Hintere Schöntaufspitze (3325 m)

Hintere Schöntaufspitze (3325 m)

07.08.2006

Da das Wetter auch am folgenden Tag noch Kälte, leichten Regen und Wolken bereithält, planen wir für heute die Hintere Schöntaufspitze. Denn dieser Gipfel gilt als „schnellster“ Ortler-Dreitausender. Von Sulden ist fällt klarer Sicht der weiße Schopf der Schöntaufspitze über dem äußeren Rosimtal ins Auge – ein kammnaher Gletscher, der den Gipfel im Norden schmückt, sorgt für das charakteristische Bild. Darunter fällt eine Felsflanke in Hochkare ab, die nahezu nie von Bergsteigern betreten werden. Die Südseite ist das krasse Gegenstück dazu. Dort ist das Gelände sanft und weiträumig –Suldenferner mit Königsspitze und dient im Winter als hochalpine Pistenregion. Das ist die Aufstiegsroute.

Wir nehmen mit der Seilbahn die ersten Höhenmeter zur Schaubachhütte auf 2580 m. Zu Fuß vom Tal in knapp zwei Stunden erreichbar. Mit leichtem Gepäck, dazu gehören heute nur Regenjacke, Stöcke, Trinkwasser und Fotoausrüstung, sollte uns heute eine Blitzbesteigung gelingen.

Bei Ankunft an der Bergstation empfängt Stefan und mich ein gewaltiges Bild: ganz nahe der wild zerklüftete Suldenferner und dahinter, scheinbar unendlich hoch die Königsspitze (3859 m) mit der Nordwand fast im Profil und dem 1100 m hohen Ostbollwerk. Selbst heute, bei nur gelegentlichen Einblicken bei Aufriss der Wolkendecke sehr beeindruckend.

Dank Seilbahn tummeln sich hier viele Turnschuhtouristen. Doch deren Ziel scheint eher die große bewirtete Madritschhütte zu sein, die wir auf halbem Weg 151 in Richtung Madritschjoch passieren. Bis dorthin ist der Weg breit und leicht begehbar, führt er doch großteils über breite Pistenschneisen. Das Joch (3123 m) erreichen wir nach nur 1,5 Stunden, das letzte Stück steil über Schutt und Schnee.

Inzwischen herrscht hier starker Wind, die Wolkendecke unmittelbar über uns. Hier eröffnet sich der Blick ins Madritschtal und Martelltal, auf dessen Osthängen wir ein weiteres unserer geplanten Ziele sehen. Über das Madritschjoch finden Wanderer eine kurze Verbindung von Martell- und Suldental – mit dem Wagen sind diese Täler ca. 80 km voneinander entfernt.

Am heutigen Tag sehen wir niemanden, der zum Gipfel hinaufsteigt, jedoch einige, die ihre Besteigung vorzeitig abbrechen. Obwohl der Wind nun in heftige Sturmböen umschlägt, entschließen wir uns zu einem Versuch. Der sonst eher leichte Weg nach Norden über den erst ausgeprägten Kamm wird durch den 30-50 cm Neuschnee zusätzlich schwierig, da fast vollkommen unkenntlich. Dank guter Ausrüstung erreichen wir nach 40 Min. über den Weg über Skipistenbreiten Rücken und eine weiträumige Gipfelfläche die Schöntaufspitze. Bei inzwischen heftigem Sturm und nur wenigen Meter Sicht müssen wir immer darauf gefasst sein, davon geweht zu werden. Stefan erinnert so eingepackt fast an einen Polarforscher im Schneesturm.

Den höchsten Punkt endlich erreicht beeindruckt uns zwar nicht die hier ansonsten herrliche Aussicht auf die Ortlergruppe, nein, die bleibt gänzlich aus. Der Gipfel überrascht uns jedoch mit einem seltenen Phänomen. Auf ca. 20 qm genau auf dem höchsten Punkt Am höchsten Punktherrscht plötzlich absolute Windstille, obwohl der Sturm drum herum geradezu tobt. Wie im Auge eines Hurrikans. Faszinierend! Eine Belohnung für den Gipfelstürmer. Wieder ein ungewöhnliches Naturerlebnis. Oder achte ich hier mehr darauf? Die Achtung vor der Natur. Das ist es! Mehr Respekt, weil ich ihr ausgeliefert bin. Und meine Sinne werden scheinbar trainiert: Sehen, hören, spüren – und speichern!

