Von St.Christina zur Gampenalm (2062m)

Von St.Christina zur Gampenalm (2062m)

25.06.2000

(i) Erste Schritte durch die Kälte Endlich ist es soweit. Der Tag, auf den wir beide monatelang hin gearbeitet haben. Gestern Nachmittag sind wir in St.Christina eingetrudelt und haben die Nacht in der Pension Mont Blanc verbracht. Wir waren zunächst ein wenig irritiert ob der Kälte und des in der Nacht einsetzenden Dauerregens. Hieß es doch in einem Buch über die Dolomiten zum Stichwort Klima: „in der weingesegneten Region spürt man bereits einen Hauch von Italien!“ Heute morgen folgte die nächste Überraschung: die Spitze des Langkofel, die ab und an durch die tiefhängenden Wolkenfetzen lugt, ist in verräterisches Weiß getaucht. Neuschnee. In Italien. Davon lassen wir uns aber nicht entmutigen. Also die schweren Rucksäcke aufgeschnallt und los. Jetzt zahlt sich unsere gewissenhafte Vorbereitung aus. Michael ist im Vorfeld dreimal Fahrrad gefahren, während ich mich von einem Muskelfaserriß im Oberschenkel erholte. So untrainiert wagt man sich vielleicht zu Bundesjugendspielen, doch weniger in hochalpine Regionen. Da dies meine erste Berghüttentour ist, fiel mir die Entscheidung darüber schwer, was an Ausrüstung in den Rucksack gehört und was man besser zu Hause läßt. Nach den ersten Metern schwant mir bereits, daß ich mir viel zu viel Gewicht aufgebürdet habe. Ein gutes hat die Sache aber dennoch: mit 12kg auf dem Buckel kann ich gar nicht so schnell laufen, als daß ich auf dem Höhenweg oberhalb von St.Christina ernsthaft außer Atem käme.

(ii) Col Raiser
Als wir die Talstation der Col Raiser-Bahn erreichen, stellen wir erleichtert fest, daß sie schon geöffnet hat. Angesichts der vor uns liegenden Strapazen wählen wir die unsportliche Variante für den Aufstieg in Richtung Seceda: wir berappen je 13500 Lire und lassen uns gemütlich nach oben gondeln. Auf 2100m angekommen, sieht die Welt auch schon viel freundlicher aus. Der Neuschnee ist schon fast wieder weggetaut, die Wolken verziehen sich mehr und mehr und geben den Blick auf die herrlich nackigen Geisler Spitzen frei. Der Weg führt dann auch nur mäßig steil ansteigend über Almwiesen an der Troier Hütte vorbei bis zu einem Wegekreuz. Dort haben wir die Wahl zwischen der Panascharte (Forcella Pana) und der Mittagsscharte (Forcella de Mesdi). Nur durch einen der beiden Kare können wir die hinter der Alm abrupt abfallende nördliche Steilwand passieren. Per Münzwurf entscheiden wir uns für die Panascharte und erreichen wenige Minuten später den vorläufig höchsten Punkt unserer Wanderung. Bis hierher haben wir ungefähr 350Hm überwunden, gar nicht übel für den Anfang. Laut Karte war das auch schon der schlimmste Anstieg für heute. Jetzt beginnt der Spaß.

(iii) Kletterspaß an der Panascharte
Pünktlich reißt der Himmel auf und die Sonne beginnt, ihre alles versengenden Strahlen auf unsere mitteleuropäische Haut zu werfen. Ein Hauch von Italien. Schade, daß der Wind so kalt weht wie im deutschen Winter. Die Pullover bleiben an. In dem harten Licht wirkt die felsige Landschaft noch um einiges grotesker. Hinter uns, weit weg im Südosten, erhebt sich die gewaltige Sella eindrucksvoll noch über das Puez-Massiv hinweg. Sie sieht so gar nicht wie ein Gebirgsstock aus, vielmehr trutzt sie wie eine mächtige zweistöckige Burg. An ihren Rampen scheint üppig Schnee zu liegen. Wenn alles nach Plan läuft, sollten wir in zwei Tagen dort oben sein. Bis dahin hoffen wir auf eine Hitzewelle.
Vor uns liegt der namenlose Kar, den es herabzustiefeln gilt. Unschwer erkennt man die Drahtseilsicherungen, an denen man sich sicher herunter hangeln kann. Wir legen besser unsere Sicherungsgurte an. Das ist zwar nicht mein erster Klettersteig, aber es macht doch einen Unterscheid, ob man einen Felsen mit leichtem Sturmgepäck oder mit dem halben Hausrat auf dem Rücken hinunterklettert. Anfangs etwas wackelig und zögerlich bewegen wir uns die enge Schlucht hinunter. Obwohl wir keine Helme haben, brauchen wir uns vor Steinschlägen nicht zu fürchten, denn im TVB unten in St.Christina hat man uns versichert, der Weg durch die Panascharte sei absolut sicher. Mit jedem Meter steigt das Selbstvertrauen, die Felsenschlucht wird immer breiter und bald haben wir das Ende des Klettersteiges erreicht. Das war doch relativ einfach und hatte trotzdem einen hohen Unterhaltungswert. Nun erwartet uns ein anstrengender Abstieg über die Schotterpiste. Auch der hat einen gewissen Unterhaltungswert, aber mehr für unsere Knochen, Sehnen und Gelenke.
Nach einer ausgiebigen Salamipause sind wir so richtig schön durchgefroren. In endlos scheinenden Serpentinen staken wir durch das Geröll, bis wir auf 2000m Höhe schließlich wieder grünes Terrain erreichen. Michaels Knie schmerzt vom ständigen Abbremsen gegen die Schwerkraft. Arthrose im Frühstadium. Das mußte früher oder später passieren. Deswegen benutzen viele Bergwanderer Skistöcke für den Abstieg. Wir nicht.

(iv) Die Munkelweg-Odyssee An einem Bächlein kurz vor der Brogles-Hütte verlassen wir den Weg und schlagen uns nach Osten bis zum Adolf Munkel-Weg durch. Dieser soll uns bis zur Gampenalm führen, wo wir übernachten wollen. Kann nicht mehr weit sein. Das denken wir zwei Stunden später immer noch. Bis hierher war es ein ständiger Irrweg durch den Wald, immer mit gelegentlichem Blickkontakt zu den Geisler Spitzen, Reinhold Messners Hausbergen: Sas Rigais, Furcheta, Wasserkofel. In der Reihenfolge müssen wir an allen vorbei. Der Weg verläuft stetig auf und ab und windet sich in alle möglichen Richtungen, so daß ich schwören könnte, daß wir uns in der letzten Stunde unserem Ziel nicht einen Kilometer genähert haben. Wahrscheinlich eine optische Täuschung. Wir haben längst den toten Punkt erreicht, an dem wir eigentlich gar nicht mehr weiter marschieren möchten. Wir tun es nur noch, weil wir keine Alternative haben. Meine Gedanken verselbständigen sich, die Schultern schmerzen von der gewaltigen Last, die Schuhsohlen haben sich in Papier verwandelt und wir müssen immer häufiger Pausen einlegen. Kein Ende in Sicht. Die Gampenalm ist auf unseren Karten nicht mehr verzeichnet, sie könnte also überall liegen, vielleicht sogar in Österreich. Schließlich ein Funke der Hoffnung: zwei ältere Ladies überholen uns und vermelden, wir hätten nur noch eine Dreiviertelstunde vor uns. Schließlich endet der verfluchte Munkelweg tatsächlich und wir entern einen gut ausgebauten Senioren-Highway. Mit letzter Puste folgen wir den Serpentinen nach oben und erreichen schließlich doch noch die Gampenalm. Das sollte heute eine Tour zum Warmlaufen werden, für die wir fünf Stunden eingeplant hatten und für die wir letztlich acht Stunden benötigt haben. Zu unserer Ehrenrettung sei zu sagen: die beiden alten Ladies hätten das auch nicht in fünf Stunden geschafft, sie hätten mindestens sechs gebraucht.

