27.06.2000

(i) Nepp und Ungewißheit Nach einer durchwachsenen Nacht — ich weiß nun, wer der Schnarcher ist — serviert uns der Wirt der Puezhütte ein frugales Frühstück bestehend aus einer einzigen Tasse Tee respektive Kaffee sowie zwei kleinen Scheiben Weißbrot mit etwas Marmolada. Alles zusammen zum Spottpreis von 10000 Liren. Vielleicht hatte er nur einfach nicht mehr da, denn der Hubschrauber kommt erst heute. Da sind wir glücklicherweise nicht mehr hier. Heute werden wir eine Entscheidung über unseren weiteren Weg fällen müssen. Ursprünglich hatten wir die Boe-Hütte im Herzen der Sella als Ziel unserer dritten Tagesetappe angepeilt. Nach den beiden ersten Touren haben wir gelernt, unser Leistungsvermögen etwas realistischer einzuschätzen. Die Boehütte scheint für uns heute kaum erreichbar. Auch von unseren Mitwanderern haben sich nur die Fünf Freunde dieses Ziel gesteckt, die Bergers wollen bis zur Pisciadu-Hütte, die Zwickauer gar nur bis zum Grödner Joch marschieren. Dabei ist es fraglich, ob wir überhaupt so weit kommen, Michaels Knieschmerz ist schlimmer geworden. In weiser Voraussicht hat er einen Verband mitgenommen und bastelt sich daraus eine provisorische Bandage. An was er alles gedacht hat! Ich habe anscheinend nur nutzlosen Krempel bei mir wie den Föhn, der in keine Steckdose paßt oder die Mückensalbe, zu der es keine passenden Insekten gibt. Mein kleines Radio spricht nur noch Italienisch mit mir und das schwere Brot hat gestern schon wie Kaugummi geschmeckt. Wir vertagen unsere Entscheidung, bis wir am Grödner Joch sind, dort müssen wir in jedem Fall vorbei. Dann wird sich zeigen, ob und wie weit wir noch können. Aufi geht es den Dolomiten- Highway Nr.2 nach Süden. Der Pfad ist angenehm anspruchslos und verläuft nur leicht abfallend am östlichen Ende des Langentals (Val Lunga) vorbei. Von dort läßt sich ein Teil des Grödner Tals überblicken, vorne das Dorf Wolkenstein, dahinter muß irgendwo St.Christina liegen. Unten ist es noch dunstig. Kurz vor dem Ciampacjoch offenbart sich im Süden ein Stück der Marmolada, die dank ihres ausgedehnten Gletschers unverwechselbar ist. Wir hatten ursprünglich einmal eine Begehung der Marmolada in Erwägung gezogen, der Gedanke an Schnee und Kälte hat uns schließlich doch abgeschreckt. Hier, etwa 1000m tiefer, läßt es sich gerade so aushalten. Wenn nur dieser Wind nicht wäre.

  (ii) Die öden Ebenen des Puezmassivs
Durch einen steinernen Trog erreichen wir das Joch und betreten schließlich die Crespeina- Hochebene, eine wilde und öde Landschaft, bestehend aus abgeschmirgelten Dolomitfelsen und Parzellen kränklich aussehenden Grases, dessen Aussaat nicht mehr als einen verzweifelten Versuch des Lebens darstellt, an diesem Ort unbedingt Fuß fassen zu wollen. Ein angemessenes Szenarium für unsere erste Pause. Die Sonne hat den morgendlichen Dunst aufgelöst und brennt inzwischen mit Vehemenz. Der Himmel ist dermaßen blau, wie man ihn im dreckigen, immerfeuchten deutschen Flachland niemals zu Gesicht bekommt. Kein Wassertröpfchen, kein Sulfatkriställchen stiehlt der Rayleigh-Streuung die Schau.
So rein, so dunkelblau. Mit einem Wort: azzuro! Meine tauben Lippen verlangen immerfort nach Einfettung. Nie wieder werde ich Werbeanzeigen für Lippenstifte mit Lichtschutzfaktor 32 belächeln. Nacken und Waden haben sich auch eine pralle Röte zugelegt, das ergibt später eine todschicke Partialbräune, die sich außerordentlich gut im Schwimmbad macht.
