26.06.2000

(i) Wiederbelebung und Hasen zum Frühstück Um sieben Uhr bin ich von meinen Qualen erlöst. Im Zimmer ist es derart hektisch und betriebsam geworden, daß ich unmöglich weiterschlafen kann. Mir wird klar, warum die anderen gestern abend so früh die Segel gestrichen haben. Wenigstens macht das Wetter dort weiter, wo es am Abend aufgehört hat: am blauen Himmel ist quasi kein Wölkchen zu sehen, jedenfalls nicht bei uns. Weit weg im Norden hängen welche dicke am Alpenhauptkamm herum. Aber es ist eiskalt und nach der ersten Zigarette draußen vor der Schlafhütte bin ich plötzlich hellwach. Michael sieht auch nicht fitter aus, er habe die ganze Nacht gefroren. Kann ich von mir nicht behaupten, ich habe nur nicht geschlafen. Wie konnte ich diese verdammten Ohrenstöpsel zu Hause vergessen? Nach dem Frühstückstee sieht die ganze Sache schon freundlicher aus. Um kurz nach acht brechen wir auf zur Schlüterhütte. Als letzte. Die anderen sind alle schon weg, die Bergers, die Zwickauer und die Fünf Freunde. So braucht uns niemand zu überholen. Wir werden sie alle auf der Puez-Hütte wiedertreffen. Einer von ihnen ist ein pathologischer Schnarcher. Mit noch kalten Knochen geht es vorsichtig aufwärts. Mein Muskelkater ist zum Glück längst nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte. Nach einer Dreiviertelstunde sind wir an der Schlüterhütte angelangt. Sie hat geschlossen. Glücklicherweise. Hier wollten wir ursprünglich unsere erste Nacht verbringen, da hätten wir den Aufstieg gestern noch machen müssen! Aber Michael ist der geborene Organisator und hat das alles im Vorfeld schon abgecheckt, ausbaldowert und klargemacht. Gänzlich verwaist ist die Hütte dennoch nicht, denn hier laufen viele kleine Hoppelhäschen herum. Keine Angst, liebe Kinder. Die possierlichen Nager sind natürlich viel zu flink, als daß wir einen von ihnen fangen und als Brotaufstrich verwenden könnten. Alle Versuche in dieser Richtung schlagen fehl. Von nun an schreiten wir auf dem offiziellen Dolomitenhöhenweg Nr.2, der Route 66 der Westlichen Dolomiten, gen Süden.

(ii) Auf dem Dolomiten-Highway zur Roascharte
Der Weg ist relativ bequem zu gehen, ohne großen Potentialverlust führt er an der Ostflanke des Wasserkofel (2610m) vorbei. Am Kreuzkofeljoch haben wir nochmal einen Ausblick auf die Schotterpisten der Geisler Spitzen, an denen wir uns gestern vorbei gequält haben, zur Linken liegt ein unbekanntes Tal, das auf der Karte nicht mehr verzeichnet ist. Dahinter ragen wieder Gipfel auf, gefolgt von noch mehr Gipfeln usw. Eine unermeßliche Landschaft, die kein Ende zu nehmen scheint. Wir würden Monate oder gar Jahre brauchen, wollten wir allein in den Dolomiten jeden Stein umdrehen und die Dolomiten sind nur ein Stück Fliegendreck auf der großen Alpenübersichtskarte (obgleich ein ganz besonders schönes). Folglich beschränken wir uns darauf, was für uns machbar ist, und nähern uns in weiten Windungen allmählich der Roascharte (Forcella de la Roa). Bald betreten wir ein gigantisches Geröllfeld, der strahlend weiße Dolomit blendet uns die Augen. So frisch wie er aussieht, kann die Lawine frühestens vor ein paar Jahrhunderten abgegangen sein.
Wir lassen die Wasserscharte rechts liegen und trampeln noch einige hundert Meter parallel zum Hang in Richtung Süden. Dann folgt der Anstieg zur Roascharte.
Der erweist sich als steil und äußerst mühsam. Der Schutt ist feinkörnig, fast wie Sand, wir finden nur schwerlich Halt. In endlosen Kehren geht es hinauf, dabei kommt der Kreislauf ordentlich in Schwung und selbst die Schweißdrüsen erwachen aus ihrer kalten Lethargie. Eine der seltenen Gelegenheiten für oben ohne Pullover.

