Von Kühen und Klämmen

09.08.2016

6.Tag: Von Kühen und Klämmen

Heute haben wir es mit dem Frühstück nicht eilig, regnet es doch aus allen Rohren. Mit Wifi auf dem Zimmer und mit Smartfon und Tablet bewaffnet nutzen wir die Gelegenheit, die Regenwolken auf dem Live-Radar im Internet zu verfolgen und uns auf Youtube Videos von vermeintlichen Kuhübergriffen anzuschauen. Diese „Angriffe“ nehmen sich ziemlich harmlos aus und zeugen mehr von der Hysterie der menschlichen „Opfer“ als von der Bösartigkeit der Rindviecher. Wir erinnern uns, dass vor zwei Jahren eine Wanderin in den Alpen von Kühen tödlich verletzt wurde. Im Kielwasser dieses Ereignisses begann die Presse damals, in ihrer üblichen Art von einer angeblichen Flut von bovinen Übergriffen zu berichten („Wieder ein Wanderer von Kühen angegriffen“) und ein Szenario gleich Hitchcock’s „Die Vögel“ heraufzubeschwören, in der die geknechteten Nutztiere sich gegen ihre Unterdrücker erheben. Man darf der Journaille nicht einmal einen Vorwurf machen – schlechte und bedrohliche Nachrichten verkaufen sich nun einmal besser als gute, denn sie erzeugen beim Konsumenten eine weitaus stärkere emotionale Reaktion. Dies ist evolutionsbiologisch einfach zu erklären, denn negative Nachrichten signalisieren potentielle Gefahr, der es zu begegnen gilt. Versetzen wir uns zurück in die Morgendämmerung der Menschheit, 200.000 Jahre in die Vergangenheit. Frau Feuerstein, die bereits seit dem frühen Morgen auf den Beinen ist und Pilze gesammelt hat, weckt Herrn Feuerstein gegen Mittag mit den Worten „Schatz, steh auf, die Sonne scheint“. Das beeindruckt den Herrn der Schöpfung natürlich wenig, denn in Afrika scheint zumeist die Sonne. Frau Feuerstein merkt, dass sie schärfere Geschütze auffahren muss, um den Herrn der Schöpfung doch noch zum Aufstehen zu motivieren, also ruft sie „Schatz, da schleicht ein Säbelzahntiger vor der Höhle herum“. Von solch einer Art Journalismus möchten sich die Alpenreporter an dieser Stelle ausdrücklich distanzieren. Hier folgt unser Standpunkt zu dieser Thematik: Kühe sind nützliche Tiere, sie geben uns Milch, Fleisch und Leder, halten den Rasen kurz und legen lustige Tretminen. Kühe sind nicht die schlimmsten Killer auf diesem Planeten, das sind in aufsteigender Reihenfolge (3) Bakterien und Viren (2) Langeweile (1) der Mensch. Natürlich gibt es auch unter den Rindern solche und solche und nicht alle sind Frohnaturen, die mit ihrem schweren Los locker umzugehen verstehen. Ich hätte auch so meine Probleme, wenn mir fremde Wesen periodisch an den Nippeln herumzögen und die Glocke um meinen Hals bei jeder kleinen Bewegung einen ohrenbetäubenden Radau machte. Ganz zu schweigen von den Fliegen und Bremsen, die unentwegt um mich herumschwirrten. Deshalb sollte man Kühe wie alle anderen fühlenden Wesen mit Respekt behandeln. Genau wie wir versuchen sie nur, die tägliche Last zu schultern, die das Leben ihnen aufbürdet. Schließlich raffen wir uns auf und fahren nach Stans im Inntal, wo wir die Wolfsklamm besuchen. Klämme haben sich bei uns mittlerweile zu unterhaltsamen Ausweichzielen bei Schlechtwetter gemausert, wird man bei ihrer Begehung sowieso nass. Anschließend shoppen wir in Innsbruck. Mika kauft sich eine neue Regenjacke (seine alte war angeblich nicht ganz dicht). Sie ist in schickem Signalgrün gehalten. Nun werde ich ihn niemals mehr im Nebel verlieren.

