kaum aus der Haustür, erwartet uns bereits der grauenhaft steile Aufstieg auf das nächsthöhere Felsband. Am frühen Morgen blubbert das Blut noch fürchterlich viskos durch die Adern und auf dem oberen Absatz angekommen sind wir ziemlich sicher, dass dies subjektiv bereits die schlimmste Anstrengung für den heutigen Tag gewesen sein muss. Der Weg wird bald zum engen Krabbelpfad. Wir legen unsere Klettersteigsets an – die Helme haben wir schon bei Verlassen der Hütte aufgestülpt. So absurd die Dinger auch aussehen mögen – beim Rumkrabbeln im Fels geben sie einem schon ein gewisses Gefühl von Sicherheit – auch wenn es letztlich nur zwei Millimeter Plaste sind, die das weiche Hirn vom harten Dolomit abschirmen sollen. Und nach wenigen Minuten Gewöhnungszeit spürt man sie überhaupt nicht mehr.

Drahtseil- oder ähnliche Sicherungen sind zunächst Fehlanzeige. Als wir diesen Weg vor drei Jahren in umgekehrter Richtung durchstiegen haben, sah alles anders aus. Nur wenige markante Stellen sind mir in ErinnerungSantner Pass Klettersteig geblieben wie z.B. das Rattenloch, durch das wir uns bäuchlings hindurchquetschen. Die beiden barhäuptigen Deutschen hinter uns gehen einfach drumherum. Diese Alternative war uns wohl entgangen. Wir tun so, als hätten wir da selbstverständlich auch hergehen können, ohne uns überall einzusauen und einzubeulen, aber letztlich lasse die Benutzung vereinfachender Abkürzungen doch auf keinen ausgeprägten Sportsgeist schließen. Das nimmt man uns nicht so ganz ab. Immerhin beneidet man uns standesgemäß um unsere Kopfbedeckungen.

So klettern wir einige enge Kamine hinauf und treffen irgendwann auf die Schneerinne von damals, die in diesem Sommer de facto nur noch eine Rinne ist. Einige gesicherte Kletterpassagen und immer mehr Gegenverkehr folgen, bis wir schließlich den Santner Pass (2741m) erreichen.

Der Ausblick rundherum auf Latemar, das Eisacktal und die Vajolettürme ist beinahe so beeindruckend wie vor drei Jahren. Damals standen jedoch noch nicht solche Menschenmassen um uns herum wie heute. Wir sind in diesem Jahr drei Wochen später dran als sonst, was sich auch temperaturlich deutlich auswirkt.

Nach kurzer Freu- und Atempause marschieren wir das kurze Stück unterhalb der Laurinswand (2813m) zur Gartlhütte (2621m) hinunter. Wir setzen uns in die sengende Sonne, beobachten, wie sich die vielen Seilschaften an den grandiosen Vajolettürmen gegenseitig auf die Füße treten und futtern dabei Kekse und Ekelsalami. In Richtung Nordosten thront über dem Vajolettal ein bemerkenswerter Gipfel, der nicht recht in das formative Dolomitenschema „Turm, Klotz oder Wand“ hineinpassen will und von dem später noch die Rede sein wird.

Der 400Hm-Abstieg ins Vajolettal verläuft über einen Krabbel-Stolper-Hang und zieht sich verkehrsbedingt ordentlich in die Länge, denn uns kommen drei oder vier italienische SchulklassenSodom und Gomorrah! entgegen. Multipliziert man die Worte „Ciao!“, „Salve!“, „Buon Giorno!“, „Grazie!“ und „Prego!“ mit einem Faktor hundert, erhält man in etwa eine Vorstellung, welche Prüfung das für uns bedeutet.

Wir sind beruhigt, dass sowohl das „Herrlicher Anblich“-Schild als auch die Vajoletthütte immer noch fest verankert in der Erden stehen. Letztere hat nun wirklich den Titel „Ballermann der Dolomiten“ verdient, tanzt hier doch der Bär: Menschenmassen campieren auf den angrenzenden Wiesen und auf der Terrasse lümmeln sich minderjährige Bikinigirls herum. Dass es hier nachts teilweise bis 23 Uhr rundgeht, davon können wir Zeugnis ablegen – skandalöse Zustände für eine Zufluchtstätte des ehrwürdigen Alpenvereins.

Dennoch wollen wir heute noch weiter und Neuland entdecken. Ich lasse meinen Michael auf der Antermoiahütte anrufen. Dort teilt man ihm mit, dass bis auf vier Schlafgelegenheiten alle belegt seien und eben diese vier dürften laut Vorschrift nicht reserviert werden, sondern würden nach einem beliebten Motto aus dem Sachsenspiegel vergeben, das da lautet: wer zuerst kommt…

Es ist also keineswegs sicher, dass wir bei unserer Ankunft ein Bett erhalten. Die Bedienmaus der Vajolethütte meint, man könne besagte Hütte innerhalb zweier Stunden erreichen, wenn man schnell sei. Wir kennen unsere Fähigkeiten recht genau und rechnen daher mit dreien. Dennoch wählen wir die Gefahr!

Der Senioren-Highway Nr.584 windet sich zur Grasleitenpasshütte (2600m) hinauf, die ich in einer früheren Reportage reißerisch als „luxuriösen Fahrradschuppen“ bezeichnet habe.Grasleitenpass mit Fahrradschuppen Kurz vor besagter Hütte verlassen wir den Pfad und schlagen uns in östlicher Richtung den steilen, schottrigen Kar zum Antermoiapass (2726m) hinauf. In der Südwand des monströsen Kesselkogel (Catinaccio di Antermoia, 3002m) erspähen wir eine kleine Höhle – mehr eine Nische – in Höhe des Pfades. Wer weiß, wozu die noch einmal nützlich sein mag…

Ein kluger Bekannter hat einmal gesagt: „Wo’t nuff geht, geht’s uch wieda runna“ und er hat noch immer recht behalten. In unserem Fall sind es aber nur gute 200HM „runna“ in das desolate Antermoiatal, wo hinter dem gleichnamigen See auch die zugehörige Hütte (2496m) gähnt. Mit zweieinhalb Stunden Gehzeit liegen wir exakt in der Mitte des Schätzungsintervalls.

Das aparte, aber etwas ruppige Hüttenfräulein stürzt sich augenblicklich in komplexe Berechnungen undLago Antermoia – im Hintergrund die Marmolada erlöst uns schließlich von den Qualen der Ungewissheit – man hat tatsächlich noch Platz für uns! In fließendem Italian-English erklärt sie uns die Hausordnung und zeigt uns die Quartiere: Dachboden, Vierermatratzen. Kuschelig. Bisher sind noch alle frei. Die anderen kommen gewiss noch.

Das nächste Mal lasse ich mir schon zu Hause einen Bart wachsen, bevor ich in die Dolos komme. Denn wenn ich auf mein Schnitzel schaue, muss ich annehmen, dass man mir schon wieder einen Kinderteller serviert hat. Dafür lande ich einen Riesencoup – mit tatkräftiger Unterstützung unserer Tischnachbarn schlage ich bei der Planung des morgigen Tages zu allererst eine Besteigung des Kesselkogel beim kritischen Michael heraus – ein fabulöser Dreitausenderspaß!

Als wir uns um zehn in die Kiste begeben, sind immer noch sechs Schlafplätze frei. Die anderen kommen gewiss noch. Wenn nicht, sind wir auch nicht traurig.

3.Tag: Cima Scalieret (2887m) – Abstieg nach Vigo di Fassa durch das Vajolettal

© Stefan Maday 05.09.2003