Eine mit Schnee und Eis umhüllte Messstation mit deutlich horizontaler Ausrichtung der Eisformation erinnert an arktis-ähnliche Wind- und Temperaturverhältnisse. Daher bleiben wir nicht lange. Den Rückweg vom Gipfel finden wir nun leichter über unsere eigenen windverwehten Spuren vom Aufstieg.

Zwei weitere Bergsteiger haben den Aufstieg gewagt und kommen uns auf halbem Wege entgegen. Wir erreichen bald das Madritschjoch und legen den Abstieg bis zur Madritschhütte schnell zurück, um uns hier bei einer leckeren Leberknödelsuppe aufzuwärmen.

Gut gestärkt ist die leichte Wanderung zur Schaubachhütte bei aufklarendem Himmel eine willkommene Abwechslung von nur 60 Minuten. Von dort gondeln wir ins Tal und lassen den Abend bei Pizza und Weizen in der Bärenhöhle ausklingen.

An diesem Abend bin ich sehr nachdenklich. Tagsüber ist man hier „eins“ mit Fels, Eis, Luft und Sonne. Und die Zeit scheint langsamer zu vergehen. Durch viele Eindrücke, aber auch durch Stille und Einsamkeit. Ich spüre jetzt noch den kalten Granit an den Fingerspitzen. Fühle tagsüber Furcht – und gleichzeitig Glück. Komisch, wie nahe das beieinander liegt.

Während die Anstrengung noch in allen Muskeln vibriert – planen wir schon das morgige Gipfelziel. Wie schon die Einheimische sagen: „Der Berg ruft“. Was ist das genau für ein Verlangen? Sehnsucht nach landschaftlicher Schönheit? Nähe zur Natur? Abenteuerlust? Das „eins“ werden mit den Elementen?

5. Tag: Rötlspitz/Punta Rosa (3026 m) und Monte Scorluzzo (3095 m)

© Michael Breiden 27.02.2006

Rötlspitz/Punta Rosa (3026 m) und Monte Scorluzzo (3095 m)

Rötlspitz/Punta Rosa (3026 m) und Monte Scorluzzo (3095 m)

08.08.2006

Ein weiteres Ziel führt uns am nächsten Tag bei blauem Himmel über das Trafoier Tal hinauf zum Stilftser Joch. Die berühmte Passstraße mit ihren 48 Kehren ist ein Abenteuer für sich – es ist beeindruckend, was hier in Vergangenheit in punkto Straßenbau geleistet wurde. Das Stilfser Joch (ital. Passo dello Stelvio), zweithöchster Passstraße der Alpen, verbindet Lombardei und Bormio mit dem Vinschgau. Im 1. Weltkrieg verlief hier die stark umkämpfte Ortlerfront.

Die Straße führt heute ins Sommerskigebiet auf 2758 m. Vom Joch aus, einer Hotel- und Geschäftssiedlung für die zahlreichen Sommerski-Gäste, sind mehrere hohe Gipfel erreichbar. Mindestens zwei der Gipfelziele nehmen wir uns heute vor.

Die Rötlspitz zählt zu den „raschen“ 3000er, sie nehmen wir als erste vor, nachdem wir dem Touristenrummel des Stilftser Jochs über die Dreisprachenspitze nach Norden entkommen. Bald lassen wir die Sandalentouristen hinter uns und haben die Bergruhe für uns.

Wir folgen alten Kriegspfaden (Weg Nr. 20) auf weiten Flächen des Kammes bis unter den Sattel Südfuß des Gipfels. Hier steigen wir kurz empor und folgen dann Weg 20a diagonal durch den Trümmerhang zum breiten Ostgrat. Über Schutthänge geht es weiter zum Vorgipfel, dort über Blockwerk, wo Trittsicherheit wichtig wird – schließlich an einer auffallenden Felskluft vorbei zum höchsten Punkt dieses „roten Berges“. In gut 75 Minuten haben wir den strammem Aufstieg zurückgelegt.