7.Tag: Serles

© Stefan Maday 10.09.2016

Serles

10.08.2016

7.Tag: Serles

Gipfel:                        Serles (2717m) Ausgangspunkt:         Bergstation der Hochserlesbahn (1600m) Höhendifferenz:         1200m Gesamtdauer:           8h Ausrüstung:               Bergwanderung (Rucksack) Bedingungen:             Nebel, Schnee
Die (offenbar weibliche) Serles ist wohl neben dem Habicht und den Gletschern am Zuckerhütl das Aushängeschild des Stubaitals. Sie ist schon von Innsbruck aus sichtbar und spätestens bei ihrem Anblick von der Stefansbrücke an der Brennerstraße haben wir uns in ihre perfekte Form verliebt. Vom Brenner her blickt man auf den Nord- und den Nordostgrat, die den spitzen Hauptgipfel einrahmen. Von Südwesten führt ein technisch wenig anspruchsvoller Bergweg auf die Gipfelrampe. Der „heilige Berg Tirols“ gilt als einer der schönsten Aussichtsgipfel der Stubaier Alpen. Kein Wunder also, dass unsere Wirtin heute morgen beim Frühstück die Nase rümpfte, als wir die Serles als heutiges Tagesziel deklarierten. Denn das Wetter zeigt sich nach dem gestrigen Trauerspiel immer noch trübe und bedeckt. Doch einen weiteren Tag ohne Gipfelversuch halten wir nicht aus. Außerdem besteht immer die Hoffnung, dass der Himmel aller Vorhersagen zum Trotze doch noch aufzieht. Eine gute Gelegenheit, meine „Fensterhypothese“ zu testen, die da sagt: an einem nebligen Tag besteht die beste Chance auf einen klaren Gipfelblick um die Mittagszeit, wenn die Sonne am höchsten steht. Generell steigt die Wolkengrenze zum Mittag hin an, um sich dann wenig später wieder abzusenken. Diese Regelmäßigkeit ist mir während vieler Bergwanderungen auf den britischen Inseln aufgefallen, wo selbst die muckeligsten 800m Gipfel an 9 von 10 Tagen in Wolken liegen. Wir sehen also zu, dass wir um 9 Uhr in Mieders an der Talstation der Serlesbahn stehen. Noch herrscht Trübsal, doch wir setzen all unsere Hoffnung auf das „Mittagsfenster“. An der Bergstation nehmen wir zur Kenntnis, dass unser (gratis-)Rückticket uns alternativ zu einer Talfahrt mit dem „Serlesblitz“, der Sommerrodelbahn, berechtigt – das könnte ein spektakulärer Ausklang unserer Tour werden. Bevor die eigentliche Bergtour beginnt, heißt es, zunächst einen Hatscher zum Kloster Maria Waldrast (1638m) über eine von Schreinen gesäumte Forststraße zu absolvieren. Hier genehmigen wir uns eine erste Pause. Einige italienische Damen füllen ihre Trinkflaschen mit Wasser aus einer Heilquelle. Wir begrüßen sie standesgemäß mit den Worten „buon giorno“ und haben damit leider auch schon unsere gesamten Italienischkenntnisse ausgereizt. Ein Schild klärt uns über den Umstand auf, dass das Wasser energetisch rechtsdrehend sei und auch gerne zur Bachblütentherapie eingesetzt werde. Scheint alles pseudowissenschaftlich recht fundiert zu sein, also greifen auch wir zu unseren Flaschen. Ich pumpe direkt einmal einen halben Liter von dem Nass ab und – was soll ich sagen – plötzlich ist mein Durst wie durch ein Mirakel weggeblasen! Hier am Brunnen startet auch der ausgeschilderte Steig zur Serles. Nach zwanzig Minuten Anstieg durch ein Waldstück erreichen wir bald den Serles-Panoramaweg, eine lange Traverse durch Latschen unterhalb der SO-Flanke des Berges. Alle paar hundert Meter wird der Weg durch ausgewaschene