(v) Neues vom Wolpertinger
Auf der Gampenalm (privat bewirtschaftet) herrscht ordentlich Betrieb, wir liegen mit einem knappen Dutzend Leutchen auf einem Zimmer. Zumindest gibt es hier eine Dusche, das ist weit mehr Komfort, als ich zu hoffen gewagt hatte. Hoffentlich regenerieren sich meine Bandscheiben allmählich wieder. Ich bin bestimmt 10cm kürzer als noch am Morgen.
Nach Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat und Weissbier sind wir soweit wiederhergestellt, daß wir das legendäre Alpenglühen bewußt miterleben können. Michael entdeckt auf dem Wasserkofel eine schemenhafte Gestalt, die sich geisterhaft zwischen den Felsen bewegt und wartet mit einer ad hoc-Hypothese auf: das könnte der berüchtigte Wolpertinger sein. Ich tippe eher auf Messner. Ein älterer Herr jedoch schwört uns Stein und Bein, daß der Wolpertinger tatsächlich existiert! Wenn dem so wäre, könnte er das fehlende Bindeglied zwischen präkambrischen Mollusken und dem modernen Tiroler sein. Eine handfeste Sensation. Vielleicht ist der Alte aber nur ebenso bierig wie wir an diesem Abend. Viel Hüttenzauber gibt es nicht mehr, obwohl aus den Lautsprechern der Gaststätte ein Best-of-Mix der Saragossa Band ertönt, schauen die anderen Gäste lieber Fußball oder liegen früh im Bett.
Um elf gehen auch wir als letzte in die Heia. Einer der Zimmergenossen schnarcht höllisch laut. Das wird eine lange, kalte Nacht.

© Stefan Maday 16.08.2000

Über die Forcella de la Roa zur Puez-Hütte (2475m)

Über die Forcella de la Roa zur Puez-Hütte (2475m)

26.06.2000

(i) Wiederbelebung und Hasen zum Frühstück Um sieben Uhr bin ich von meinen Qualen erlöst. Im Zimmer ist es derart hektisch und betriebsam geworden, daß ich unmöglich weiterschlafen kann. Mir wird klar, warum die anderen gestern abend so früh die Segel gestrichen haben. Wenigstens macht das Wetter dort weiter, wo es am Abend aufgehört hat: am blauen Himmel ist quasi kein Wölkchen zu sehen, jedenfalls nicht bei uns. Weit weg im Norden hängen welche dicke am Alpenhauptkamm herum. Aber es ist eiskalt und nach der ersten Zigarette draußen vor der Schlafhütte bin ich plötzlich hellwach. Michael sieht auch nicht fitter aus, er habe die ganze Nacht gefroren. Kann ich von mir nicht behaupten, ich habe nur nicht geschlafen. Wie konnte ich diese verdammten Ohrenstöpsel zu Hause vergessen? Nach dem Frühstückstee sieht die ganze Sache schon freundlicher aus. Um kurz nach acht brechen wir auf zur Schlüterhütte. Als letzte. Die anderen sind alle schon weg, die Bergers, die Zwickauer und die Fünf Freunde. So braucht uns niemand zu überholen. Wir werden sie alle auf der Puez-Hütte wiedertreffen. Einer von ihnen ist ein pathologischer Schnarcher. Mit noch kalten Knochen geht es vorsichtig aufwärts. Mein Muskelkater ist zum Glück längst nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte. Nach einer Dreiviertelstunde sind wir an der Schlüterhütte angelangt. Sie hat geschlossen. Glücklicherweise. Hier wollten wir ursprünglich unsere erste Nacht verbringen, da hätten wir den Aufstieg gestern noch machen müssen! Aber Michael ist der geborene Organisator und hat das alles im Vorfeld schon abgecheckt, ausbaldowert und klargemacht. Gänzlich verwaist ist die Hütte dennoch nicht, denn hier laufen viele kleine Hoppelhäschen herum. Keine Angst, liebe Kinder. Die possierlichen Nager sind natürlich viel zu flink, als daß wir einen von ihnen fangen und als Brotaufstrich verwenden könnten. Alle Versuche in dieser Richtung schlagen fehl. Von nun an schreiten wir auf dem offiziellen Dolomitenhöhenweg Nr.2, der Route 66 der Westlichen Dolomiten, gen Süden.

(ii) Auf dem Dolomiten-Highway zur Roascharte
Der Weg ist relativ bequem zu gehen, ohne großen Potentialverlust führt er an der Ostflanke des Wasserkofel (2610m) vorbei. Am Kreuzkofeljoch haben wir nochmal einen Ausblick auf die Schotterpisten der Geisler Spitzen, an denen wir uns gestern vorbei gequält haben, zur Linken liegt ein unbekanntes Tal, das auf der Karte nicht mehr verzeichnet ist. Dahinter ragen wieder Gipfel auf, gefolgt von noch mehr Gipfeln usw. Eine unermeßliche Landschaft, die kein Ende zu nehmen scheint. Wir würden Monate oder gar Jahre brauchen, wollten wir allein in den Dolomiten jeden Stein umdrehen und die Dolomiten sind nur ein Stück Fliegendreck auf der großen Alpenübersichtskarte (obgleich ein ganz besonders schönes). Folglich beschränken wir uns darauf, was für uns machbar ist, und nähern uns in weiten Windungen allmählich der Roascharte (Forcella de la Roa). Bald betreten wir ein gigantisches Geröllfeld, der strahlend weiße Dolomit blendet uns die Augen. So frisch wie er aussieht, kann die Lawine frühestens vor ein paar Jahrhunderten abgegangen sein.
Wir lassen die Wasserscharte rechts liegen und trampeln noch einige hundert Meter parallel zum Hang in Richtung Süden. Dann folgt der Anstieg zur Roascharte.
Der erweist sich als steil und äußerst mühsam. Der Schutt ist feinkörnig, fast wie Sand, wir finden nur schwerlich Halt. In endlosen Kehren geht es hinauf, dabei kommt der Kreislauf ordentlich in Schwung und selbst die Schweißdrüsen erwachen aus ihrer kalten Lethargie. Eine der seltenen Gelegenheiten für oben ohne Pullover.

(iii) Forcella de la Roa (2617m)
Unsere Grundsatzdiskussion über Sinn und Unsinn solch unmenschlicher Schinderei nimmt erst ein Ende, als wir schließlich den Vertex erreicht haben, 2617m oberhalb von Venedig. Noch ein wenig prusten und keuchen, dann können wir die Aussicht genießen. Hinter uns überblicken wir den bisherigen Weg, wie er sich mühselig bis zu uns herauf windet. Im fernen Norden dräuen die fetten in Schnee und Wolken versunkenen Dreitausender der Stubaier Alpen. Vor uns gibt es nicht so viel zu sehen. Ein kleines Tälchen, das Val de la Roa, dahinter ein namenloser Bergrücken. Im Südosten scheint ein wenig die Sella durch. Wir werden heute aber noch höher steigen. Nach der Pause.
Zunächst muß ich meine Blasen pflastern. Ich hatte noch niemals Blasen in meinen Schuhen, offenbar habe ich einen schlechten Sockensatz erwischt. Im Lee der Felsen läßt es sich aushalten. Doch allzu lange sollten wir nicht verharren, denn über uns kreisen bereits die Geier und wittern vergammelnde Beute.
Der offizielle Höhenweg windet sich vor uns in das Tälchen hinunter, um an dessen Ende nach Osten abzuknicken und wieder steil anzusteigen. Ein stattlicher Umweg. Das scheint uns wenig attraktiv und wir entscheiden uns für den Abstecher nach links. Der Pfad sieht zwar nicht sehr Vertrauen erweckend aus, dafür verläuft er parallel zum Hang, so daß wir nichts an Höhe einbüßen. Nach zehn Minuten endet der Weg und mündet in eine senkrechte Felsspalte. Schluck. Eine sehr steile Via Ferrata liegt vor uns.

