25.06.2000

(i) Erste Schritte durch die Kälte Endlich ist es soweit. Der Tag, auf den wir beide monatelang hin gearbeitet haben. Gestern Nachmittag sind wir in St.Christina eingetrudelt und haben die Nacht in der Pension Mont Blanc verbracht. Wir waren zunächst ein wenig irritiert ob der Kälte und des in der Nacht einsetzenden Dauerregens. Hieß es doch in einem Buch über die Dolomiten zum Stichwort Klima: „in der weingesegneten Region spürt man bereits einen Hauch von Italien!“ Heute morgen folgte die nächste Überraschung: die Spitze des Langkofel, die ab und an durch die tiefhängenden Wolkenfetzen lugt, ist in verräterisches Weiß getaucht. Neuschnee. In Italien. Davon lassen wir uns aber nicht entmutigen. Also die schweren Rucksäcke aufgeschnallt und los. Jetzt zahlt sich unsere gewissenhafte Vorbereitung aus. Michael ist im Vorfeld dreimal Fahrrad gefahren, während ich mich von einem Muskelfaserriß im Oberschenkel erholte. So untrainiert wagt man sich vielleicht zu Bundesjugendspielen, doch weniger in hochalpine Regionen. Da dies meine erste Berghüttentour ist, fiel mir die Entscheidung darüber schwer, was an Ausrüstung in den Rucksack gehört und was man besser zu Hause läßt. Nach den ersten Metern schwant mir bereits, daß ich mir viel zu viel Gewicht aufgebürdet habe. Ein gutes hat die Sache aber dennoch: mit 12kg auf dem Buckel kann ich gar nicht so schnell laufen, als daß ich auf dem Höhenweg oberhalb von St.Christina ernsthaft außer Atem käme.

(ii) Col Raiser
Als wir die Talstation der Col Raiser-Bahn erreichen, stellen wir erleichtert fest, daß sie schon geöffnet hat. Angesichts der vor uns liegenden Strapazen wählen wir die unsportliche Variante für den Aufstieg in Richtung Seceda: wir berappen je 13500 Lire und lassen uns gemütlich nach oben gondeln. Auf 2100m angekommen, sieht die Welt auch schon viel freundlicher aus. Der Neuschnee ist schon fast wieder weggetaut, die Wolken verziehen sich mehr und mehr und geben den Blick auf die herrlich nackigen Geisler Spitzen frei. Der Weg führt dann auch nur mäßig steil ansteigend über Almwiesen an der Troier Hütte vorbei bis zu einem Wegekreuz. Dort haben wir die Wahl zwischen der Panascharte (Forcella Pana) und der Mittagsscharte (Forcella de Mesdi). Nur durch einen der beiden Kare können wir die hinter der Alm abrupt abfallende nördliche Steilwand passieren. Per Münzwurf entscheiden wir uns für die Panascharte und erreichen wenige Minuten später den vorläufig höchsten Punkt unserer Wanderung. Bis hierher haben wir ungefähr 350Hm überwunden, gar nicht übel für den Anfang. Laut Karte war das auch schon der schlimmste Anstieg für heute. Jetzt beginnt der Spaß.

(iii) Kletterspaß an der Panascharte
Pünktlich reißt der Himmel auf und die Sonne beginnt, ihre alles versengenden Strahlen auf unsere mitteleuropäische Haut zu werfen. Ein Hauch von Italien. Schade, daß der Wind so kalt weht wie im deutschen Winter. Die Pullover bleiben an. In dem harten Licht wirkt die felsige Landschaft noch um einiges grotesker. Hinter uns, weit weg im Südosten, erhebt sich die gewaltige Sella eindrucksvoll noch über das Puez-Massiv hinweg. Sie sieht so gar nicht wie ein Gebirgsstock aus, vielmehr trutzt sie wie eine mächtige zweistöckige Burg. An ihren Rampen scheint üppig Schnee zu liegen. Wenn alles nach Plan läuft, sollten wir in zwei Tagen dort oben sein. Bis dahin hoffen wir auf eine Hitzewelle.
Vor uns liegt der namenlose Kar, den es herabzustiefeln gilt. Unschwer erkennt man die Drahtseilsicherungen, an denen man sich sicher herunter hangeln kann. Wir legen besser unsere Sicherungsgurte an. Das ist zwar nicht mein erster Klettersteig, aber es macht doch einen Unterscheid, ob man einen Felsen mit leichtem Sturmgepäck oder mit dem halben Hausrat auf dem Rücken hinunterklettert. Anfangs etwas wackelig und zögerlich bewegen wir uns die enge Schlucht hinunter. Obwohl wir keine Helme haben, brauchen wir uns vor Steinschlägen nicht zu fürchten, denn im TVB unten in St.Christina hat man uns versichert, der Weg durch die Panascharte sei absolut sicher. Mit jedem Meter steigt das Selbstvertrauen, die Felsenschlucht wird immer breiter und bald haben wir das Ende des Klettersteiges erreicht. Das war doch relativ einfach und hatte trotzdem einen hohen Unterhaltungswert. Nun erwartet uns ein anstrengender Abstieg über die Schotterpiste. Auch der hat einen gewissen Unterhaltungswert, aber mehr für unsere Knochen, Sehnen und Gelenke.
Nach einer ausgiebigen Salamipause sind wir so richtig schön durchgefroren. In endlos scheinenden Serpentinen staken wir durch das Geröll, bis wir auf 2000m Höhe schließlich wieder grünes Terrain erreichen. Michaels Knie schmerzt vom ständigen Abbremsen gegen die Schwerkraft. Arthrose im Frühstadium. Das mußte früher oder später passieren. Deswegen benutzen viele Bergwanderer Skistöcke für den Abstieg. Wir nicht.

