30.06.2000

(i) Man spricht deutsch Heute fühlen wir uns gar nicht fit, quälen uns aber schließlich doch aus dem Bett, um das Frühstück nicht zu verpassen. Das war eine weise Entscheidung, denn nach frischen Brötchen und Paracetamol geht es dem Gehirn bald viel besser. Meine Kniescheiben jedoch sind angeschwollen wie Ballons und schmerzen allein bei Berührung höllisch. Kaum, daß ich die Treppe herunterkomme. Wie soll das so weitergehen? Aus ungebrauchten Socken — die gebrauchten riechen nach einem Tag bereits schlimmer als eine Monatsproduktion Limburger — bastele ich mir provisorische Bandagen. Die sollen wärmen und stützen. Bei Michael hat es offensichtlich funktioniert, von dem höre ich diesbezüglich keine ernsthaften Klagen mehr. Da wir heuer nicht allzu viel vorhaben, könnten wir uns noch ein Stündchen im Bett herumlümmeln, denn laut Aushang sind die Zimmer bis 10 Uhr auszulassen, was immer das genau bedeuten mag. Da es uns jedoch ausdrücklich verboten ist, den Boiler für die Dusche anzugreifen, machen wir uns besser auf den Weg. Wir wollen über den Santner Pass und den berüchtigten nachfolgenden Klettersteig zur Rosengartenhütte marschieren, laut Karte nur ein Katzensprung. Ein Schild verspricht uns einen „Herrlichen Anblich“ vom Santner Pass aus, das kann ja eiter werden.
(ii) Torri del Vaiolet Erst einmal heißt es Höhe gewinnen. Westlich der Hütte kraxeln wir den felsigen Hang hinauf. Anstrengend zwar, doch ich finde das sehr viel angenehmer als das übliche Schottertreten. Solange es bergauf geht, spielen auch die Knie mit. Die Morgensonne brennt fleißig und uns wird ausnahmsweise richtig warm ums Herz. Nach einer Dreiviertelstunde beruhigt sich der Weg und führt die letzten Meter in Serpentinen hinauf auf ein gerölliges Plateau. Wir sind an der Gartlhütte (2621m) gelandet, zu Füßen der beeindruckenden Vajolettürme. Dreieinhalb Zinnen, die hellbraun senkrecht aus dem sanften Bergrücken schießen, bilden einen Anblick, an dem man sich gar nicht sattsehen kann. Die Bewohner der Gartlhütte sind um ihren Sommergarten wirklich zu beneiden. Eingedenk unseres großzügigen Zeitrahmens gönnen wir uns eine lange Pause mit Blick auf die Türme. Wir entdecken zwei Seilschaften, die sich gemächlich die Wände empor arbeiten. Was muß das für ein Gefühl sein, dort oben zu hängen, besonders dann, wenn man der Seilführer ist. Jeder Schritt, jeder Griff will sorgfältig gesetzt sein, die kleinste Unkonzentriertheit kann fatale Auswirkungen haben. Da dehnen sich zweihundert Meter zu einer kleinen Unendlichkeit. Nach mehr als einer Stunde raffen wir uns auf und folgen dem relativ gemütlich an der Westflanke des Plateaus ansteigenden Schotterpfad zum Santer Pass (2741m) nebst der gleichnamigen Hütte. Das Anblich-Schild hat nicht zuviel versprochen. Hinter uns dräuen immer noch die Vajoletttürme, zur Rechten dehnt sich das Eissacktal mit der Stadt Bozen. Hier enden die Dolomiten, die Berge dort hinten sehen aus wie überall in den Alpen. Vor uns blicken wir an der Westkante des Rosengartens entlang auf das Latemar-Massiv. Die Rosengartenhütte ist bereits zu sehen, bis dahin dürften es kaum mehr zwei Kilometer sein.