Der Tiefblick an der Südwand ist überwältigend. Und eindrucksvoll präsentiert sich König Ortler auch hier – aber nun mit seiner zerborstenen, mehr als 1000m hohen Westflanke. Gut sichtbar hier auch seine mächtige Eiskappe auf seiner Nordwestabdachung. Davor die Passstraße und im Süden das Skigebiet an Monte Livrio und Geisterspitze mit den durch Seilbahnen und riesigen Betonbauten erschlossenen Gletschern. Gegenüber des Jochs unser nächstes Ziel: der Monte Scorluzzo.

Zurück am Stilftser Joch lassen wir uns nicht vom Jahrmarktstrubel aufhalten, sondern stiefeln unentwegt eine Sandstraße gen Süden bis zum Sattel östlich des Scorluzzo. Hier folgen wir dem Steig zu einer Schulter empor, oft entlang ehemaliger Schützengräben des ersten Weltkriegs. Weiter über groben Schutt geht es recht steil aber einfach zum Gipfel. Auch der Monte Scorluzzo bietet uns heute eine gute Fernsicht z.B. auf das Monte Cristallo-Massiv im Süden, wohinter wir Bormio vermuten. Die Umweltsünden des Sommerskigebiets im Osten sind jetzt zum Greifen nahe.

Im Nordwesten schon in der Schweiz gelegen, erspähen wir den Piz Umbrail und planen eine Drei-Gipfel-Tour perfekt zur machen. Zurück am Stilftser Joch lassen wir diesen Plan jedoch fallen, da uns heute noch ein Gebietswechsel ins Martelltal bevorsteht. Damit verbunden ca. zwei Stunden Autofahrt mit 48 Kehren hinunter ins Trafoier Tal und weiter abwärts in den Vinschgau. Dort erwarten uns alsbald sommerliche Temperaturen und strahlend blauer Himmel, der uns bis zum nächsten Nachmittag im Martelltal erhalten bleiben soll. Das bezaubernde Tal ist durch den Zufrittsee, einem türkisblauen Stausee geprägt, der mit dem dick vergletscherten Monte Cevedale im Hintergrund malerische Fotomotive liefert. Im einzigen Ort des Tales, in Martell, übernachten wir.

6. Tag: Vordere Rotspitze (3033 m)

© Michael Breiden 15.01.2007

Vordere Rotspitze (3033 m) im Martelltal

Vordere Rotspitze (3033 m) im Martelltal

09.08.2006

Die Vordere Rotspitze (3033m) gilt als Aussichtsplattform vor der Gebirgskette zwischen Cevedale, Veneziaspitze und Hintere Rotspitze – das ideale Ziel für uns heute. Und eine körperliche Herausforderung. 1000 Höhenmeter Aufstieg! Gehzeit laut Wanderführer drei Stunden.

Bei schönstem Sonnenschein starten wir vom Parkplatz der Enzianhütte am Talende hinter dem türkisblauen Zufrittsee. Vom Parkplatz am Straßenende geht es über den klammähnlichen Fluß Plima am ehemaligen Hotel Paradies vorbei über kleine stille Bergwege. Diese schlängeln sich durch den Wald mit dem schönen Namen Paradiso di Cevedale – dann über eine Talstufe auf den folgenden „Boden“. Die Höhenmeter sind sehr schweißtreibend, dies und das schöne Wetter laden zu Pausen in weichem Gras ein, um in Ruhe den tollen Blick auf Cevedale & Co. genießen zu können.

Gegenüber blicken wir ins Madritschtal und erspähen in der Ferne die Hintere Schöntaufspitze, die wir Tage zuvor bei weit schlechterem Wetter bestiegen hatten. Weiter führt uns der Pfad Nr. 31 durch stark geliedertes, teilweise felsdurchsetztes Gelände über Stufen und kleine Einschnitte und Tälchen in das Kar westlich des Gipfels. Die letzten 100 Höhenmeter werden sehr steil und anstrengend, der Steig führt durch eine mit Stahlseil gesicherte Rinne hinauf. Der Fels und Schutt ist sehr lose und rutschig – doch endlich ist der Gipfel erreicht. Er belohnt uns mit einem einzigartigen Gipfelpanorama.