Ein kurzer, aber atemraubender Anstieg führt uns letztlich zum Crespeinajoch (2528m), einem steinernen Tor, das einen wunderbaren Aussichtspunkt darstellt. Wieder eine gute Gelegenheit zum Pausieren. Der Rucksack scheint nicht mehr ganz so schwer wie an den beiden ersten Tagen, an was man sich nicht alles gewöhnt. Von hier aus können wir den Langkofel wieder sehen, wie er unerwartet steil und massig aus der grünen Wiese schießt. Fünf oder sechs Kilometer Luftlinie, in zwei Tagen werden wir dort sein.
Unser Pfad wird nun ziemlich eng und führt uns bergab entlang der Schotterpiste des Col Torron. Michael hält sich wacker, offenbar bringt die Kniebandage wirklich etwas. Aber der Hammerabstieg kommt erst noch. Immer mehr Menschen strömen uns entgegen, Tagestouris, die vom Grödner Joch aufgestiegen sind. Neidisch beäugen wir ihr leichtes Gepäck, bestehend aus kleinen Rucksäcken oder gar Handtäschchen.
Nach kurzem Anstieg gelangen wir zum Cirjoch (2469m). Wieder ein neues Panorami, diesmal ist es die Sella, die bereits zum Greifen nah scheint. Leider müssen wir dazu erst einmal 350m talwärts trampeln, um danach wieder 450m hoch zu stiefeln. Eine Brücke wäre hier vielleicht angemessen…

(iii) Beschwerlicher Abstieg vom Cirjoch zum Grödner Joch Durch ein Labyrinth von Felsnadeln schlängeln wir uns in die Tiefe, bis sich der Weg allmählich öffnet und den Blick auf das Grödner Joch (Passo Gardena, 2120m) freigibt. Schmerz stellt sich ein, als wir immer schön mit den Knien bremsend der steinigen Wendeltreppe nach unten folgen. Mit der hochalpinen Idylle ist es zunächst einmal vorbei, Scharen von Wanderern entgegnen uns, wir haben es längst aufgegeben, sie alle zu grüßen. Eintagsfliegen. Die Vegetation ändert sich, will sagen, es wachsen wieder anständige Pflanzen wie Kiefern und sogar ein paar Bäume. Von weitem glitzert die Dolomiten- Höhenstraße in der Sonne. Auf ihr vergnügen sich ungezählte Ausflugsbusse und Motorradfahrer damit, den lieben langen Tag die Serpentinen hoch und runter zu düsen. Entlang der Straße reihen sich ein paar wenige Häuser auf, doch nach der Einsamkeit der letzten Tage erscheint uns dieser künstliche Weiler beinahe wie eine große, neonglitzernde Stadt. Endlich unten angestolpert suchen wir uns eine Wiese zum essen und palavern. Es ist Mittag, die Zwickauer müßten schon lange hier sein, wahrscheinlich befinden sie sich bereits auf dem Weg zum Gipfel der Großen Cirspitze (2592m), neben dem Souvenirshop die Hauptattraktion des Jochs. Mit der Wunderkraft der Salami in unseren Adern wollen wir hingegen die Besteigung der Sella wagen und heute wenigstens noch die Pisciadu-Hütte ansteuern. Vom Grödner Joch aus erscheint diese Festung schier unbezwingbar, bis zu einer Höhe von 500m türmen sich die Wände des unteren Stockwerks gegen den Pass auf. Und doch muß es dort irgendwo eine Schwachstelle geben. Der Dolomiten- Highway wird sie uns weisen.
