08.08.2006

Ein weiteres Ziel führt uns am nächsten Tag bei blauem Himmel über das Trafoier Tal hinauf zum Stilftser Joch. Die berühmte Passstraße mit ihren 48 Kehren ist ein Abenteuer für sich – es ist beeindruckend, was hier in Vergangenheit in punkto Straßenbau geleistet wurde. Das Stilfser Joch (ital. Passo dello Stelvio), zweithöchster Passstraße der Alpen, verbindet Lombardei und Bormio mit dem Vinschgau. Im 1. Weltkrieg verlief hier die stark umkämpfte Ortlerfront.

Die Straße führt heute ins Sommerskigebiet auf 2758 m. Vom Joch aus, einer Hotel- und Geschäftssiedlung für die zahlreichen Sommerski-Gäste, sind mehrere hohe Gipfel erreichbar. Mindestens zwei der Gipfelziele nehmen wir uns heute vor.

Die Rötlspitz zählt zu den „raschen“ 3000er, sie nehmen wir als erste vor, nachdem wir dem Touristenrummel des Stilftser Jochs über die Dreisprachenspitze nach Norden entkommen. Bald lassen wir die Sandalentouristen hinter uns und haben die Bergruhe für uns.

Wir folgen alten Kriegspfaden (Weg Nr. 20) auf weiten Flächen des Kammes bis unter den Sattel Südfuß des Gipfels. Hier steigen wir kurz empor und folgen dann Weg 20a diagonal durch den Trümmerhang zum breiten Ostgrat. Über Schutthänge geht es weiter zum Vorgipfel, dort über Blockwerk, wo Trittsicherheit wichtig wird – schließlich an einer auffallenden Felskluft vorbei zum höchsten Punkt dieses „roten Berges“. In gut 75 Minuten haben wir den strammem Aufstieg zurückgelegt.

Der Tiefblick an der Südwand ist überwältigend. Und eindrucksvoll präsentiert sich König Ortler auch hier – aber nun mit seiner zerborstenen, mehr als 1000m hohen Westflanke. Gut sichtbar hier auch seine mächtige Eiskappe auf seiner Nordwestabdachung. Davor die Passstraße und im Süden das Skigebiet an Monte Livrio und Geisterspitze mit den durch Seilbahnen und riesigen Betonbauten erschlossenen Gletschern. Gegenüber des Jochs unser nächstes Ziel: der Monte Scorluzzo.

Zurück am Stilftser Joch lassen wir uns nicht vom Jahrmarktstrubel aufhalten, sondern stiefeln unentwegt eine Sandstraße gen Süden bis zum Sattel östlich des Scorluzzo. Hier folgen wir dem Steig zu einer Schulter empor, oft entlang ehemaliger Schützengräben des ersten Weltkriegs. Weiter über groben Schutt geht es recht steil aber einfach zum Gipfel. Auch der Monte Scorluzzo bietet uns heute eine gute Fernsicht z.B. auf das Monte Cristallo-Massiv im Süden, wohinter wir Bormio vermuten. Die Umweltsünden des Sommerskigebiets im Osten sind jetzt zum Greifen nahe.

Im Nordwesten schon in der Schweiz gelegen, erspähen wir den Piz Umbrail und planen eine Drei-Gipfel-Tour perfekt zur machen. Zurück am Stilftser Joch lassen wir diesen Plan jedoch fallen, da uns heute noch ein Gebietswechsel ins Martelltal bevorsteht. Damit verbunden ca. zwei Stunden Autofahrt mit 48 Kehren hinunter ins Trafoier Tal und weiter abwärts in den Vinschgau. Dort erwarten uns alsbald sommerliche Temperaturen und strahlend blauer Himmel, der uns bis zum nächsten Nachmittag im Martelltal erhalten bleiben soll. Das bezaubernde Tal ist durch den Zufrittsee, einem türkisblauen Stausee geprägt, der mit dem dick vergletscherten Monte Cevedale im Hintergrund malerische Fotomotive liefert. Im einzigen Ort des Tales, in Martell, übernachten wir.

6. Tag: Vordere Rotspitze (3033 m)

© Michael Breiden 15.01.2007