(iv) Vertigo und Die Vögel Via Ferrata bedeutet soviel wie Eisenweg, einen prägnanteren Namen für diese mit Drahtseilen und Stahlstiften gesicherten Abenteuerspielplätze für Große wird man sich schwerlich ausdenken können. Wir legen die Klettergurte an und merken sehr bald, daß sie doch nicht so unnütz sind, wie anfänglich gedacht. Dieser Klettersteig ist von einem etwas anderen Kaliber als der gestrige. Drahtseilsicherungen sind nur sporadisch vorhanden, in der engen Spalte hat man mit dem klobigen Gepäck nur begrenzte Bewegungsfreiheit. Es geht quasi senkrecht hinauf, die Wände sind teilweise vereist. Das ist Abenteuer! Vollkommene Konzentration ist angesagt. Immer gut festhalten und hoffen, daß der Michael über mir keine Steine lostritt. Zum Schluß noch eine wackelige Leiter und schon sind wir oben. Das waren aufregende 50 Meter, die für vieles entschädigen. Gleiches gilt für die Aussicht. Wir sind jetzt auf 2740m Höhe und uns bietet sich ein phantastisches Panorami nach Süden hin. Da erhebt es sich eindrucksvoll vor uns, das morgige Ziel. Der Piz Boe, die höchste Erhebung der Sella, thront nochmals 400Hm über uns. Das wird anstrengend. Da haben wir uns erst einmal eine Pause verdient, es wird Zeit, daß die schwere Salami allmählich aus dem Rucksack verschwindet. Kaum sitzen wir und essen, kommen die Geier vom Himmel hernieder. Auf kleinen Felsbrocken sitzen sie und belauern uns in der Hoffnung auf Abfälle. Eine unheimliche Stille. Abwarten. Eine Szene wie aus dem Hitchcock-Klassiker. Es handelt sich wohl eher um Krähen oder Hupfdohlen oder was auch immer. Mit Vögeln kenne ich mich nicht gut aus. Die Flattermänner kommen bis auf wenige Zentimeter an uns heran, als wir sie mit kleinen Brotpopeln ködern. Schüchternheit kann man sich in dieser lebensfeindlichen Steinwüste, in der kaum ein Grashalm wächst, als gefräßiger rabenähnlicher Vogel offenbar nicht leisten. Ich muß meinen Blick immer wieder nach Norden wenden, dort juckt der Gipfel des Piz Doleda (2908m). Sieht nach einer preiswerten Gipfelbesteigung aus, wir könnten unsere schweren Schneckenhäuser hier im Basislager lassen. Michael ist aber nicht sonderlich begeistert und alleine habe ich auch keine Lust. Wir machen uns stattdessen auf zur Puezhütte.
(v) Der lange Weg zum Puez-Schnitzel Im Laufe des 300Hm währenden Niedergangs durch die Forcella Nives zeigen sich auch bei mir die ersten Anzeichen von Materialermüdung. Mein rechtes Knie beginnt zu schmerzen. Wie eine alte Wunde, die wieder aufplatzt. Ich muß sofort an meine knochenschmirgelnden 1300m-Abstiege vom Galtenberg und vom Großen Beil in den Kitzbühler Alpen vor zehn Monaten denken. Diesmal fängt es beunruhigend früh an. Hoffentlich sind wir beiden am Ende der Woche kein Fall für den Rollstuhl. Der Dolomiten-Höhenweg zieht sich schließlich schier endlos unterhalb der schwarzen, tropfenden Wände der Puezspitzen (Pizes de Puez) entlang und windet sich noch einmal großzügig um einen Sporn des Puezkofels (Col de Puez, 2725m) herum, um letztlich nochmals anzusteigen, damit der erste Anblick der Hütte dem total erschöpften Pilger auch wirklich einen Seufzer der Erleichterung entlockt. Da liegt sie, malerisch zu Füßen des Puezkofels und mit Ausblick auf das enge Langental (Val Lunga), bzw. die südliche Felswand, die das Tal begrenzt und mehr als 300m senkrecht abfällt. Das gebänderte Gestein erinnert unwillkürlich an Bilder vom Grand Canyon. Unsere Bekannten von der Gampenalm sind alle schon hier gewesen und haben sich größtenteils nochmal aufgemacht zur Puezspitze (Cima Puez, 2913m). Das kommt für uns nicht in Frage, nach wiederum acht Stunden Bewegung in freier Natur steht uns der Sinn nach Herumräkeln und Duschen, bevor es ans verdiente Essen geht. Wir machen nämlich Urlaub. Die Hütte liegt fernab jeglicher Zivilisation und wird vom italienischen Alpenverein (CAI) bewirtschaftet, was sich preislich und servicetechnisch durchaus bemerkbar macht. Die 5-Minuten-Dusche kostet umgerechnet 5 DM, Sahara-Tarif. Der Wirt stopft uns netterweise fast alle in ein und dasselbe (12qm-) Zimmer hinein, dabei hat die neugebaute Hütte wenigstens zehn von der Sorte.

(vi) Schnitzel und Hüttenzauber
Das Schnitzel mit Bratkartoffeln ist rechtschaffen lecker. Der Salat ist nicht mehr der neueste, der Hubschrauber kommt erst morgen. Der Essig brennt an unseren Lippen, die Sonne hat sie uns unbemerkt verbrannt. Ich dachte, das sei nur am Südpol oder in Tschernobyl möglich.
Nach dem Essen kommt sogar Geselligkeit auf, der Wirt läßt Schnaps springen und spielt gekonnt fetzige Volksweisen auf dem Akkordeon. Viel Zeit zum Üben hat er hier oben ja. Hier gibt es keine Frauen, die ihn ablenken könnten, nur den Koch und die Schafe…Um kurz nach zehn dreht er aber den Diesel ab, wir trinken unser Bier im Schein von Michaels Taschenlampe aus und folgen bald den anderen ins Bettchen. Der Schnarcher sägt schon fleißig. Gute Nacht, John-Boy.

Durch das Grödner Joch zur Pisciadu-Hütte (2585m)

Durch das Grödner Joch zur Pisciadu-Hütte (2585m)

27.06.2000

(i) Nepp und Ungewißheit Nach einer durchwachsenen Nacht — ich weiß nun, wer der Schnarcher ist — serviert uns der Wirt der Puezhütte ein frugales Frühstück bestehend aus einer einzigen Tasse Tee respektive Kaffee sowie zwei kleinen Scheiben Weißbrot mit etwas Marmolada. Alles zusammen zum Spottpreis von 10000 Liren. Vielleicht hatte er nur einfach nicht mehr da, denn der Hubschrauber kommt erst heute. Da sind wir glücklicherweise nicht mehr hier. Heute werden wir eine Entscheidung über unseren weiteren Weg fällen müssen. Ursprünglich hatten wir die Boe-Hütte im Herzen der Sella als Ziel unserer dritten Tagesetappe angepeilt. Nach den beiden ersten Touren haben wir gelernt, unser Leistungsvermögen etwas realistischer einzuschätzen. Die Boehütte scheint für uns heute kaum erreichbar. Auch von unseren Mitwanderern haben sich nur die Fünf Freunde dieses Ziel gesteckt, die Bergers wollen bis zur Pisciadu-Hütte, die Zwickauer gar nur bis zum Grödner Joch marschieren. Dabei ist es fraglich, ob wir überhaupt so weit kommen, Michaels Knieschmerz ist schlimmer geworden. In weiser Voraussicht hat er einen Verband mitgenommen und bastelt sich daraus eine provisorische Bandage. An was er alles gedacht hat! Ich habe anscheinend nur nutzlosen Krempel bei mir wie den Föhn, der in keine Steckdose paßt oder die Mückensalbe, zu der es keine passenden Insekten gibt. Mein kleines Radio spricht nur noch Italienisch mit mir und das schwere Brot hat gestern schon wie Kaugummi geschmeckt. Wir vertagen unsere Entscheidung, bis wir am Grödner Joch sind, dort müssen wir in jedem Fall vorbei. Dann wird sich zeigen, ob und wie weit wir noch können. Aufi geht es den Dolomiten- Highway Nr.2 nach Süden. Der Pfad ist angenehm anspruchslos und verläuft nur leicht abfallend am östlichen Ende des Langentals (Val Lunga) vorbei. Von dort läßt sich ein Teil des Grödner Tals überblicken, vorne das Dorf Wolkenstein, dahinter muß irgendwo St.Christina liegen. Unten ist es noch dunstig. Kurz vor dem Ciampacjoch offenbart sich im Süden ein Stück der Marmolada, die dank ihres ausgedehnten Gletschers unverwechselbar ist. Wir hatten ursprünglich einmal eine Begehung der Marmolada in Erwägung gezogen, der Gedanke an Schnee und Kälte hat uns schließlich doch abgeschreckt. Hier, etwa 1000m tiefer, läßt es sich gerade so aushalten. Wenn nur dieser Wind nicht wäre.