Im Osten liegt der Gramsenferner mit der Hinteren Rotspitz direkt vor uns. Rechts daneben drei weitere Gletscher am Fuße des dreigipfeligen Kamms der Venezia-Spitze. Und im Südwesten thront der vergletscherte Monte Cevedale in seiner ganzen Pracht. Mit 3.778 m dritthöchster Gigant der Ortlergruppe. Noch heute sind Reste militärischer Stellungen aus dem 1. Weltkrieg bis hoch zum Gipfelgrat sichtbar.

Himmel und Eisfelder scheinen hier ineinander überzugehen. Am Dach der Welt scheint Vieles näher beieinander. Das vergletscherte Bergmassiv strahlt Kälte während die Sonne gleißend brennt. Eine seltsame Harmonie und Ruhe bei doch landschaftlicher Wildheit und augenscheinlichem Chaos. Entsprechend die Berg- und Talfahrten der Gefühle zwischen Furcht und Freude.

Unseren 45minütigen Gipfelaufenthalt beenden wir nur, weil die Wettervorhersagen für den Nachmittag Gewitter meldeten. Trotzdem wählen wir eine andere Abstiegsroute in Richtung Südwesten, um eine abwechslungsreiche Tour perfekt zu machen. Ich muss zugeben, es war meine Idee, der sich Stefan zunächst nicht begeistert anschloss. Der hiermit verbundene Umweg sollte uns noch zum Verhängnis werden.

Nach der Steilrinne, die beinahe einem anderen Bergwanderer zum Verhängnis wird, weil wir versehentlich einen Felsbrocken lostreten, folgen wir Weg 37a über gewaltiges Blockwerk, Platten und Schutt, was einst größere Gletscher in haushohen Wällen liegen ließen. Dementsprechend führt der Weg auf und ab – nach unserem anstrengenden Aufstieg eine zusätzliche Mühe. Vorbei am kleinen Gipfel der Schranspitze, den wir kurzerhand besteigen, geht es weiter noch immer ohne merklichen Höhenverlust – bis es schließlich zu Donnern anfängt und Cevedale & Co. in dunkle Wolken gehüllt wird. Die ersten Regen und Hagelkörner treffen uns, als wir dem Pfad nun über einen sehr lang gezogenen Kamm talabwärts folgen.

Das Gewitter scheint nun direkt vor uns – es donnert und blitzt ringsherum – wir befinden uns ausgerechnet völlig schutzlos auf diesem Kamm. Glücklicherweise halten sich die Blitze in Grenzen, dafür nimmt der Regen stetig zu und hat binnen 20 Minuten die Hosen völlig durchnässt.

Wir steigen in irrsinniger Geschwindigkeit die steile Talstufe hinab und erreichen bald den Wald, dann irgendwann den rettenden Parkplatz. Das war fast schon ein Blitzabstieg. Unser Wagen ist einer der letzten dort und so verlassen wir das Tal völlig durchnässt wieder in Richtung Vinschgau.

Unser Fahrziel: das Schnalstal, wo uns morgen die Ötztaler Gipfel erwarten. Aus dem Martelltal fahren wir hinunter in den Vinschgau, dann über Latsch in Richtung Naturns im Südwesten. Dort geht’s links sehr unscheinbar ins enge Schnalstal. Dieses vom Massentourismus fast unberührte idyllische Tal bietet Zugänge in die Texelgruppe und vom Süden hier in die Ötztaler Alpen. Der bekannte Ötzi versuchte einst von diesem Tal aus die Ötztaler Gletscher nach Norden zu überqueren.

Wir bleiben heute vorerst im Tal und finden am romantischen Vernagt-Stausee nach langer Suche auch eine Unterkunft mit direktem Seeblick. Die Übernachtungsmöglichkeiten scheinen hier begrenzt, die wenigen Unterkünfte sind alle belegt, aber nach Touristen sucht man weit und breit. Heute steht Schnitzel auf der Speisekarte, eine schöne Abwechslung nach tagelanger Pizza Olio picante mit allen Folgeerscheinungen.