(iii) Forcella de la Roa (2617m)
Unsere Grundsatzdiskussion über Sinn und Unsinn solch unmenschlicher Schinderei nimmt erst ein Ende, als wir schließlich den Vertex erreicht haben, 2617m oberhalb von Venedig. Noch ein wenig prusten und keuchen, dann können wir die Aussicht genießen. Hinter uns überblicken wir den bisherigen Weg, wie er sich mühselig bis zu uns herauf windet. Im fernen Norden dräuen die fetten in Schnee und Wolken versunkenen Dreitausender der Stubaier Alpen. Vor uns gibt es nicht so viel zu sehen. Ein kleines Tälchen, das Val de la Roa, dahinter ein namenloser Bergrücken. Im Südosten scheint ein wenig die Sella durch. Wir werden heute aber noch höher steigen. Nach der Pause.
Zunächst muß ich meine Blasen pflastern. Ich hatte noch niemals Blasen in meinen Schuhen, offenbar habe ich einen schlechten Sockensatz erwischt. Im Lee der Felsen läßt es sich aushalten. Doch allzu lange sollten wir nicht verharren, denn über uns kreisen bereits die Geier und wittern vergammelnde Beute.
Der offizielle Höhenweg windet sich vor uns in das Tälchen hinunter, um an dessen Ende nach Osten abzuknicken und wieder steil anzusteigen. Ein stattlicher Umweg. Das scheint uns wenig attraktiv und wir entscheiden uns für den Abstecher nach links. Der Pfad sieht zwar nicht sehr Vertrauen erweckend aus, dafür verläuft er parallel zum Hang, so daß wir nichts an Höhe einbüßen. Nach zehn Minuten endet der Weg und mündet in eine senkrechte Felsspalte. Schluck. Eine sehr steile Via Ferrata liegt vor uns.