(iii) Pass des Schmerzes
Der Einstieg in den Klettersteig ist nicht zu übersehen, denn er spuckt peu a peu die Mitglieder einer Reisegruppe aus. Eine interessante Gesellschaft, bestehend aus einem jungen Mädchen und einigen älteren Herren. Einer fragt uns über den sagenhaften König Laurin ab, der einst im Rosengarten residiert haben soll, doch zu diesem Thema haben wir nicht viel beizusteuern.
Ein wenig mulmig ist uns schon zumute, als wir mit angelegten Gurten den Eisenweg betreten. Was wird uns dort erwarten? Nach den ersten Metern wird schnell klar, daß er auch nur ein Klettersteig wie viele andere ist. Leider führt er abwärts, unangenehm zu klettern, weil man nicht genau sieht, wo man hintritt. Aber Sicherungen gibt es reichlich und in den oft engen Spalten kann man auch nicht sehr tief stürzen. Highlight ist ein rutschiger kleiner Gletscher, der sich wie ein erstarrter Sturzbach über den Fels ergießt. Am über Kopf gespannten Seil hangeln wir uns hinüber ans andere Ufer.
Immer wieder kommen uns Wanderer entgegen, dann wird es eng. Zwischendurch einmal ein kurzer Anstieg, doch dann geht es wieder gnadenlos abwärts. Die Knie fangen allmählich wieder an zu schmerzen. Jeder kleine Hüpfer, jede kleine Drehung der Gelenke wird schließlich zur Tortur. Wer kennt nicht das Gefühl, bei jedem Schritt einen Eispickel durch die Kniescheiben gestoßen zu bekommen, der dann noch ordentlich in der Wunde herumgerührt wird. War der Klettersteig bisher ganz unterhaltsam, beginne ich nun das Ende herbeizusehnen. Das rückt in Gestalt der Rosengartenhütte immer mal wieder in Sicht, scheint jedoch nicht näher zu kommen. Mein Bewußtsein beginnt sich zu trüben, ich kann bald an gar nichts mehr denken und funktioniere einfach nur noch. Erinnerungen an enge Spalten und Rattenlöcher, durch die wir uns mit den riesigen Rucksäcken irgendwie hindurch zwängen. Immer weiter und kein Ende. Schließlich halluziniere ich, Sachsen kämen mir entgegen und fragten, wann die Action endlich losgehe.
Letztlich endet die Kletterei, der Pfad verläuft seichter und ich kann mit durchgedrückten Knien einigermaßen voranhumpeln. Sicherlich ein Anblick für die Götter. Nach vielen Pausen erreichen wir den Absatz, der genau oberhalb der Hütte liegt. Noch ein steiler, schmerzhafter und doch hoffnungsvoller Abstieg. Kaum sind wir endlich aus der Wand, purzelt eine Steinlawine wenige Meter hinter uns hernieder. Oben winkt jemand und vergewissert sich, daß wir noch leben. Ein Bergführer, er hat die Steine wohl absichtlich losgetreten, um den Leuten, die nach uns kommen, einen ähnlichen Schrecken zu ersparen. Das war ganz schön knapp. Ob der uns wirklich vorher gesehen hat?

(iv) Rosengartenhütte und das Ende
Wie dem auch sei, wir stehen vor der Rosengartenhütte — auch Kölner Hütte genannt — und ich bin von meinem Leid erlöst. Erfreulich zu sehen, daß die hier einen Sessellift haben, der ins Tal hinunter führt. Wir sind anscheinend die einzigen Gäste. Warme Dusche, Wiener Schnitzel mit Pommes, ein paar Bierchen und zu guter Letzt der Aufstieg in das kleine Turmzimmer. Um zehn Uhr geht das Licht aus.

Vor dem Einschlafen habe ich eine Vision: ich werde morgen nicht mehr laufen können. Karer Pass oder Durchsteigung der Rotwand lösen sich in Nebel auf. Ich sehe eine Fahrt mit dem Lift ins Tal und eine fünfstündige Odyssee mit den Südtiroler Verkehrsbetrieben nach St. Christina. Ich sehe Straßenschuhe, eine lange Autofahrt, Rotlicht und Antiphlogistika. Schade, daß es so enden mußte. Immer noch besser, als von Diarrhoe und Langeweile am Strand der Dominikanischen Republik dahingerafft zu werden.

PS: Der Schnarcher war einer der Fünf Freunde.

Das wars. Mehr kommt nicht. Vielleicht nächstes Jahr.

© Stefan Maday 16.08.2000