  (ii) Die öden Ebenen des Puezmassivs
Durch einen steinernen Trog erreichen wir das Joch und betreten schließlich die Crespeina- Hochebene, eine wilde und öde Landschaft, bestehend aus abgeschmirgelten Dolomitfelsen und Parzellen kränklich aussehenden Grases, dessen Aussaat nicht mehr als einen verzweifelten Versuch des Lebens darstellt, an diesem Ort unbedingt Fuß fassen zu wollen. Ein angemessenes Szenarium für unsere erste Pause. Die Sonne hat den morgendlichen Dunst aufgelöst und brennt inzwischen mit Vehemenz. Der Himmel ist dermaßen blau, wie man ihn im dreckigen, immerfeuchten deutschen Flachland niemals zu Gesicht bekommt. Kein Wassertröpfchen, kein Sulfatkriställchen stiehlt der Rayleigh-Streuung die Schau.
So rein, so dunkelblau. Mit einem Wort: azzuro! Meine tauben Lippen verlangen immerfort nach Einfettung. Nie wieder werde ich Werbeanzeigen für Lippenstifte mit Lichtschutzfaktor 32 belächeln. Nacken und Waden haben sich auch eine pralle Röte zugelegt, das ergibt später eine todschicke Partialbräune, die sich außerordentlich gut im Schwimmbad macht.
Ein kurzer, aber atemraubender Anstieg führt uns letztlich zum Crespeinajoch (2528m), einem steinernen Tor, das einen wunderbaren Aussichtspunkt darstellt. Wieder eine gute Gelegenheit zum Pausieren. Der Rucksack scheint nicht mehr ganz so schwer wie an den beiden ersten Tagen, an was man sich nicht alles gewöhnt. Von hier aus können wir den Langkofel wieder sehen, wie er unerwartet steil und massig aus der grünen Wiese schießt. Fünf oder sechs Kilometer Luftlinie, in zwei Tagen werden wir dort sein.
Unser Pfad wird nun ziemlich eng und führt uns bergab entlang der Schotterpiste des Col Torron. Michael hält sich wacker, offenbar bringt die Kniebandage wirklich etwas. Aber der Hammerabstieg kommt erst noch. Immer mehr Menschen strömen uns entgegen, Tagestouris, die vom Grödner Joch aufgestiegen sind. Neidisch beäugen wir ihr leichtes Gepäck, bestehend aus kleinen Rucksäcken oder gar Handtäschchen.
Nach kurzem Anstieg gelangen wir zum Cirjoch (2469m). Wieder ein neues Panorami, diesmal ist es die Sella, die bereits zum Greifen nah scheint. Leider müssen wir dazu erst einmal 350m talwärts trampeln, um danach wieder 450m hoch zu stiefeln. Eine Brücke wäre hier vielleicht angemessen…

(iii) Beschwerlicher Abstieg vom Cirjoch zum Grödner Joch Durch ein Labyrinth von Felsnadeln schlängeln wir uns in die Tiefe, bis sich der Weg allmählich öffnet und den Blick auf das Grödner Joch (Passo Gardena, 2120m) freigibt. Schmerz stellt sich ein, als wir immer schön mit den Knien bremsend der steinigen Wendeltreppe nach unten folgen. Mit der hochalpinen Idylle ist es zunächst einmal vorbei, Scharen von Wanderern entgegnen uns, wir haben es längst aufgegeben, sie alle zu grüßen. Eintagsfliegen. Die Vegetation ändert sich, will sagen, es wachsen wieder anständige Pflanzen wie Kiefern und sogar ein paar Bäume. Von weitem glitzert die Dolomiten- Höhenstraße in der Sonne. Auf ihr vergnügen sich ungezählte Ausflugsbusse und Motorradfahrer damit, den lieben langen Tag die Serpentinen hoch und runter zu düsen. Entlang der Straße reihen sich ein paar wenige Häuser auf, doch nach der Einsamkeit der letzten Tage erscheint uns dieser künstliche Weiler beinahe wie eine große, neonglitzernde Stadt. Endlich unten angestolpert suchen wir uns eine Wiese zum essen und palavern. Es ist Mittag, die Zwickauer müßten schon lange hier sein, wahrscheinlich befinden sie sich bereits auf dem Weg zum Gipfel der Großen Cirspitze (2592m), neben dem Souvenirshop die Hauptattraktion des Jochs. Mit der Wunderkraft der Salami in unseren Adern wollen wir hingegen die Besteigung der Sella wagen und heute wenigstens noch die Pisciadu-Hütte ansteuern. Vom Grödner Joch aus erscheint diese Festung schier unbezwingbar, bis zu einer Höhe von 500m türmen sich die Wände des unteren Stockwerks gegen den Pass auf. Und doch muß es dort irgendwo eine Schwachstelle geben. Der Dolomiten- Highway wird sie uns weisen.
(iv) Die Erstürmung der Sella durch das Val Setus Hinter dem Restaurant, in dem Rucksack- Touristen wegen ihres peinlichen Odeurs ungern gesehen sind, stapfen wir den steilen Weg über die grüne Wiese empor, bis wir wieder felsiges Gelände erreicht haben und weiter um den Col da Masures herum bis zum Eingang in das Val Setus, das mehr eine steile Schlucht ist denn ein Tal. Was uns erwartet, ist wieder eine Schotterpiste, die es irgendwie schafft, noch steiler und strapaziöser als ihre Vorgänger zu sein. Mühsam arbeiten wir uns gegen die Schwerkraft und das rutschige Geröll durch das immer enger werdende Kar empor und erreichen nach mehreren Verschnaufpausen rechtschaffen müde die abschließende Felswand. Über einen kleinen Gletscher geht es nach links auf den Klettersteig. Klettersteige stellen sicherlich die attraktivste Variante dar, wenn es daran geht, einen Berg zu besteigen. Man hat alle Zeit der Welt, kann beim Umgreifen immer mal wieder herrlich durchatmen und gewinnt dennoch rasch an Höhe. Wo sonst bietet sich erwachsenen Menschen die Gelegenheit, nach Herzenslust auf allen Vieren herumzukrabbeln, ohne Aufsehen zu erregen? Auch die adrenalinösen Auswirkungen sollte man nicht unterschätzen. Selten ist man sich seiner eigenen körperlichen Verletzlichkeit bewußter als beim direkten Hautkontakt mit mehreren Gigatonnen Dolomitgesteins der Härte 4. Dieses durchgehend drahtseilgesicherte Exemplar einer Via Ferrata ist allerdings eher von der gutmütigeren Sorte und bei mäßigem Gegenverkehr sind wir nach etwa fünfzehn Minuten am oberen Absatz angelangt.
(v) Die Marslandschaft der Sella Dort streichen wir die Belohnung für all unsere Bemühungen ein in Gestalt eines vollkommen unirdischen Erlebnisses. Wir überblicken eine derart groteske Landschaft, wie ich sie bisher nur von den Bildern der Viking- Sonden her kannte, die Ende der Siebziger den Mars heimsuchten. Eine überraschend weitläufige und ebene Geröllwüste, die sich in dieser Form um den gesamten Sellastock herumzuziehen scheint. Felsbrocken bishin zu Automobilgröße (wer die wohl hier hingelegt hat?) säumen unseren Marsch einen kleinen Abhang hinunter, wo wir schon bald die Pisciadu-Hütte sichten, die nebst einem kleinen See idyllisch zu Füßen der Pisciadu-Spitze (Cima Pisciadu, 2985m) mitten in dieser bizarren Schrotthalde gelegen ist. Hinter dem See steigt eine Rinne Richtung Süden auf das obere Stockwerk der Sella empor, gegen den gelblichen Schotter zeichnen sich deutlich zwei Trampelpfade ab. Der linke führt zur Boehütte, unserem eigentlichen Tagesziel. Obwohl es erst früher Nachmittag ist, sind wir rechtschaffen platt und sparen uns die Tour für morgen auf.
(vi) Nudeln und Nebel auf der Pisciadu-Hütte Wir checken ein und stellen mit Bedauern fest, daß Warmduscher hier nicht auf ihre Kosten kommen. Dann gehen wir halt im See baden. Leider bemerken wir, daß am Ufer noch Schnee liegt, also brauchen wir den Bademeister gar nicht erst nach der Wassertemperatur zu fragen und entspannen uns für den Rest des Nachmittages lieber im Windschatten eines der zahlreichen Monolithen. Das Abendessen fällt schmal weil schnitzellos aus, ein harter Rückschlag für unsere Fleischdiät. Inspiriert durch soviel Askese nehme ich gleich noch meinen alkoholfreien Abend. Das verdiente Alpenglühen fällt heuer aus, denn es beginnt ein düsteres Wetter aufzuziehen. Nebelschwaden wabern geisterhaft zwischen den Ritzen und Spalten der Felswände hindurch und legen sich bleiern um Hütte. Das Wetterglück scheint uns zu verlassen. Nicht auszudenken, wenn wir morgen das Dach der Dolomiten in strömendem Regen oder gar einem Schneesturm überqueren müßten. Abwarten, vielleicht handelt es sich nur um eine allabendliche Gruselvorstellung für Touristen. Gut gelungen. Als wir im Bett liegen, ist es draußen noch nicht einmal völlig dunkel. Wir sind großzügig untergebracht, da nur zu viert mit den Bergers auf einem Zimmer. Endlich ein Anflug von Privatsphäre und Gemütlichkeit. Wenn ich heute Nacht wieder nicht schlafen kann, muß ich die Schuld wohl bei mir suchen.
Durch die Sella zur Friedrich August-Hütte (2298m)