Schotterrinnen unterbrochen. Wir legen eine zweite Pause ein. Als wir uns eine halbe Stunde später wieder auf den Hacken befinden, vermisse ich plötzlich meine Kamera! Ich Schussel muss sie am letzten Pausenplatz zurückgelassen haben… Wir marschieren zurück und finden sie dort nicht. Denn sie befand sich tatsächlich die ganze Zeit über in der Tasche meiner Fleecejacke. Sie ist so klein, dass ich sie beim Suchen glatt übersehen hatte. Ich muss an unsere ersten gemeinsamen Dolomitentouren denken, auf denen ich stets meine analoge Spiegelreflexkamera dabei hatte, die noch das Gewicht und die Ausmaße meiner Steigeisen hatte. Zumindest konnte ich die nicht in den Untiefen meiner Jackentasche verlieren. Der arme Mika ist umsonst mit zurückmarschiert. Durch diese Aktion haben wir wenigstens 20 Minuten verloren und unsere Aussicht, das Mittagsfenster zu treffen, die sowieso nicht rosig war, ist damit noch dünner geworden. Denn tatsächlich hat sich der Nebel kontinuierlich gelichtet, der gute Blaser (2241m) im Süden ist schon aufgezogen. Wir gehen durch ein Gatter und ein Bimmeln im Gebüsch verrät uns, dass wir uns ab jetzt im Feindesland befinden. Jeden Augenblick erwarten wir, dass die braununiformierte, gehörnte Infanterie aus dem Hinterhalt über uns herfällt. Doch die Viecher lassen uns dieses Mal gewähren. Die Wolkengrenze steigt kontinuierlich an, vor uns zieht die schneebedeckte Lämpermahdspitze (2595m) auf und als der Pfad endlich nach Westen hinauf zum Serlesjöchl biegt, quittieren wir den Anblick eines Fleckens blauen Himmels mit Verzückung – da ist es, wie bestellt, das Mittagsfenster. Leider befinden wir uns wenigstens eine Stunde vom Gipfel der Serles entfernt – wird das Fenster bis dahin halten? Als wir die letzten, beschwerlichen Meter zum Joch durch den weichen Schnee stiefeln, wird uns klar, dass wir zu spät kommen. Das Fenster hat sich wieder geschlossen, der Nebel ist zurückgekehrt. Geisterhaft wabert er um die Rote Wand herum, eine absurde Zinne auf dem Grat zwischen Serles und Lämpermahd. Am Joch haben wir uns eine feuchte und kalte Rast verdient. Die Stimmung ist gedrückt, doch wir beschließen, den Gipfel der Serles zu ‚machen‘, wo wir nun einmal hier sind. Es scheint nutzlos, mit Umständen zu hadern, die sich unserem Einfluss entziehen. Der Gipfelanstieg erweist sich auch unter den heutigen Bedingungen als wenig schwierige Bergwanderung. Gleich zu Beginn gilt es, eine Felsstufe mittels einer kleinen Leiter und einigen Seilsicherungen zu überwinden. Der Pfad führt kurzfristig ausgesetzt am Grat entlang, bis wir die angesprochene Gipfelrampe erreicht haben, auf der er in vielen Serpentinen hinauf bis kurz unterhalb des Gipfels zieht, wo noch ein paar kurze Kletterstellen auf uns warten. Den Fußspuren zufolge sind wir dann doch nicht die ersten oder einzigen Besteiger am heutigen Tage. Da sind wir also, auf dem Erste-Klasse Aussichtsgipfel über dem Stubaital – doch ohne seine phosphoriszierende Grashüpferjacke vermochte ich den Mika neben mir kaum zu erkennen. Der Abstieg verläuft ereignislos auf dem gleichen Weg. Wir gewinnen das Rennen mit dem Feierabend der Bergbahnbediensteten, doch leider ist die Sommerrodelbahn am heutigen Tage geschlossen, wohl weniger wegen des Wetters als wegen fehlender Touristen.  