7. Tag: Im Hintern Eis (3270 m) und Grawand (3251 m)

© Michael Breiden 15.01.2007

Im Hintern Eis (3270 m) und Grawand (3251 m)

Im Hintern Eis (3270 m) und Grawand (3251 m)

10.08.2006

Am Morgen starten wir von Kurzras mit der Seilbahn hoch zur Bergstation Grawand. Im Lift sind wir die einzigen Wanderer, sonst nur Skifahrer und Snowboarder, denn ganzjährig gondeln hier Wintersportler ins Gletscherskigebiet des Hochjochferner nördlich der Grawand. Unser Plan für heute sah eigentlich anders aus. Von Kurzras aus wollten wir den 3000er in Nähe des bekannten Ötztaler Berges Weißkugel names „Im Hintern Eis“ besteigen. Dieser Gipfel gilt als einfach, aber anstrengend, 1200 Hm von Kurzras aus – und aufgefallen ist er uns durch seinen interessanten Namen, der ja zunächst nicht sonderlich einladend klingt. Von dort wollten wir hinüber zur Grawand, um den Abstieg dann anschließend mit der Bahn vornehmen zu können. 

Heute Morgen ist es jedoch wolkenlos, die Luft ist klar und verspricht eine gute Fernsicht. Also gehen wir die Route einfach umgekehrt, auch wenn die Grawand, dann eigentlich nicht als bestiegen gilt. Egal, die Fernsicht ist zu verlockend – und so sehen wir wenig später den Gipfel schon unmittelbar vor uns. Von der oberen Station sind es nur 50 Höhenmeter zum Scheitelpunkt – auch hier fiel letzte Nacht wieder Neuschnee, so dass der Weg recht rutschig ist, bei den Abgründen rechts und links kann es einem da schon mulmig werden. Den Gipfel teilen wir uns heute mit zwei weiteren Wanderern. Die Aussicht ist grandios. Die weiß gekrönten Ötztaler Berge erheben sich stolz vor dunklem Blau. Im Westen die spitze Weißkugel, im Norden die Wildspitze – beide mit über 3700 m Höhe. Im Osten die Finailspitze. Dahinter der berühmte Similaun, wo Bergsteiger 1991 die Gletschermumie oberhalb des Niederjochferners auf 3210m Höhe fanden („Ötzi“ suchte vor 5000 Jahren vom Schnalstal aus einen Weg über die Gletscher nach Norden).

Dazwischen unzählige weitere Zinken mit vergletscherten Hängen bis weit in die Talsohlen. Besonders die Gletscher Hochjochferner und Kreuzferner reichen noch weit hinab, wenn auch nicht mehr der Karte entsprechend, sondern leider schon weit kleiner. Im Süden entdecken wir alte Bekannte. Die Giganten Ortler, Monte Zebru, Königsspitze und Monte Cevedale überragen hier den Vinschgau. Nach ausgiebiger Film und Fotosession machen wir uns auf den Weg zum eigentlichen Tagesziel.

Laut Karte führt der Weg zur Schönen-Aussicht-Hütte eigentlich den Gletscher hinab, inzwischen aber über dessen Möränenfelder links vorbei. Ohne Neuschnee könnte man hier sogar einen weiteren Gipfel, die Graue Wand (3202 m) mitnehmen – heute ist der Pfad aufgrund des Schnees leider unauffindbar. Wir folgen daher dem unseren weiter bis zum Einstieg in den gut gesicherten und hier auch schneefreien Steig. Dieser führt uns nach vielen Kletterpassagen, die jedoch recht leicht einzustufen sind, hinab bis zum Gletschersee des Hochferners. Erstmals mache ich hier die Erfahrung, wie schnell man auf dem Hosenboden rutschen kann, wenn man auf einem verharschten Gletscher den Halt verliert. Nachdem das Gelächter nach dieser Übung sich gelegt hat, steigen wir weiter zur vor uns liegenden Rifugio Bellavista hinauf, der italienische Name unseres Zwischenziels. Von Grawand bis hierher waren es knapp 1,5 h Gehzeit.

„Bellavista“ ist nicht übertrieben. Die Hütte ist auch für Turnschuh-Wanderer direkt von Kurzras im Schnalstal aus in reichlich 2 Stunden auf guten Saumwegen erreichbar. Mit Blick auf die Eisfelder von Hochferner und Kreuzferner sowie auf die Gipfel Grawand, Graue Wand und Schwarze Wand kann hier jeder ein hochalpines Erlebnis genießen. Zudem arbeiten hier nette junge Italienerinnen. Wohl Studentinnen, die ihre Semesterferien hier verbringen – beneidenswert.