(iv) Die Erstürmung der Sella durch das Val Setus Hinter dem Restaurant, in dem Rucksack- Touristen wegen ihres peinlichen Odeurs ungern gesehen sind, stapfen wir den steilen Weg über die grüne Wiese empor, bis wir wieder felsiges Gelände erreicht haben und weiter um den Col da Masures herum bis zum Eingang in das Val Setus, das mehr eine steile Schlucht ist denn ein Tal. Was uns erwartet, ist wieder eine Schotterpiste, die es irgendwie schafft, noch steiler und strapaziöser als ihre Vorgänger zu sein. Mühsam arbeiten wir uns gegen die Schwerkraft und das rutschige Geröll durch das immer enger werdende Kar empor und erreichen nach mehreren Verschnaufpausen rechtschaffen müde die abschließende Felswand. Über einen kleinen Gletscher geht es nach links auf den Klettersteig. Klettersteige stellen sicherlich die attraktivste Variante dar, wenn es daran geht, einen Berg zu besteigen. Man hat alle Zeit der Welt, kann beim Umgreifen immer mal wieder herrlich durchatmen und gewinnt dennoch rasch an Höhe. Wo sonst bietet sich erwachsenen Menschen die Gelegenheit, nach Herzenslust auf allen Vieren herumzukrabbeln, ohne Aufsehen zu erregen? Auch die adrenalinösen Auswirkungen sollte man nicht unterschätzen. Selten ist man sich seiner eigenen körperlichen Verletzlichkeit bewußter als beim direkten Hautkontakt mit mehreren Gigatonnen Dolomitgesteins der Härte 4. Dieses durchgehend drahtseilgesicherte Exemplar einer Via Ferrata ist allerdings eher von der gutmütigeren Sorte und bei mäßigem Gegenverkehr sind wir nach etwa fünfzehn Minuten am oberen Absatz angelangt.
(v) Die Marslandschaft der Sella Dort streichen wir die Belohnung für all unsere Bemühungen ein in Gestalt eines vollkommen unirdischen Erlebnisses. Wir überblicken eine derart groteske Landschaft, wie ich sie bisher nur von den Bildern der Viking- Sonden her kannte, die Ende der Siebziger den Mars heimsuchten. Eine überraschend weitläufige und ebene Geröllwüste, die sich in dieser Form um den gesamten Sellastock herumzuziehen scheint. Felsbrocken bishin zu Automobilgröße (wer die wohl hier hingelegt hat?) säumen unseren Marsch einen kleinen Abhang hinunter, wo wir schon bald die Pisciadu-Hütte sichten, die nebst einem kleinen See idyllisch zu Füßen der Pisciadu-Spitze (Cima Pisciadu, 2985m) mitten in dieser bizarren Schrotthalde gelegen ist. Hinter dem See steigt eine Rinne Richtung Süden auf das obere Stockwerk der Sella empor, gegen den gelblichen Schotter zeichnen sich deutlich zwei Trampelpfade ab. Der linke führt zur Boehütte, unserem eigentlichen Tagesziel. Obwohl es erst früher Nachmittag ist, sind wir rechtschaffen platt und sparen uns die Tour für morgen auf.
(vi) Nudeln und Nebel auf der Pisciadu-Hütte Wir checken ein und stellen mit Bedauern fest, daß Warmduscher hier nicht auf ihre Kosten kommen. Dann gehen wir halt im See baden. Leider bemerken wir, daß am Ufer noch Schnee liegt, also brauchen wir den Bademeister gar nicht erst nach der Wassertemperatur zu fragen und entspannen uns für den Rest des Nachmittages lieber im Windschatten eines der zahlreichen Monolithen. Das Abendessen fällt schmal weil schnitzellos aus, ein harter Rückschlag für unsere Fleischdiät. Inspiriert durch soviel Askese nehme ich gleich noch meinen alkoholfreien Abend. Das verdiente Alpenglühen fällt heuer aus, denn es beginnt ein düsteres Wetter aufzuziehen. Nebelschwaden wabern geisterhaft zwischen den Ritzen und Spalten der Felswände hindurch und legen sich bleiern um Hütte. Das Wetterglück scheint uns zu verlassen. Nicht auszudenken, wenn wir morgen das Dach der Dolomiten in strömendem Regen oder gar einem Schneesturm überqueren müßten. Abwarten, vielleicht handelt es sich nur um eine allabendliche Gruselvorstellung für Touristen. Gut gelungen. Als wir im Bett liegen, ist es draußen noch nicht einmal völlig dunkel. Wir sind großzügig untergebracht, da nur zu viert mit den Bergers auf einem Zimmer. Endlich ein Anflug von Privatsphäre und Gemütlichkeit. Wenn ich heute Nacht wieder nicht schlafen kann, muß ich die Schuld wohl bei mir suchen.