8.Tag: Rinnenspitze

© Stefan Maday 10.09.2016

Rinnenspitze

Rinnenspitze

11.08.2016

8.Tag: Rinnenspitze

Gipfel:                        Rinnenspitze (3000m) Ausgangspunkt:         Oberrißalm im Oberbergtal (1750m) Höhendifferenz:         1250m Gesamtdauer:           9h Ausrüstung:               Bergwanderung (Rucksack) Bedingungen:             Schnee
Es ist Donnerstag und unser vorletzter, geplanter Tourentag. Der Wetterbericht verspricht relativ gutes Wetter – für heute. Wir haben uns für die Rinnenspitze entschieden, unseren 5. und vorläufig letzten der „Stubai Seven“. Für das Zuckerhütl scheinen uns die Bedingungen nicht mehr gut genug zu werden und für den Habicht reicht die Zeit nicht mehr. Gleiches gilt für den Hochfeiler im Zillertal. Den haben wir schon seit Jahren auf der Liste, wollten ihn immer noch zum Schluss „dranhängen“, doch stets hat uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auch in diesem Jahr war wieder einmal der Wunsch die Tochter der Porzellankiste. Das allwissende Internet beschreibt den Normalweg auf die Rinnenspitze als für den trittsicheren und schwindelfreien Berggänger unschwieriges Unterfangen. Mit exakt 3000m Höhe ist er in jedem Fall der niedrigste Dreitausender, den wir je angegangen sind. Kurioserweise starten wir nicht mit einer kostenlosen Bergbahnfahrt, sondern bringen uns mit dem Auto auf der Fahrt durch das Oberbergtal, einem Nebental des Stubaitales, auf Starthöhe. Am Parkplatz der Oberrißalm (1750m) berappen wir einen Fünfer und bemerken mit leichtem Unbehagen, dass es während der Nacht wieder einmal geschneit haben dürfte, denn dort, wo der Nebel sich herablässt, kurz aufzuziehen, gibt er den Blick auf weiße Hänge frei. „Schnee bis in tiefe Lagen“, kommentiert Mika trocken. Was dies wohl für unsere angeblich leichte Dreitausendertour bedeuten mag? Immerhin sind heute morgen viele Leute unterwegs auf dem Weg zur Franz-Senn-Hütte (2149m), die überall bei meinen Recherchen auftauchte, da sie den Stützpunkt für viele interessante Gipfelziele darstellt, u.a. für die Ruderhofspitze (3474m). Die ersten 200 Hm über grüne Serpentinen lassen die bleierne Morgenkälte schnell vergessen. Nach einem Stündchen passieren wir die Alpein Alm (2010m). Nun ist es nicht mehr weit bis zur FS-Hütte, vorbei an einer tiefen Schlucht, in die sich der Oberbergbach in jahrtausendelanger Kleinarbeit hineingefressen hat. Die Hütte ist ein Ungetüm mit 5 Stockwerken. Wir sehen von einer Hütteneinkehr ab, wir wollen nicht zu viel Zeit verlieren und auf gar keinen Fall das „Fenster“ für unsere Gipfelbesteigung verpassen. Wir legen nur eine kurze Rast auf der Wiese hinter der Hütte ein. Die tiefhängenden Wolken haben in der Tat an Höhe gewonnen und fangen an, aufzubrechen. Nun sehen wir, warum die FS-Hütte so überaus populär ist – ihre Lage und die Aussicht sind schlichtweg unbeschreiblich. Vor uns öffnet sich das Hochtal hin zu spektakulären Spitzen und Gletschern – der Neuschnee verhilft dabei natürlich der Dramatik ein bisschen auf die Beine. Links führt ein kleines Steiglein auf den obligatorischen Hüttengipfel, der eigentlich nur das Gratende der Sommerwand darstellt. Im Nordwesten lugt für einen kurzen Augenblick ein weißes Spitzlein hervor, das laut Karte im Grunde nur unsere Rinnenspitze sein kann. Über die Brücke geht es auf die Nordseite des Baches. Der Weg entfernt sich zunächst von unserem Ziel, um dann nach anfänglichem Höhengewinn auf einem Absatz wenig steil nach Westen zu führen. Drei Damen in Klettersteigmontur kommen uns entgegen, sie sind soeben den Edelweißsteig hinaufgekraxelt, die Hüttenferrata. Nach einer Weile kommt die Rinnenspitze ins Blickfeld in Form eines kessen ungleichseitigen Dreiecks, das nach Süden steil abfällt, nach Norden jedoch einen sanft abfallenden Grat abwirft. Die Aufstiegsroute drängt sich unseren erfahrenen Augen sofort auf – eine schneebedeckte Schneise zieht sich diagonal vom südlichen Fuß hinauf in Richtung Nordostgrat. Auf etwa 2500m legen wir eine Pause ein. Hier liegt schon eine geschlossene, wenn auch seifige Schneedecke. Man darf gespannt sein, wie es weiter oben aussieht… Als wir anschließend nur wenige Meter weiter getrottet sind, entdecken wir auf dem höchsten Punkt unseres Schotterhügels eine hölzerne Sitzgarnitur. Dies wäre ein feiner Pausenplatz