Von der Hütte aus den Markierungen und Steinmännern folgend führt der Weg über die Geröllflächen und Gletscherschliffe der Jochköfel weiter aufwärts zu den Moränenfeldern ab 3100 m Höhe. Wir sind heute nicht die einzigen Gipfelstürmer, drei Gruppen sind vor uns, zwei kommen uns entgegen. In etwa 3100 m scheint der Gipfel erreicht, zumindest scheint der dortige Steinhaufen das Ziel der Wandergruppe zu sein, die wir hier einholen. Der eigentliche Gipfel des „Im Hintern Eis“ wird hier aber erst sichtbar. Der Weg schlängelt sich nun nach links flach an den Südfuß des Gipfels und über Trümmer und Schnee steil hinauf zum höchsten Punkt. Die Mühe wird belohnt. Und es ist jetzt der siebte 3000er in dieser Woche, auf dem wir stehen.

Auf dem „Im Hintern Eis“ haben wir mit solch eisigen Temperaturen nicht gerechnet, aber wir lassen uns von einem vielleicht doch wahren Hintergrund des Namens nicht abschrecken – das Erlebnis ist überwältigend, wir saugen die Eindrücke förmlich auf: Wolkenformationen jagen vorüber. Zum Greifen nahe. Die Luft ist klar, schmeckt frisch und sauber. Absolute Stille, nur hin und wieder der Ruf einer Dohle. Die Zeit scheint still zu stehen. Und einsam ist es, aber schön einsam. Gegenüber ein gigantischer Berg, die Weißkugel mit ihrer 300 m hohen Gipfelflanke aus Fels und Eis. 3700 m hoch ist der Riese. Darunter entspringt ein mächtiger Gletscher. Spaltenreich mit wilden Eisbrüchen schiebt er sich kilometerweit talabwärts. Die Kälte des „Hintereisfernes“ lässt uns frösteln.

Von diesem Gletscher leitet sich auch der Name unseres Ziels ab, scheint aber eher irrtümlich von einem Kartografen so benannt zu sein, denn Derartiges klingt eher nach einem Flurname, bezeichnet aber nie einen Gipfel. Egal, „Im Hintern Eis“ droht wohl jedem, der sich hier zu lange aufhält. Im Gegensatz zum seltsamen Namen ist dessen Lage sehr reizvoll. Den Berg kennzeichnet im Westen und Norden eine 350 m hohe Fels- und Eisflanke, während Moränenfelder und Gletscherschliffe die Süd- und gleichzeitig Aufstiegsseite prägen. Im Norden krönt jetzt ganz nah die Wildspitze mit ihren zahlreichen Vorgipfeln das eindrucksvolle Bild. Im Westen die Weißkugel – beide über 3700 m hoch.

Eine ganz andere Welt, fast unwirklich, lebensfeindlich und fern von Allem. Fern vom Leben, das wir tief unten im Tal zurückließen. Im Schnalstal, das idyllisch, wie die Landschaft einer Modelleisenbahn unter uns liegt. Der Gipfel lässt mich absolute Freiheit fühlen, ein befreit sein von allem. Hier wird mir der Grund für die einzigartige „Bergfaszination“ bewusst. Es ist die unbeschreibliche Vielfalt der Gegensätze, die man hier mit allen geschärften Sinnen wahrnimmt. Extreme Höhen und Tiefen, Ruhe und Wildheit zugleich, Abenteuer und Entspannung, Harmonie und Chaos. Kälte und Wärme, Vergänglichkeit und Beständigkeit, Angst und Wohlbefinden. Alles extrem nahe beieinander. Das Naturerlebnis ermöglicht ein Verlassen des Alltags, wie es woanders kaum möglich ist. Und ein gestärktes Selbstbewusstsein. Ich habe mich selbst entdeckt, gleichzeitig aber auch „Urlaub“ von mir selbst gemacht. Das Ziel ist die Rückkehr ins Tal, zurück zur Familie, zurück ins alltägliche Leben – mit freiem Geist im Gepäck – und dem Gefühl, etwas oben gelassen zu haben.