Durch die Sella zur Friedrich August-Hütte (2298m)

28.06.2000

(i) Frühaufsteher Hier auf der Pisciadu-Hütte verbrachte ich erstmalig in den Dolomiten eine Nacht in einem Zustand, der den Namen Schlaf auch wirklich verdient hat. Guter Dinge hängen wir nach Katzenwäsche und Rucksackpacken noch ein wenig in der Frühstückslounge herum, ohne zu frühstücken — der traurige Anblick des gestrigen Frühstücks brennt uns noch immer auf der Netzhaut, so daß wir lieber erstmal ein paar Steilhänge nehmen und uns danach die mitgebrachten Salamis unter freiem Himmel neiwursteln wollen. Das Wetter darf man bestenfalls als indifferent bezeichnen. Zwar scheint die Sonne, ihre Strahlen durchdringen die hohen Schleierwolken jedoch nur mit Mühe. Zwischen den Gipfeln, insbesondere gen Norden, hängen dichte Nebelfetzen in den Tälern. Wenn wir jetzt vierzig Jahre hier gelebt hätten, wüßten wir die Zeichen vielleicht zu deuten. So lassen wir uns überraschen und hoffen, daß es zumindest trocken bleibt. Müßig zu erwähnen, daß es draußen eiskalt ist. Ein junger Spund mit Berliner Schnauze platzt herein. Ein Frühaufsteher, der mal eben vom Grödner Joch aus durch das Val Setus und über den Klettersteig hier hoch gejoggt ist. Wer morgens einen Dreitausender besteigen und abends im Gardasee planschen will, muß sich auch beeilen. Wir machen uns auf. Nahziel ist die Boe-Hütte, danach müssen wir improvisieren. Von allen ursprünglichen Gampenalm- Bekanntschaften sind nur noch die Bergers auf unserer Route, alle anderen haben wir aus den Augen verloren.
(ii) Der Weg zur Boe-Hütte Den Weg haben wir gestern schon ausbaldowert, über den schotterigen Westhang der Pisciadu- Spitze führt er durch das Vallon del Pisciadu stetig himmelwärts. Da werden die armen Knochen sehr schnell warm. Die Hütte nebst Weiher liegt schon bald wie eine verlorene Miniatur unter uns inmitten der grotesken Trümmerhalde. Immer steiler wird der Anstieg und der Pfad biegt nach links in das winzige Tal mit dem lustigen Namen Val de Tita. Der Klettersteig, der auf der Tabacco- Karte lang und breit mit roten Kreuzen an dieser Stelle verzeichnet ist, erweist sich als zwei Meter langer Witz. Oberhalb des Gletschers, der noch das ganze Tälchen bedeckt, gönnen wir uns das hart und redlich verdiente Frühstück. Der Wind weht heute noch kälter als üblich, da muß jetzt auch noch die Regenjacke als letztes Ass im Ärmel herhalten. Ein Hauch von Italien. Der Berliner hat uns schnell eingeholt, kein Wunder bei dem kleinen Rucksack, den er mit sich trägt. Außerdem würde er in Berlin viel klettern, meint er. Es ist immer wieder erstaunlich, was unsere supertolle Hauptstadt alles zu bieten hat, und daß es dort sogar Berge gibt, war uns Provinzdeppen neu. Vielleicht trainiert er an den zahllosen Baukränen. Bei der Kälte sind wir so richtig motiviert, schnell wieder Fahrt aufzunehmen. Der Pfad windet sich rechts über grobes Geröll, um schließlich auf einem verschneiten Hang wieder steil empor zu steigen. Wir sind endlich auf einem Plateau gelandet. Leider ist die Fernsicht wegen der Wolken nicht sehr ausgeprägt. Doch im Nahbereich bietet sich uns der beinahe schon gewohnte Dolomiten- Anblick: Türme über Türme, die wie Morcheln senkrecht aus dem Dunst schießen. Eine Stange kreuzt unseren Weg, als wir in Richtung Süden marschieren. Wir dürften mittlerweile etwa 2900m hoch liegen. Wir treffen die Bergers und gehen mit ihnen über das steinerne Plateau in Richtung auf den Zwischenkofel, erst einen Hang hinunter, schließlich in Serpentinen hoch auf den Gipfel (2907m). Wieder Zeit für eine Pause. Die Boe-Hütte ist von hier aus sichtbar, ebenso der Piz Boe, den wir in jedem Fall heute besteigen wollen. Auf dem Gipfel erkennt der ungeübte Beobachter ein Häuschen und ein merkwürdiges Ding, welches am ehesten an die Leinwand eines Autokinos erinnert. Sehr merkwürdig. Der Berg selbst wirkt eher unspektakulär, wie ein rundgeschliffener Tafelberg und nicht wie die typischen Dolomitengipfel mit ihren schroffen, senkrechten Wänden. Überhaupt ähneln die Formationen auf dem Dach der Sella keinen, die wir bisher gesehen haben. Es gibt keine nennenswerte Vegetation und alles erscheint irgendwie hügelig, sanft und abgeschliffen. Die Felsen sind glatt und nur von Karren durchzogen, Zeichen einer Karstlandschaft. Große, kantige Felsbrocken wie auf dem unteren Stockwerk sucht man hier vergeblich. Wo sollten die auch herunterfallen, wenn nicht vom Himmel. An der Nordostflanke des Zwischenkofel gähnt ein atemberaubender Abgrund, dort geht es etwa 500m senkrecht in die Tiefen des Val de Mezdi hinunter. Ein unbeschreiblicher Anblick, wir wagen es kaum, uns dem Rand der Abbruchkante zu nähern. Stattdessen marschieren wir schnurstracks weiter gen Süden und erreichen nach wenigen Minuten die Boe-Hütte (2871m). Die Hütte ist gut frequentiert, viele Wanderer kommen vom Pordoijoch hierher, trinken ein Süppchen und besteigen anschließend den Gipfel des Piz Boe, zu dessen Füßen die Hütte gelegen ist. Als zusätzliches Highlight darf man heute den Versorgungshubschrauber bestaunen, der die Hütte immer wieder in kurzen Intervallen ansteuert und prall gefüllte Netze mit prall gefüllten Bierfässern abwirft. So funktioniert das also mit der Logistik. Reichlich umständlich, da darf man sich über die horrenden Preise für Flüssignahrung nicht beschweren.
(iii) Die Besteigung des Piz Boe (3152m) Wir deponieren unsere Rucksäcke in der Hütte und gehen die Besteigung des Piz Boe an. Eine tolle Aussicht dürfen wir auf dem Gipfel nicht erwarten — der Himmel hat sich immer mehr zugezogen — doch wann bietet sich einem schon einmal die Gelegenheit, einen waschechten Dreitausender zu erobern. Damit können wir zu Hause ordentlich protzen, obwohl wir von unserer Position aus eigentlich keine 300Hm mehr hochkraxeln müssen. Ohne schweres Gepäck kommt uns der Aufstieg beinahe wie ein Sonntagsspaziergang vor, über Schneefelder und Geröll hüpfen wir die Westflanke des Berges hinauf bis zu einem kurzen Klettersteig, der über einen schmalen Sims führt, bei Trockenheit aber kein Problem darstellt. Links folgt eine Abzweigung über den schmalen Grat der Cresta Strenta, wir folgen dem Pfad, der nach rechts in südliche Richtung ansteigend bishin zum Gipfel führt. Da stehen wir schließlich auf dem Gipfel und haben dafür kaum eine halbe Stunde gebraucht. Der Piz Boe ist wahrlich ein Gipfel der Superlative: mit Abstand der höchste, den ich in meiner jungen Karriere bisher bestiegen habe und auch der mit Abstand häßlichste. Mittendrauf steht hier die Imbißbude mit Namen Capanna Piz Fassa und das flache Ungetüm, das nach unten weithin sichtbar ist, erweist sich als gewaltige Satellitenschüssel. Es ist schon peinlich, wie manche Berge dem hemmungslosen Tourismus geopfert werden. Nach dem Glauben der Eingeborenen waren die höchsten Gipfel einst Residenzen der Götter, heute errichtet der Mensch dort Tempel für den einen und offenbar einzig wahren Gott Mammon. Ich persönlich sehe mich durchaus in der Lage, für ein paar Stunden auf zivilisatorische Errungenschaften wie Bier, Maccaroni und Ansichtskarten zu verzichten, doch schließlich bin ich auch aus freien Stücken hier. Nachdem wir für das obligatorische Gipfelkreuzfoto posiert und dem Hubschrauber, der auch hier sein Bier los wird, eine Weile zugesehen haben, ziehen wir uns an den Südrand des Gipfels zurück und hoffen, einen Blick auf die Marmolada (3342m) zu erheischen, den höchsten und majestätischsten aller Dolomitengipfel. Vergeblich, sie ist ständig in Wolken gehüllt. Schade, gestern um die gleiche Zeit hätten wir hier noch eine phänomenale Aussicht genießen können. Wenigstens den Eissee, Lech d’Lace, dürfen wir von hier oben aus bewundern. Ein See, der wie der Name schon andeutet, vereist ist. Wow! Beim nächsten Mal sind die Schlittschuhe dabei. Bald sind wir durchgefroren und beginnen wieder mit dem Abstieg. Wir beeilen uns lieber, denn es beginnt leicht zu schneien. Auf dem Klettersteig kommen uns vier schwule Cowboys aus Texas entgegen, um die uns nicht bange ist, denn sie werden sich oben auf dem Gipfel gegenseitig warmhalten können.
(iv) Eine Busfahrt, die ist lustig… Zurück in der Boe-Hütte studieren wir die Busfahrpläne, die wir uns im TVB von St.Christina besorgt haben. Unsere anfängliche Routenplanung ist seit gestern vollkommen durcheinander geraten, von nun an wird improvisiert. Wir wollen uns bis zum Pordoijoch durchschlagen und von dort mit dem Bus weiter bis zum Sellajoch fahren. Dann ist es nicht mehr weit bis zur Friedrich August-Hütte, die strategisch günstig am Anfang des gleichnamigen Almweges liegt, der uns morgen bis zum Rosengarten führen soll. Die Südtiroler Verkehrsbetriebe haben sich alle Mühe gegeben, ihre Fahrpläne so transparent und übersichtlich wie nur möglich zu gestalten. Nach einer Viertelstunde intensiven Studiums haben wir auch schon zumindest eine vage Ahnung von den für uns relevanten Abfahrtzeiten. Wir verabschieden uns von den Bergers und treten den Weg zum Joch an. Der verläuft zunächst ziemlich unspektakulär über Geröll immer parallel zum Hang nach Süden, bis wir wieder auf unseren guten alten Dolomiten- Höhenweg Nr.2 stoßen, der uns letztlich sicher in westlicher Richtung zur Rif.Forcella Pordoi (2829m) geleitet. Hier droht der steile Abstieg zum Pordoijoch durch eine enge Spalte über loses Geröll. Alternativ dazu besteht 100m höher die Möglichkeit, von der Mariahütte mit der Gondel ins Tal zu schweben. Eine italienische Schulklasse kommt von dort herunter zu uns. Die Kinder drücken Michael ihre Kameras in die Hand, reihen sich brav auf und lassen den armen Kerl ein halbes Dutzend Aufnahmen von sich machen. Schließlich klettern sie wieder zurück zur Gondelstation. Wir folgen ihnen und sparen uns den langwierigen Abstieg zu Fuß, denn der Himmel verdüstert sich immer mehr und die Beine sind auch schon wieder schwer. Mit einer Riesengondel, wie man sie aus James Bond-Filmen kennt, sind wir die Strecke in wenigen Minuten hinuntergesegelt. Kaum sind wir im Tal, bricht ein heftiges Gewitter über uns herein. Sehr weise von uns, diesen Weg zu nehmen. Per pedes in dem steilen Kar wären wir jetzt in erhebliche Schwulitäten geraten. Im Cafe der Gondelstation vertrödeln wir die Zeit bis zur Ankunft unseres Busses mit dem Verzehr von Jagatee. Der zweite Bus kommt sogar planmäßig und befördert uns für wenig Geld im ersten Gang zum Sellajoch.