gewesen. Wir überqueren einen flachen Teich mittels der arrangierten Trittsteine und beginnen bald mit dem finalen Aufstieg. Ich finde eine Sonnenbrille, die jemand strategisch sichtbar auf einem Stein platziert hat. Ich lasse sie liegen, der Eigentümer könnte immer noch vor uns auf dem Berg unterwegs sein. Wir ignorieren die Abzweigung nach links zum Rinnensee und stiefeln über feuchten Schnee teils recht exponiert die Boulderrampe hinauf. Unter trockenen Bedingungen macht dies sicherlich mehr Spaß. Letztlich endet die Rampe unerwartet etwa 30m unterhalb des Gipfelgrates. Ein mit Trittklammern und Stahlseilen üppig ausgelegter Klettersteig führt die steile Wand hinauf. Eine ganze Schar von Menschen ist im Abstieg begriffen, vorsichtig klettern sie einer nach dem anderen den feuchten, flechtenübersäten Fels ab. Ebenso wie die Absteiger haben auch wir kein Klettersteigset im Gepäck. Als die Bahn endlich frei wird, beginne ich, mich am Seil hinaufzuhangeln. Nach einer Weile stellt sich die Wand als machbar heraus, der feuchte Fels ist nicht so prekär, wie er in der glitzernden Sonne zunächst erschien. Bald haben wir den Grat erreicht. Der erweist sich als sehr luftig. Manche Stellen sind seilgesichert, andere nicht, was sich unter den heutigen Bodenbedingungen als unangenehm herausstellt. Ein Rutscher wäre hier fatal. Vorsichtig weiter, an manchen Stellen wage ich kaum, mich komplett aufzurichten, sondern laufe geduckt wie ein Frontsoldat. Eine etwas unangenehme, vereiste Stelle, dann auf kurzem Weg auf der Ostflanke des Grates hinauf die letzten Meter zum Gipfel. Der ist nicht geräumiger als der Rest des Grates. Plötzlich bemerke ich einen Widerstand an meinem Rucksack, dann ein metallisches Scheppern. Als ich mich umblicke, sehe ich meinen Teleskopstock, den ich sicher an der Außenseite meines Ruckis arretiert glaubte, den Osthang hinunterkullern. Offensichtlich hatte sich der Stock im Spannkabel des Gipfelkreuzes verfangen und hatte sich gelöst. Wir legen erst einmal unsere verdiente Gipfelrast ein und versuchen, die Aussicht zu genießen. Es gibt unendlich viel zu entdecken, auch wenn viele Wolken unterwegs sind. Tief unter unseren Füßen erstreckt sich der Lüsener Ferner wie ein makellos weißer Sandstrand. Im Norden glauben wir einmal, unsere Nummer drei, den Similaun, auszumachen. Im Südwesten schält sich kurz eine gigantisch aussehende Spitze aus dem Nebel, laut Karte handelt es sich wahrscheinlich um den Schrankogel (3497m), seines Zeichens der zweithöchste Berg in den Stubaier Alpen nach dem Zuckerhütl. Die ganz große Gemütlichkeit mag nicht aufkommen, wie schon auf dem Gipfel des Wilden Freiger ist es kalt und wir haben noch einen Job zu erledigen, der unsere Gedanken nicht so recht wieder loslassen will – nämlich das Alles heil wieder hinabzusteigen. Als erstes versuche ich, meinen Stock wiederzubekommen. Er liegt verführerisch nahe, nur wenige Meter unterhalb des Gipfels. Allerdings in einer heiklen Position und ich stelle mir die Frage, ob es wohl rational ist, für ein Stück Aluminium seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Schließlich gebe ich auf. Doch Mika gibt sich nicht geschlagen und am Ende schafft er es tatsächlich, in einer kühnen Aktion das schon verloren geglaubte Gerät doch noch zu bergen. Auf unserem Weg nach unten lassen wir alle Vorsicht walten, wissen wir doch zu gut, dass die Mehrzahl aller Bergunfälle beim Abstieg passiert, wenn entweder die Spannung abgefallen ist und der Müdigkeit das Feld überlassen hat oder wenn Zeitdruck zu Fehlern verleitet. Von beidem kann in unserem Fall heute keine Rede sein. Letztlich gestaltet sich der Abstieg nicht schwerer als der Aufstieg und bald trotten wir wieder langsam die Rampe hinunter. Die Sonnenbrille liegt immer noch an der ursprünglichen Stelle. Ich beschließe, sie mitzunehmen und an der Franz Senn-Hütte abzugeben. Als wir später dort auf einen Tee einkehren, habe ich mein nobles Vorhaben schlichtweg vergessen. Sollte also jemand seine Sonnenbrille zu dieser Zeit am Fuße der Rinnenspitze verloren haben, schicke ich sie ihm gerne auf dem Postwege, vorausgesetzt er/sie kann mir Fabrikat und Seriennummer nennen und mir eine Kopie des Kaufbeleges zusenden. Die Gläser sind leider recht verkratzt und ich werde sie wohl bald in den Müll werfen.