Den letzten Weg zum Gipfel hinauf hatten nur noch drei andere Gipfelsuchende gewagt, nach gegenseitiger Beglückwünschung treten diese jedoch schnell wieder den Rückweg an, weil im Westen schlechtes Wetter aufzuziehen droht. Wir genießen erstmal jedoch ausgiebig den Ausblick, bevor wir den langen 1200 Hm –Abstieg angehen.

Bald erreichen wir dann über die gleiche Route wieder die Schöne-Aussicht-Hütte, die wir für eine weitere Pause nutzen. Der Abstiegsweg ist anschließend wirklich leicht, da breit angelegt. Jedoch lang und aufgrund des Höhenunterschiedes für unsere Knie sehr belastend. Unterhalb der Steinschlagspitze und des Hasenkopfs führt der Saumweg erst nach Westen auf die andere Talseite, dann dort immer oberhalb des Bacheinschnitts bleibend hinab ins Tal bei Kurzras. Die letzten Höhenmeter legen wir im schmerzenden Eilschritt zurück, um nicht unangenehm vom Gewitter, das bereits den Vinschgau hinauf grollt, überrascht zu werden. In letzter Sekunde erreichen wir trockenen Fußes den Parkplatz und retten uns in unseren Wagen. Wir beschließen nach Sulden zurückzukehren, um am nächsten Tag einen der vorgelagerten Gipfel des Ortlers zu besteigen – die Tabarettaspitze.

8. Tag: Tabarettaspitze (3128 m)

© Michael Breiden 15.01.2007

Tabarettaspitze (3128 m)

Tabarettaspitze (3128 m)

11.08.2006

Das Wetter bleibt wechselhaft. Aber wir sind guter Dinge, heute unseren neunten 3000er zu erreichen – Tabarettaspitze, schon träumen wir von zehn bis elf dieser Größenordnung, womit wir unsere Allzeit-Statistik enorm aufpoliert hätten. Wir starten mit dem Sessellift hinauf zur Bergstation Langenstein auf 2330 m. Von hier aus folgen wir erst Weg Nr. 10, dann 4a in Richtung Zwischenziel Tabarettahütte. Der Pfad führt über „frisches“ Geröll direkt unter der Unter der Ortler-Nordwandberühmten Ortler-Nordwand entlang, das teilweise erst jüngst aus der Ortler-Nordwand herab gedonnert zu sein scheint – zunächst etwa eine Stunde immer etwa auf einer Höhe. Die Tabarettahütte liegt auf einem kleinen Hügel an dessen Fuß ein großer Gedenkstein an alle Verunglückten der Ortler-Nordwand erinnert. Hier steigen wir jetzt etwa 200 Hm auf einem gut angelegten Serpentinenpfad empor, um bei der Tabarettahütte (2556 m) unseren ersten Pausensnack einzulegen.

Der anstrengende Teil erwartet uns nun über Weg Nr. 4 hinauf zur Payerhütte, die einsam hoch oben auf einem Felszipfel thront und heute nur gelegentlich ihre Verschleierung fallen lässt. Der schmale Serpentinen-Weg wirkt schon von unten sehr spektakulär. Er führt entlang der fast senkrechten Felsen über teilweise loses Geröll und Felsstufen. Hier ist Trittsicherheit gefragt, denn losgetretene Steine lösen hier leicht eine Gerölllawine aus. Plötzlich schießen tatsächlich einige Felsbrocken sehr nah an uns vorbei – dem Verursacher über uns können wir jedoch keinen Rüffel wegen Unachtsamkeit erteilen – hinter einem Felsblock weit oben blickt uns eine Ziege treudoof an und scheint sich keiner Schuld bewusst. Nach einer Stunde gelangen wir zur Bärenkopfscharte auf 2871 m, die uns jetzt den Blick hinab ins nebelige Trafoiertal und auf die Stilfserjochstraße erlaubt. Merklich haucht uns der vergletscherte Fast-4000er seine Kälte entgegen. Wir stehen zu Füßen des berühmten Ortlers.