(v) Putenschnitzel a la Friedrich August
Der Regen hat angenehmerweise aufgehört, doch der Boden ist tief und matschig geworden, als wir auf der Suche nach dem Friedrich August-Weg über die grünen Wiesen irren. Endlich durch knietiefen Schlamm waten, wie haben wir uns danach verzehrt. Ein Blick auf die Sella hinter uns offenbart den Piz Boe in frischem Weiß. Schön, daß wir nicht mehr dort oben sind, bei Schnee hat eine solche Gipfeltour sicherlich ihr ganz eigenes unangenehmes Flair. Schließlich finden wir die Friedrich August-Hütte gemütlich im Grünen zu Füßen des Langkofel gelegen.
Ein schönes Zimmer zu zweit, eine warme Dusche mit Netzadapter für meinen Föhn und ein 3-Gänge-Menü zu einem fairen Preis lassen uns schnell vergessen, daß wir heute beinahe elf Stunden auf den Beinen waren. Morgen geht es gemütlich über die Almen, das verspricht ein richtiger Tralala-Tag zu werden.

Auf dem Fr. August-Weg zur Vajoletthütte (2243m)

Auf dem Fr. August-Weg zur Vajoletthütte (2243m)

29.06.2000

(i) Ein schöner Tag mit Fritz Wieder eine Nacht durchgeschlafen, das scheint zur Gewohnheit zu werden. Wir verzichten wiederum auf das Hüttenfrühstück und wollen es uns erst einmal durch etwas Almenbummeln verdienen. Das Wetter hat sich beruhigt, die Sonne leuchtet erstarkt vom Himmel, an dem sich noch die Wolkenfetzen tummeln, welche vom gestrigen Gewitter übrig geblieben sind. Im frischen feuchten Morgenlicht präsentiert sich die Gegend in malerischen Farben. Wir liegen zu Füßen des gewaltigen Langkofelmassivs, unter dessen Felskante wir heute einen beträchtlichen Teil unseres Weges in Richtung Westen zurücklegen werden. Wenigstens bis zur Tierser Alpl-Hütte wollen wir im Laufe des Tages vordringen, ein weiter Weg, von dem man uns jedoch versichert hat, daß er sehr einfach und daher hurtig zu begehen sei. Das Radio verspricht passables und leicht föhniges Wetter, das dürfte ein reiner Sonntagsspaziergang werden. Wir vertrauen uns dem Friedrich August-Weg an, den ich im weiteren der Kürze halber Fritz nennen möchte.
(ii) Immer den Langkofel entlang Ohne großartige Höhenschwankungen verläuft der Fritz am Südhang des Langkofel und oberhalb des Fassatales (Val di Fassa). Obwohl wir uns noch immer über der Baumgrenze befinden, die in den Dolomiten bei etwa 2000m liegt, ist der Südhang zumindest fleißig mit Gras bewachsen und nur gelegentlich steht nacktes Gestein an. Nach den hochalpinen Erlebnissen der beiden letzten Tage wiederum eine völlig andere Erfahrung für uns. Nirgends wirkt der Kontrast zwischen den sanften grünen Hügeln und den aus ihnen herausschießenden bleichen kantigen Felsbrocken krasser als beim Langkofel. Dieser Kontrast ist es, der den wahren Reiz der Dolomitenlandschaft ausmacht. Es übersteigt jegliche menschliche Phantasie, sich vorzustellen, daß diese kalkigen Klötze einst Korallenriffe in einem triassischen Flachmeer waren, die versteinerten und endlich nach Hebung der Alpen durch die Erosion wieder aus dem einstigen Uferschlamm herausgemeißelt wurden. Wir wandeln auf 200 Millionen Jahren abwechslungsreicher Erdgeschichte. Bald sind wir weit genug um den Col Rodela herumgelatscht, daß wir endlich doch noch zu unserem Marmolada-Anblick kommen. Der flache vergletscherte Nordhang schiebt sich gerade erkennbar durch den Dunst hervor. Ein Gipfelkreuz ist auch im Fernglas nicht auszumachen, der eigentliche Gipfel muß noch weiter hinten liegen. Wie zum Hohn besteht der höchste Dolomitengipfel nicht aus Dolomit, sondern aus ordinärem Kalkstein, wie man ihn in jedem Kochtopf findet. Wir entdecken einige Murmeltiere, soll heißen, das Falkenauge Michael entdeckt sie, deutet drauf und mit etwas Glück erkenne ich dann auch noch das ein oder andere Pelzknäuel, kurz bevor es in seine Höhle entschwindet. Oberhalb einer solchen Höhle werfen wir unser verdientes Frühstück ein. Unsere Brote sind derweil eine knappe Woche alt und nicht mehr genießbar, so opfern wir sie denn den Murmeltieren. Was bleibt, sind ein paar Zentimeter Salami und die Hoffnung auf ein üppiges Schnitzel zum Abendessen. Bald durchqueren wir die kleine Senke, in der die Sandro Pertini-Hütte liegt und marschieren unterhalb des Plattkofels weiter bis zur Plattkofelhütte (2300m). Hier herrscht plötzlich hektische Betriebsamkeit, eine große Gruppe von Langschläfern macht sich von der Hütte aus auf den Weg zum Gipfel. Der Plattkofel (2985m) ist der einzige Gipfel der Langkofelgruppe, der ohne Lebensgefahr begehbar ist. Die berühmten Spitzen Langkofel, Fünffinger und Grohmann sind ein Fall für echte Bergsteiger. Von Südwesten aus gesehen macht der Plattkofel seinem Namen alle Ehre, er wirkt wie eine riesige, sanft himmelwärts geneigte Rampe. Auf der entgegengesetzten Seite führt der steile Oskar Schuster-Steig hinunter in den Langkofelkar, den auch wir ursprünglich durchqueren wollten. Dann wären uns allerdings die vielen Kühe entgangen, die nun hinter dem Fassajoch unseren Weg säumen.