9.Tag: Großer Trögler

© Stefan Maday 10.09.2016

Großer Trögler

12.08.2016

9.Tag: Großer Trögler

Gipfel:                        Großer Trögler (2902m) Ausgangspunkt:         Dresdener Hütte (1308m) Höhendifferenz:         600m Gesamtdauer:           5h Ausrüstung:               Bergwanderung (Rucksack) Bedingungen:            Nebel, Nieselregen
Da ist er also, unser letzter kompletter Urlaubstag im Stubaital für dieses Jahr. Das ging wieder einmal viel zu schnell. Der Wetterbericht verspricht nicht viel Gutes, viele Wolken und gelegentlichen Niederschlag. Ab morgen – unserem Abreisetag – lacht uns das Sonnensymbol auf sämtlichen Onlineprognosen für Neustift an. Blauer Himmel für die nächsten zwei Wochen. Wir freuen uns sehr für die Gäste, die nach uns kommen… Wie könnte man diesen tristen Tag besser nutzen als einen weiteren illustren Aussichtsberg zu verschleudern. Der Große Trögler ist ein dem Stubaier Gletscherparadies vorgelagerter Felsberg und mit Hilfe der Gletscherbahn von der Dresdener Hütte aus leicht zu erreichen. Auch wenn wir uns am heutigen Tage nicht viel zu sehen erhoffen, möchten wir dennoch die Gelegenheit nutzen, einen Gipfel zu besteigen. Und ein bisschen Aufklärung für morgen zu betreiben. Die Idee ist, morgen früh vor unserer endgültigen Heimreise noch eine Minitour einzulegen. Im Sonnenschein. Die Schaufelspitze (3332m) böte sich da an, ist ihr Gipfel doch nur ein Katzensprung von der Bergstation der Gletscherbahn entfernt. Pünktlich am späten Morgen parkt Mika sein Kraftfahrzeug auf dem Parkplatz der Gletscherbahn. Das große Betongebäude wirkt verwaist, wir versuchen uns vorzustellen, wie die breiten Rampen in seinem Innern während der Wintersaison vor wartenden Besuchern aus allen Nähten platzen wie die Gedärme eines Vielfraßes. Jetzt im Sommer wirkt diese zweckorientierte Architektur alles ein wenig fehl am Platze. Zu unserer Enttäuschung stellen wir fest, dass die linke der beiden Bergbahnen, die zum Schaufeljoch hinaufführt, wegen Modernisierungsarbeiten stillgelegt ist. Das ist der Sargnagel für unseren morgigen 3000er-Quickie, wir werden uns etwas anderes einfallen lassen müssen. Doch auch im Hier und Jetzt ist nicht alles zum Besten bestellt. Durch die Bauarbeiten bedingt suchen wir vergeblich nach dem Pfad zum Großen Trögler. Laut Karte beginnt dieser an der Mittelstation, ein Weg sollte von hier in Richtung Osten zu einem Wegekreuz führen. Davon ist hier oben nichts zu erkennen. Wir beschließen, unser Glück bei der Dresdener Hütte zu versuchen und dort notfalls (ziemlich unmännlich) nach dem Weg zu fragen. Dies erweist sich als unnötig, finden wir doch an der Hütte einen Wegweiser zum Großen Trögler, dem