(iv) Vertigo und Die Vögel Via Ferrata bedeutet soviel wie Eisenweg, einen prägnanteren Namen für diese mit Drahtseilen und Stahlstiften gesicherten Abenteuerspielplätze für Große wird man sich schwerlich ausdenken können. Wir legen die Klettergurte an und merken sehr bald, daß sie doch nicht so unnütz sind, wie anfänglich gedacht. Dieser Klettersteig ist von einem etwas anderen Kaliber als der gestrige. Drahtseilsicherungen sind nur sporadisch vorhanden, in der engen Spalte hat man mit dem klobigen Gepäck nur begrenzte Bewegungsfreiheit. Es geht quasi senkrecht hinauf, die Wände sind teilweise vereist. Das ist Abenteuer! Vollkommene Konzentration ist angesagt. Immer gut festhalten und hoffen, daß der Michael über mir keine Steine lostritt. Zum Schluß noch eine wackelige Leiter und schon sind wir oben. Das waren aufregende 50 Meter, die für vieles entschädigen. Gleiches gilt für die Aussicht. Wir sind jetzt auf 2740m Höhe und uns bietet sich ein phantastisches Panorami nach Süden hin. Da erhebt es sich eindrucksvoll vor uns, das morgige Ziel. Der Piz Boe, die höchste Erhebung der Sella, thront nochmals 400Hm über uns. Das wird anstrengend. Da haben wir uns erst einmal eine Pause verdient, es wird Zeit, daß die schwere Salami allmählich aus dem Rucksack verschwindet. Kaum sitzen wir und essen, kommen die Geier vom Himmel hernieder. Auf kleinen Felsbrocken sitzen sie und belauern uns in der Hoffnung auf Abfälle. Eine unheimliche Stille. Abwarten. Eine Szene wie aus dem Hitchcock-Klassiker. Es handelt sich wohl eher um Krähen oder Hupfdohlen oder was auch immer. Mit Vögeln kenne ich mich nicht gut aus. Die Flattermänner kommen bis auf wenige Zentimeter an uns heran, als wir sie mit kleinen Brotpopeln ködern. Schüchternheit kann man sich in dieser lebensfeindlichen Steinwüste, in der kaum ein Grashalm wächst, als gefräßiger rabenähnlicher Vogel offenbar nicht leisten. Ich muß meinen Blick immer wieder nach Norden wenden, dort juckt der Gipfel des Piz Doleda (2908m). Sieht nach einer preiswerten Gipfelbesteigung aus, wir könnten unsere schweren Schneckenhäuser hier im Basislager lassen. Michael ist aber nicht sonderlich begeistert und alleine habe ich auch keine Lust. Wir machen uns stattdessen auf zur Puezhütte.
(v) Der lange Weg zum Puez-Schnitzel Im Laufe des 300Hm währenden Niedergangs durch die Forcella Nives zeigen sich auch bei mir die ersten Anzeichen von Materialermüdung. Mein rechtes Knie beginnt zu schmerzen. Wie eine alte Wunde, die wieder aufplatzt. Ich muß sofort an meine knochenschmirgelnden 1300m-Abstiege vom Galtenberg und vom Großen Beil in den Kitzbühler Alpen vor zehn Monaten denken. Diesmal fängt es beunruhigend früh an. Hoffentlich sind wir beiden am Ende der Woche kein Fall für den Rollstuhl. Der Dolomiten-Höhenweg zieht sich schließlich schier endlos unterhalb der schwarzen, tropfenden Wände der Puezspitzen (Pizes de Puez) entlang und windet sich noch einmal großzügig um einen Sporn des Puezkofels (Col de Puez, 2725m) herum, um letztlich nochmals anzusteigen, damit der erste Anblick der Hütte dem total erschöpften Pilger auch wirklich einen Seufzer der Erleichterung entlockt. Da liegt sie, malerisch zu Füßen des Puezkofels und mit Ausblick auf das enge Langental (Val Lunga), bzw. die südliche Felswand, die das Tal begrenzt und mehr als 300m senkrecht abfällt. Das gebänderte Gestein erinnert unwillkürlich an Bilder vom Grand Canyon. Unsere Bekannten von der Gampenalm sind alle schon hier gewesen und haben sich größtenteils nochmal aufgemacht zur Puezspitze (Cima Puez, 2913m). Das kommt für uns nicht in Frage, nach wiederum acht Stunden Bewegung in freier Natur steht uns der Sinn nach Herumräkeln und Duschen, bevor es ans verdiente Essen geht. Wir machen nämlich Urlaub. Die Hütte liegt fernab jeglicher Zivilisation und wird vom italienischen Alpenverein (CAI) bewirtschaftet, was sich preislich und servicetechnisch durchaus bemerkbar macht. Die 5-Minuten-Dusche kostet umgerechnet 5 DM, Sahara-Tarif. Der Wirt stopft uns netterweise fast alle in ein und dasselbe (12qm-) Zimmer hinein, dabei hat die neugebaute Hütte wenigstens zehn von der Sorte.

(vi) Schnitzel und Hüttenzauber
Das Schnitzel mit Bratkartoffeln ist rechtschaffen lecker. Der Salat ist nicht mehr der neueste, der Hubschrauber kommt erst morgen. Der Essig brennt an unseren Lippen, die Sonne hat sie uns unbemerkt verbrannt. Ich dachte, das sei nur am Südpol oder in Tschernobyl möglich.
Nach dem Essen kommt sogar Geselligkeit auf, der Wirt läßt Schnaps springen und spielt gekonnt fetzige Volksweisen auf dem Akkordeon. Viel Zeit zum Üben hat er hier oben ja. Hier gibt es keine Frauen, die ihn ablenken könnten, nur den Koch und die Schafe…Um kurz nach zehn dreht er aber den Diesel ab, wir trinken unser Bier im Schein von Michaels Taschenlampe aus und folgen bald den anderen ins Bettchen. Der Schnarcher sägt schon fleißig. Gute Nacht, John-Boy.