(iii) Das Auge ißt mit Die Szenerie wird nun richtig kitschig und postkartig, über Blumenwiesen schlängelt sich der Weg nach Westen, den Blick zur Linken auf das Fassamassiv, zur Rechten auf die Seiser Alm, der größten Alm der Alpen und zusammen mit dem Schlern der wohl bekannteste Naturpark der Dolomiten. Hier kommen Heidifans voll auf ihre Kosten. So treffen wir immer mehr Wanderer, als wir schließlich hinter dem Mahlknechtjoch den Senioren-Highway betreten, der an den Roßzähnen vorbei urplötzlich steil ansteigend zur Tierser Alpl-Hütte mit dem feuerroten Dach hinaufführt. Nach einigen Minuten furchtbarer, weil unvermuteter Anstrengung sitzen wir oben zu Tisch und lassen uns von einer schnuckeligen bayerischen Blondine einen kleinen Mittagshappen servieren. Heute sind wir erstaunlicherweise einmal schneller vorangekommen als erwartet. Blondine hin oder her, eigentlich haben wir keine Lust, den gesamten Nachmittag in der Hütte herumzulungern. Die Sonne hat sich mittlerweile wieder rar gemacht und zum Draußensitzen ist es viel zu kalt. Also beschließen wir, heute noch in den Rosengarten vorzustoßen. Nachdem wir unsere Trinkflaschen mit sündhaft teurem Tafelwasser gefüllt haben, folgen wir dem Weg mit der Nummer 3a nach Süden.
(iv) Der Rosengarten voller Dornen Schnell kommt wieder hochalpines Feeling auf, als wir uns über den teils drahtseilgesicherten Pfad nach oben arbeiten. Über das anschließende wüste Plateau marschierend fühlen wir uns endlich wieder heimisch. Bei Erreichen des Mahlknecht-Passes (2604m) stockt uns der Atem: zu unseren Füßen gähnt ein gigantischer Kessel, über und über angefüllt mit Geröll. Vis a vis liegt der Grasleitenpass auf etwa gleicher Höhe. Doch bis dahin wird es ein quälendes Stück Weg, das läßt sich jetzt schon abschätzen, denn der Pfad windet sich zunächst einmal beinahe bis zum Grund des Trichters hinunter, um dann wieder anzusteigen. Die Bergwanderei stellt im allgemeinen eine reichlich sinnlose Verschwendung von potentieller Energie dar, das wird uns hier so richtig bewußt. Ein nicht mehr ganz taufrischer Tiroler Alpenhaudegen, der mit seiner Mütze ausschaut wie der Nikolaus, und seine Begleitung machen uns vor, wie man eine Schotterpiste am effizientesten hinabsteigt. Mit Hilfe ihrer Stöcke stiefeln sie ohne Rücksicht auf Verluste schnurstracks auf dem kürzesten Weg den Hang hinunter, wobei sie kleine Lawinen lostreten, die ihre Fahrt zusätzlich beschleunigen. In einer Zigarettenlänge sind sie unten. Riskant und doch irgendwie elegant. So machen wir das aber nicht. Wir folgen den offiziellen Trittspuren durch die ungezählten Kehren. Eine knochenpeinigende Angelegenheit. Unser erster größerer Abstieg seit dem Grödner Joch vor zwei Tagen und bald schon jammern die Knieschneiben. Inspiriert durch den Nikolaus beginne ich zu rennen. Dann ist der Schmerz schneller wieder vorbei, denke ich mir. Das geht herrlich flott, wenn man den Boden kaum berührt und der lahme Michael ist schon bald weit hinter mir. Aber aufgepaßt, liebe Kinder, macht das nicht zu Hause nach! Unten angekommen erhalte ich den Lohn für meinen jugendlichen Leichtsinn: die alten Scharniere schmerzen und quietschen jetzt erst richtig vehement. Das war mehr als dumm und könnte sich noch als fatal erweisen. Wir müssen nicht gänzlich bis zur Sohle hinunter. Dort zweigt zwar ein Weg ab, der aber führt gen Westen zur Grasleitenhütte. Unser Pfad windet sich am östlichen Rand entlang. Das Geröll ist sehr viel grober als beim Abstieg und sobald es kurzfristig abwärts durch eine der tiefen Regenrinnen geht, wird der Schmerz unerträglich. Bald jedoch steigt der Pfad wieder steil an und ohne jegliches Zeitgefühl quälen wir uns langsam und mühsam hinauf zum Pass. Ein kleiner Trost: bergauf ist der Nikolaus auch nicht schneller als wir. Hier steht die Grasleitenpass-Hütte (2599m), ein luxuriöser Fahrradschuppen, in dem wahrscheinlich nur Hardliner und Gewitteropfer freiwillig übernachten. Der Hüttenwirt ist ein Motorrad Offroad-Champion, wie er gerne beweist, indem er mehrmals die Strecke in Richtung Vajoletthütte hoch- und runterjagt. Die letzten Meter zur ersehnten Vajoletthütte sind normalerweise nicht besonders anspruchsvoll zu gehen, in Anbetracht der 250Hm Differenz und meiner Anamnese ziehen sie sich aber wie Latex in die Länge. Wir haben es nicht eilig, die Sonne gibt wieder gelegentliche Intermezzi und wir senken unseren Kilometerschnitt durch viele kleine Humpelpausen.
(v) Vajolettparty Welch ein Schauer des Glücks mich durchzieht, als die Vajoletthütte endlich vor uns liegt. Direkt neben der Preußhütte auf einem kleinen Absatz in einer malerischen Schlucht, dem Vajolettal, gelegen. Das Tal wird von einem etwas fiesfarbigen gelben Bächlein durchströmt, aus dem ich nicht einmal dann trinken würde, wenn die Alternative Toilettenschüssel hieße. Doch vermutlich befördert er ganz unschuldig nur irgendwelche Sedimente in Richtung Adria. Die Hütte ist groß mit vielen Betten, wir ergattern ein Doppelzimmer. Leider hat es nur eine Bettpfanne, da wird es heute Nacht möglicherweise zu Verteilungskämpfen kommen. Hier herrscht ungewohnt viel Betrieb und Lärm, viele Gäste und vor allem eine italienische Schulklasse sorgen für eine unerwartete Atmosphäre. Wir sitzen gemeinsam mit zwei nicht schwindelfreien englischen Sozialarbeitern und zwei klettersteigverrückten Lehrerinnen am Tisch und lassen uns das Wiener Schnitzel mit Pommes schmecken. Draußen toben die Ragazzi jedesmal, wenn Holland einen Elfmeter verschießt und drinnen runden die jungen italienischen Kellnerinnen die Partystimmung perfekt ab. Meine Schmerzen lassen nach der ersten Buddel Vino Rosso bald nach. Für heute.
Über den Santner Pass zur Rosengartenhütte (2283m)