Tabarettahütte und Sulden liegen winzig wie Märklin-Modelle tief unter uns. Die Payerhütte thront wie ein Adlerhorst in schwindelnder Höhe über uns. Bis dorthin wurde es jetzt richtig spannend. Wir haben ein Felsmassiv zu passieren, dessen glatte westliche Platte steil in den Himmel ragt. Dazu nur eine fußbreite Rinne. Dank guter Drahtseilsicherungen lässt sie sich sicher passieren – mit und ohne Sicherungsgurt. Der über 200m schaurige Tiefblick lässt uns jedoch schwindeln. Eine früher schwierigere Kletterstelle ist durch eine Holzbrücke entschärft. Der Steig endet an einem freistehenden ca. acht Meter hohen Felszacken, der an einen mahnenden Finger König Ortlers erinnert und Bergsteiger zur Vorsicht mahnt. Der Sage nach soll es sich beim Ortler um einen versteinerten Riesen handeln.

Nun sind es noch ca. 100 Höhenmeter bis zur Hütte auf steilem aber gut ausgebautem Platten-Weg. Zugang, Lage und das sich hier bietende Bild der Payerhütte mit ihrer Kapelle erinnert mehr an die uns wohlbekannten Burgruinen des Rheintales, als an eine Berghütte. Bei gutem Wetter ist diese wichtiger Ausgangspunkt für zahlreiche Seilschaften, die mit Bergführern unterwegs zum Gipfel des Eisriesen sind. Die kleine Kapelle hier soll letzten Segen für eine glückliche Rückkehr spenden.

Heute braucht ihn niemand. Nur wenige Tagesbesucher rasten in der Gaststube, zumindest sieht neben dem einzig anwesenden Bergführer niemand so aus, als wolle er heute oder überhaupt je den Ortler besteigen. Dazu ist derzeit die Wetterlage sowieso zu unbeständig. Bei einsetzendem Schneefall und momentaner Aussichtslosigkeit genehmigen wir uns zunächst eine wärmende Mittagssuppe im Stübchen.

Der Weg zur Tabarettaspitze ist von hier aus nicht weiter ausgeschildert. Wir müssten auf Verdacht ausgetretenen Pfaden in Richtung Ortler folgen über rutschigen und steilen Fels vorbei an gähnende Abgründen – mit Kletterei am oberen Stück. Da nun eine richtig dichte Nebelwand aufzieht und weiteren Schneefall mit sich bringt, treten wir den Rückweg an. Heute halt ohne Gipfel, aber immerhin ein lohnendes Ziel über 3000 m erreicht. Wir ahnen nicht, dass nur acht Tage später ganz in der Nähe bei schlechtem Wetter zwei Dortmunder Bergwanderer auf tragische Weise ihren Tod finden. Und schon im Mai fielen zwei Berchtesgadener einer Eislawine in der Nordwand zum Opfer. Wetter und Berg sollten hier nicht herausgefordert werden.

Wir kehren gesund und glücklich auf gleichem Pfad zurück ins Tal. Der Rückweg kommt uns sogar recht kurz vor – vermutlich, weil wir uns inzwischen ausgesprochen fit und trainiert fühlen. Noch beim Abstieg planen wir für morgen unseren nächsten Gipfel. Doch dazu soll es nicht mehr kommen. Der Rückweg ins Suldental geht bis zur Tabarettahütte komplett über die Aufstiegsroute. Von dort aus wieder hinüber zum Sessellift Langenstein und schließlich hinab ins Tal, wo uns heute wieder eine leckere Pizza in der Bärenhöhle erwartet – ein letztes Mal. Aber wir kommen wieder – irgendwann – und nehmen uns den Chef vor, den König Ortler.

Suldental, 9. Tag: Der Morgen ist kühl und verregnet. Alle Hoffnungen auf Wetterbesserung schwinden. Wir setzen auf Plan B, der uns fort aus Südtirol auf dem Heimweg sogar noch ein bis zwei Gipfel in den Ötztaler Alpen bescheren könnte. Das wäre noch einmal ein Highlight. Doch leider zeigen sich Stunden später auch die Österreicher Berge von ihrer fiesesten Seite, so dass wir den Alpen nun gänzlich den Rücken kehren. Aber wir sind mit dem Erreichten zufrieden. Elf Gipfel, davon acht 3000er in nur acht Tagen. Das hätten wir vor einer Woche nicht für möglich gehalten. Und der Sommer 2007 kommt bestimmt.

© Michael Breiden 15.01.2007