09.08.2006

Die Vordere Rotspitze (3033m) gilt als Aussichtsplattform vor der Gebirgskette zwischen Cevedale, Veneziaspitze und Hintere Rotspitze – das ideale Ziel für uns heute. Und eine körperliche Herausforderung. 1000 Höhenmeter Aufstieg! Gehzeit laut Wanderführer drei Stunden.

Bei schönstem Sonnenschein starten wir vom Parkplatz der Enzianhütte am Talende hinter dem türkisblauen Zufrittsee. Vom Parkplatz am Straßenende geht es über den klammähnlichen Fluß Plima am ehemaligen Hotel Paradies vorbei über kleine stille Bergwege. Diese schlängeln sich durch den Wald mit dem schönen Namen Paradiso di Cevedale – dann über eine Talstufe auf den folgenden „Boden“. Die Höhenmeter sind sehr schweißtreibend, dies und das schöne Wetter laden zu Pausen in weichem Gras ein, um in Ruhe den tollen Blick auf Cevedale & Co. genießen zu können.

Gegenüber blicken wir ins Madritschtal und erspähen in der Ferne die Hintere Schöntaufspitze, die wir Tage zuvor bei weit schlechterem Wetter bestiegen hatten. Weiter führt uns der Pfad Nr. 31 durch stark geliedertes, teilweise felsdurchsetztes Gelände über Stufen und kleine Einschnitte und Tälchen in das Kar westlich des Gipfels. Die letzten 100 Höhenmeter werden sehr steil und anstrengend, der Steig führt durch eine mit Stahlseil gesicherte Rinne hinauf. Der Fels und Schutt ist sehr lose und rutschig – doch endlich ist der Gipfel erreicht. Er belohnt uns mit einem einzigartigen Gipfelpanorama.

Im Osten liegt der Gramsenferner mit der Hinteren Rotspitz direkt vor uns. Rechts daneben drei weitere Gletscher am Fuße des dreigipfeligen Kamms der Venezia-Spitze. Und im Südwesten thront der vergletscherte Monte Cevedale in seiner ganzen Pracht. Mit 3.778 m dritthöchster Gigant der Ortlergruppe. Noch heute sind Reste militärischer Stellungen aus dem 1. Weltkrieg bis hoch zum Gipfelgrat sichtbar.

Himmel und Eisfelder scheinen hier ineinander überzugehen. Am Dach der Welt scheint Vieles näher beieinander. Das vergletscherte Bergmassiv strahlt Kälte während die Sonne gleißend brennt. Eine seltsame Harmonie und Ruhe bei doch landschaftlicher Wildheit und augenscheinlichem Chaos. Entsprechend die Berg- und Talfahrten der Gefühle zwischen Furcht und Freude.

Unseren 45minütigen Gipfelaufenthalt beenden wir nur, weil die Wettervorhersagen für den Nachmittag Gewitter meldeten. Trotzdem wählen wir eine andere Abstiegsroute in Richtung Südwesten, um eine abwechslungsreiche Tour perfekt zu machen. Ich muss zugeben, es war meine Idee, der sich Stefan zunächst nicht begeistert anschloss. Der hiermit verbundene Umweg sollte uns noch zum Verhängnis werden.

Nach der Steilrinne, die beinahe einem anderen Bergwanderer zum Verhängnis wird, weil wir versehentlich einen Felsbrocken lostreten, folgen wir Weg 37a über gewaltiges Blockwerk, Platten und Schutt, was einst größere Gletscher in haushohen Wällen liegen ließen. Dementsprechend führt der Weg auf und ab – nach unserem anstrengenden Aufstieg eine zusätzliche Mühe. Vorbei am kleinen Gipfel der Schranspitze, den wir kurzerhand besteigen, geht es weiter noch immer ohne merklichen Höhenverlust – bis es schließlich zu Donnern anfängt und Cevedale & Co. in dunkle Wolken gehüllt wird. Die ersten Regen und Hagelkörner treffen uns, als wir dem Pfad nun über einen sehr lang gezogenen Kamm talabwärts folgen.

Das Gewitter scheint nun direkt vor uns – es donnert und blitzt ringsherum – wir befinden uns ausgerechnet völlig schutzlos auf diesem Kamm. Glücklicherweise halten sich die Blitze in Grenzen, dafür nimmt der Regen stetig zu und hat binnen 20 Minuten die Hosen völlig durchnässt.

Wir steigen in irrsinniger Geschwindigkeit die steile Talstufe hinab und erreichen bald den Wald, dann irgendwann den rettenden Parkplatz. Das war fast schon ein Blitzabstieg. Unser Wagen ist einer der letzten dort und so verlassen wir das Tal völlig durchnässt wieder in Richtung Vinschgau.

Unser Fahrziel: das Schnalstal, wo uns morgen die Ötztaler Gipfel erwarten. Aus dem Martelltal fahren wir hinunter in den Vinschgau, dann über Latsch in Richtung Naturns im Südwesten. Dort geht’s links sehr unscheinbar ins enge Schnalstal. Dieses vom Massentourismus fast unberührte idyllische Tal bietet Zugänge in die Texelgruppe und vom Süden hier in die Ötztaler Alpen. Der bekannte Ötzi versuchte einst von diesem Tal aus die Ötztaler Gletscher nach Norden zu überqueren.

Wir bleiben heute vorerst im Tal und finden am romantischen Vernagt-Stausee nach langer Suche auch eine Unterkunft mit direktem Seeblick. Die Übernachtungsmöglichkeiten scheinen hier begrenzt, die wenigen Unterkünfte sind alle belegt, aber nach Touristen sucht man weit und breit. Heute steht Schnitzel auf der Speisekarte, eine schöne Abwechslung nach tagelanger Pizza Olio picante mit allen Folgeerscheinungen.

7. Tag: Im Hintern Eis (3270 m) und Grawand (3251 m)

© Michael Breiden 15.01.2007