Über den Santner Pass zur Rosengartenhütte (2283m)

30.06.2000

(i) Man spricht deutsch Heute fühlen wir uns gar nicht fit, quälen uns aber schließlich doch aus dem Bett, um das Frühstück nicht zu verpassen. Das war eine weise Entscheidung, denn nach frischen Brötchen und Paracetamol geht es dem Gehirn bald viel besser. Meine Kniescheiben jedoch sind angeschwollen wie Ballons und schmerzen allein bei Berührung höllisch. Kaum, daß ich die Treppe herunterkomme. Wie soll das so weitergehen? Aus ungebrauchten Socken — die gebrauchten riechen nach einem Tag bereits schlimmer als eine Monatsproduktion Limburger — bastele ich mir provisorische Bandagen. Die sollen wärmen und stützen. Bei Michael hat es offensichtlich funktioniert, von dem höre ich diesbezüglich keine ernsthaften Klagen mehr. Da wir heuer nicht allzu viel vorhaben, könnten wir uns noch ein Stündchen im Bett herumlümmeln, denn laut Aushang sind die Zimmer bis 10 Uhr auszulassen, was immer das genau bedeuten mag. Da es uns jedoch ausdrücklich verboten ist, den Boiler für die Dusche anzugreifen, machen wir uns besser auf den Weg. Wir wollen über den Santner Pass und den berüchtigten nachfolgenden Klettersteig zur Rosengartenhütte marschieren, laut Karte nur ein Katzensprung. Ein Schild verspricht uns einen „Herrlichen Anblich“ vom Santner Pass aus, das kann ja eiter werden.
(ii) Torri del Vaiolet Erst einmal heißt es Höhe gewinnen. Westlich der Hütte kraxeln wir den felsigen Hang hinauf. Anstrengend zwar, doch ich finde das sehr viel angenehmer als das übliche Schottertreten. Solange es bergauf geht, spielen auch die Knie mit. Die Morgensonne brennt fleißig und uns wird ausnahmsweise richtig warm ums Herz. Nach einer Dreiviertelstunde beruhigt sich der Weg und führt die letzten Meter in Serpentinen hinauf auf ein gerölliges Plateau. Wir sind an der Gartlhütte (2621m) gelandet, zu Füßen der beeindruckenden Vajolettürme. Dreieinhalb Zinnen, die hellbraun senkrecht aus dem sanften Bergrücken schießen, bilden einen Anblick, an dem man sich gar nicht sattsehen kann. Die Bewohner der Gartlhütte sind um ihren Sommergarten wirklich zu beneiden. Eingedenk unseres großzügigen Zeitrahmens gönnen wir uns eine lange Pause mit Blick auf die Türme. Wir entdecken zwei Seilschaften, die sich gemächlich die Wände empor arbeiten. Was muß das für ein Gefühl sein, dort oben zu hängen, besonders dann, wenn man der Seilführer ist. Jeder Schritt, jeder Griff will sorgfältig gesetzt sein, die kleinste Unkonzentriertheit kann fatale Auswirkungen haben. Da dehnen sich zweihundert Meter zu einer kleinen Unendlichkeit. Nach mehr als einer Stunde raffen wir uns auf und folgen dem relativ gemütlich an der Westflanke des Plateaus ansteigenden Schotterpfad zum Santer Pass (2741m) nebst der gleichnamigen Hütte. Das Anblich-Schild hat nicht zuviel versprochen. Hinter uns dräuen immer noch die Vajoletttürme, zur Rechten dehnt sich das Eissacktal mit der Stadt Bozen. Hier enden die Dolomiten, die Berge dort hinten sehen aus wie überall in den Alpen. Vor uns blicken wir an der Westkante des Rosengartens entlang auf das Latemar-Massiv. Die Rosengartenhütte ist bereits zu sehen, bis dahin dürften es kaum mehr zwei Kilometer sein.

(iii) Pass des Schmerzes
Der Einstieg in den Klettersteig ist nicht zu übersehen, denn er spuckt peu a peu die Mitglieder einer Reisegruppe aus. Eine interessante Gesellschaft, bestehend aus einem jungen Mädchen und einigen älteren Herren. Einer fragt uns über den sagenhaften König Laurin ab, der einst im Rosengarten residiert haben soll, doch zu diesem Thema haben wir nicht viel beizusteuern.
Ein wenig mulmig ist uns schon zumute, als wir mit angelegten Gurten den Eisenweg betreten. Was wird uns dort erwarten? Nach den ersten Metern wird schnell klar, daß er auch nur ein Klettersteig wie viele andere ist. Leider führt er abwärts, unangenehm zu klettern, weil man nicht genau sieht, wo man hintritt. Aber Sicherungen gibt es reichlich und in den oft engen Spalten kann man auch nicht sehr tief stürzen. Highlight ist ein rutschiger kleiner Gletscher, der sich wie ein erstarrter Sturzbach über den Fels ergießt. Am über Kopf gespannten Seil hangeln wir uns hinüber ans andere Ufer.
Immer wieder kommen uns Wanderer entgegen, dann wird es eng. Zwischendurch einmal ein kurzer Anstieg, doch dann geht es wieder gnadenlos abwärts. Die Knie fangen allmählich wieder an zu schmerzen. Jeder kleine Hüpfer, jede kleine Drehung der Gelenke wird schließlich zur Tortur. Wer kennt nicht das Gefühl, bei jedem Schritt einen Eispickel durch die Kniescheiben gestoßen zu bekommen, der dann noch ordentlich in der Wunde herumgerührt wird. War der Klettersteig bisher ganz unterhaltsam, beginne ich nun das Ende herbeizusehnen. Das rückt in Gestalt der Rosengartenhütte immer mal wieder in Sicht, scheint jedoch nicht näher zu kommen. Mein Bewußtsein beginnt sich zu trüben, ich kann bald an gar nichts mehr denken und funktioniere einfach nur noch. Erinnerungen an enge Spalten und Rattenlöcher, durch die wir uns mit den riesigen Rucksäcken irgendwie hindurch zwängen. Immer weiter und kein Ende. Schließlich halluziniere ich, Sachsen kämen mir entgegen und fragten, wann die Action endlich losgehe.
Letztlich endet die Kletterei, der Pfad verläuft seichter und ich kann mit durchgedrückten Knien einigermaßen voranhumpeln. Sicherlich ein Anblick für die Götter. Nach vielen Pausen erreichen wir den Absatz, der genau oberhalb der Hütte liegt. Noch ein steiler, schmerzhafter und doch hoffnungsvoller Abstieg. Kaum sind wir endlich aus der Wand, purzelt eine Steinlawine wenige Meter hinter uns hernieder. Oben winkt jemand und vergewissert sich, daß wir noch leben. Ein Bergführer, er hat die Steine wohl absichtlich losgetreten, um den Leuten, die nach uns kommen, einen ähnlichen Schrecken zu ersparen. Das war ganz schön knapp. Ob der uns wirklich vorher gesehen hat?

(iv) Rosengartenhütte und das Ende
Wie dem auch sei, wir stehen vor der Rosengartenhütte — auch Kölner Hütte genannt — und ich bin von meinem Leid erlöst. Erfreulich zu sehen, daß die hier einen Sessellift haben, der ins Tal hinunter führt. Wir sind anscheinend die einzigen Gäste. Warme Dusche, Wiener Schnitzel mit Pommes, ein paar Bierchen und zu guter Letzt der Aufstieg in das kleine Turmzimmer. Um zehn Uhr geht das Licht aus.

Vor dem Einschlafen habe ich eine Vision: ich werde morgen nicht mehr laufen können. Karer Pass oder Durchsteigung der Rotwand lösen sich in Nebel auf. Ich sehe eine Fahrt mit dem Lift ins Tal und eine fünfstündige Odyssee mit den Südtiroler Verkehrsbetrieben nach St. Christina. Ich sehe Straßenschuhe, eine lange Autofahrt, Rotlicht und Antiphlogistika. Schade, daß es so enden mußte. Immer noch besser, als von Diarrhoe und Langeweile am Strand der Dominikanischen Republik dahingerafft zu werden.

PS: Der Schnarcher war einer der Fünf Freunde.

Das wars. Mehr kommt nicht. Vielleicht nächstes Jahr.

© Stefan Maday 16.08.2000