(iv) Die Munkelweg-Odyssee An einem Bächlein kurz vor der Brogles-Hütte verlassen wir den Weg und schlagen uns nach Osten bis zum Adolf Munkel-Weg durch. Dieser soll uns bis zur Gampenalm führen, wo wir übernachten wollen. Kann nicht mehr weit sein. Das denken wir zwei Stunden später immer noch. Bis hierher war es ein ständiger Irrweg durch den Wald, immer mit gelegentlichem Blickkontakt zu den Geisler Spitzen, Reinhold Messners Hausbergen: Sas Rigais, Furcheta, Wasserkofel. In der Reihenfolge müssen wir an allen vorbei. Der Weg verläuft stetig auf und ab und windet sich in alle möglichen Richtungen, so daß ich schwören könnte, daß wir uns in der letzten Stunde unserem Ziel nicht einen Kilometer genähert haben. Wahrscheinlich eine optische Täuschung. Wir haben längst den toten Punkt erreicht, an dem wir eigentlich gar nicht mehr weiter marschieren möchten. Wir tun es nur noch, weil wir keine Alternative haben. Meine Gedanken verselbständigen sich, die Schultern schmerzen von der gewaltigen Last, die Schuhsohlen haben sich in Papier verwandelt und wir müssen immer häufiger Pausen einlegen. Kein Ende in Sicht. Die Gampenalm ist auf unseren Karten nicht mehr verzeichnet, sie könnte also überall liegen, vielleicht sogar in Österreich. Schließlich ein Funke der Hoffnung: zwei ältere Ladies überholen uns und vermelden, wir hätten nur noch eine Dreiviertelstunde vor uns. Schließlich endet der verfluchte Munkelweg tatsächlich und wir entern einen gut ausgebauten Senioren-Highway. Mit letzter Puste folgen wir den Serpentinen nach oben und erreichen schließlich doch noch die Gampenalm. Das sollte heute eine Tour zum Warmlaufen werden, für die wir fünf Stunden eingeplant hatten und für die wir letztlich acht Stunden benötigt haben. Zu unserer Ehrenrettung sei zu sagen: die beiden alten Ladies hätten das auch nicht in fünf Stunden geschafft, sie hätten mindestens sechs gebraucht.

(v) Neues vom Wolpertinger
Auf der Gampenalm (privat bewirtschaftet) herrscht ordentlich Betrieb, wir liegen mit einem knappen Dutzend Leutchen auf einem Zimmer. Zumindest gibt es hier eine Dusche, das ist weit mehr Komfort, als ich zu hoffen gewagt hatte. Hoffentlich regenerieren sich meine Bandscheiben allmählich wieder. Ich bin bestimmt 10cm kürzer als noch am Morgen.
Nach Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat und Weissbier sind wir soweit wiederhergestellt, daß wir das legendäre Alpenglühen bewußt miterleben können. Michael entdeckt auf dem Wasserkofel eine schemenhafte Gestalt, die sich geisterhaft zwischen den Felsen bewegt und wartet mit einer ad hoc-Hypothese auf: das könnte der berüchtigte Wolpertinger sein. Ich tippe eher auf Messner. Ein älterer Herr jedoch schwört uns Stein und Bein, daß der Wolpertinger tatsächlich existiert! Wenn dem so wäre, könnte er das fehlende Bindeglied zwischen präkambrischen Mollusken und dem modernen Tiroler sein. Eine handfeste Sensation. Vielleicht ist der Alte aber nur ebenso bierig wie wir an diesem Abend. Viel Hüttenzauber gibt es nicht mehr, obwohl aus den Lautsprechern der Gaststätte ein Best-of-Mix der Saragossa Band ertönt, schauen die anderen Gäste lieber Fußball oder liegen früh im Bett.
Um elf gehen auch wir als letzte in die Heia. Einer der Zimmergenossen schnarcht höllisch laut. Das wird eine lange, kalte Nacht.

© Stefan Maday 16.08.2000