wir über rutschige Felsplatten und eine nagelneue Stahlbrücke nach Osten folgen. Offensichtlich wurde der Weg erst kürzlich verlegt, der neue ist noch nicht sonderlich gut eingetreten. Immerhin sind eine ganze Reihe Mitwanderer unterwegs. Das Wetter hat sich nicht grundsätzlich gebessert. Hier und da zieht der eine oder andere Gipfel für einen Moment auf, doch insgesamt ist die Luftfeuchtigkeit unangenehm hoch und die Sicht bescheiden. Wir erreichen das angesprochene Wegekreuz und machen den ursprünglichen Pfad aus, der weiter südlich verläuft. Sieht beinahe so aus, als sei er durch einen Bergrutsch teilweise verschüttet worden. Nach rechts geht es weiter zum Peiljoch, wir halten uns links zum Trögler. In Serpentinen erklimmen wir ein steiles Kar, betreten für kurze Zeit einen stumpfen Grat, um in ein weiteres, flacheres Kar zu gelangen. Vom Gipfel unseres Aussichtsberges ist nichts zu erkennen. Wir durchbrechen die Wolkenuntergrenze, von nun an ist es müßig zu spekulieren, wo der Pfad wohl weiterführen wird – wir folgen blind den rotweißen Farbtupferln auf den Felsen und treffen schließlich auf eine Felsstufe, die mit Drahtseilsicherungen versehen ist. Die kurze Passage kann an Dramatik nicht mit der an der Rinnenspitze oder der an der Serles standhalten. Bald stochern wir wieder auf Blockterrain durch den Nebel, bis wir uns endlich am Gipfelkreuz wiederfinden, das den mehr oder weniger höchsten Punkt auf dem Grat markiert. Leider ist die Sicht auf der Ostseite des Berges genauso bescheiden wie die auf unserer Aufstiegsseite, so halten wir uns nicht lange mit Fotografieren auf sondern machen uns sofort ran an die Gipfelwurst. Ein einsames Männlein leistet uns bald auf dem Gipfel Gesellschaft, hält jedoch nach kurzer Begrüßung respektvollen Abstand zu uns. Sicherlich hat es nicht erwartet, bei diesem Wetter zwei weitere Trottel auf dem Gipfel anzutreffen. In dem Maße, wie die Minuten vergehen, schwindet unsere letzte Hoffnung auf ein bisschen Ausblick und weicht dem Gefühl von Kellerkälte. Der dritte Mann macht sich auf, den Grat weiter in Richtung Osten zu überschreiten – er will vermutlich zur Sulzenauhütte gelangen. Es ist möglich, den Großen Trögler im Rahmen einer Rundtour zu überschreiten. Dabei hat man allerdings gegen Ende einen knackigen Konteranstieg von mehr als 400Hm hinauf zum Peiljoch hinzulegen. Bei dem heutigen Wetter scheint dies keine verlockende Option zu sein (und sonst eigentlich auch nicht). Wir trotten somit auf unserem Anstiegsweg zurück, enttäuscht von den äußeren Rahmenbedingungen und doch froh, dass wir dem Inneren Schweinehund getrotzt und unseren letzten Tag noch einmal für eine Tour genutzt haben.  

10.Tag: Übungsklettersteig Kreuzjoch

© Stefan Maday 10.09.2016

Übungsklettersteig Kreuzjoch

13.08.2016

10.Tag: Übungsklettersteig Kreuzjoch

Gipfel:                       Kreuzjoch (2210m), Wetzsteinschrofen (2235m), Marchleitenfels (2260m) Ausgangspunkt:         Bergstation der Kreuzjochbahn (2136m) Höhendifferenz:         150m Gesamtdauer:           2h Ausrüstung:               Via Ferrata (Helm, Gurt, Klettersteigset) Bedingungen:             Perfekt
Unser unwiderruflich letzter Tag in den Alpen – für diesen Sommer. Die Sonne glitzert keck wie prognostiziert von einem makellosen Himmel. Bevor wir uns auf die Rückreise begeben, bemühen wir noch einmal unsere Stubai Super Card und gondeln zum Schlick 2000 hinauf. Eine kürzere Abschlusstour, die noch dazu über drei Berggipfel führt, als den Übungsklettersteig Kreuzjoch wird man im Stubaital vergeblich suchen. So ergibt sich uns noch einmal die Gelegenheit, das fantastische Milieu der Kalkkögel zu genießen und zudem etwas Klettererfahrung zu sammeln. Ein kleiner Übungsklettersteig kommt uns da gerade recht, nachdem wir uns am ersten Tag am Elfer nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben. Beim Aufstieg zum Kreuzjoch erfüllen wir Mika einen lange gehegten Traum und begehen den Kräuterlehrpfad, der mit zahlreichen Schautafeln auf die von leistungsorientierten Bergsportlern wie uns oft übersehenen Kleinodien der Natur hinweist. Unser Mika liebt seine Alpenkräuter, besonders wenn sie zum Zwecke der Konservierung in Ethylalkohol eingelegt worden sind. Der „Gipfel“ des Kreuzjochs (2210m) ist noch ohne Ferrata-Geraffel begehbar. Dahinter führt ein kurzer Abstieg zu einem Jöchelchen. Wir folgen aber weiter dem Grat zum Fuß der Wetzsteinschrofen (2235m), wo wir unsere Ausrüstung anlegen. Unglücklicherweise treffen einige Teenager zeitgleich mit uns ein und wir werden unfreiwillige Opfer ihrer verbalen Diarrhoe. Einer der Jünglinge lässt uns alle wissen, dass er ein wahrhaftiger Vielflieger sei. Er habe dieses Jahr schon locker 100.000 Kilometer in Flugzeugen zurückgelegt. Eben war er noch in New York und nun versucht er wenige Stunden später, sich sein Klettersteigset am Fuß einer Übungsferrata anzulegen. Leben auf der Überholspur nennt man so etwas wohl. Wir sputen uns, um Abstand von den Wunderkindern zu gewinnen. Mika geht die erste Kletterstelle an. Ich folge mit wenigen Metern Abstand. Es stellt sich schnell heraus, dass das kleine Türmchen eine Sackgasse darstellt. Folglich klettern wir wieder ab. Um die Ecke herum geht es richtig los. Wir stehen vor einem steilen Aufschwung. Laut der Topo, die ich gestern im Internet fand, hat diese die Schwierigkeit „C“ und ist bereits die kniffligste Stelle des gesamten Klettersteigs, sofern man der Gratlinie religiös folgt. Ich versuche mich und nach anfänglichen Problemen mit einem verhakten Karabiner geht alles glatt. Wir sind uns einig, dass dieser Klettersteig ein guter Auftakt für unseren Urlaub gewesen wäre, um sich ein bisschen Selbstvertrauen zu holen nach mehrjähriger Ferratapause. In Kombination mit den beiden Burgställen wäre dies eine liebliche Einlauftour. Der Rest des Steiges ist recht einfach, kleine gesicherte Passagen wechseln mit Gehgelände und bald erreichen wir unseren zweiten Gipfel. Beim Abstieg durch eine Rinne bemerken wir die Seilrutsche auf der Westseite – allerdings scheint der Läufer zu fehlen und wir fühlen uns nicht berufen, uns mit unseren Karabinern am Seil einzuhaken und Gefahr zu laufen, auf halbem Wege auf die andere Seite am Drahtseil hängend zu „verhungern“. Nach einer letzten kleinen Kletterstelle endet die Ferrata und ein kurzer Spaziergang durch Latschen bringt uns auf den Marchleitenfels, mit 2260m die höchste Erhebung des kleinen Grates am Kreuzjoch. Von hier nutzen wir die Gelegenheit, die atemberaubende Kulisse der Dolomitfelsen ein letztes Mal in Ruhe zu genießen. Wir bemerken, dass der große rote Fleck in der Südwand der Malgrubenspitze, der vor wenigen Tagen noch das begehrte Ziel eines Hubschraubers war, nicht mehr vorhanden ist. Offenbar war er wirklich menschengemachten Ursprungs. Eine fantastische Gegend. Wir beschließen, in Zukunft wiederzukommen um entweder die Schlicker Seespitze oder die Ochsenwand zu besteigen. Oder den Lustigen Berglersteig, der vom Axamer Lizum von Norden über den Ampferstein und die Marchreisenspitze führt. Futter für die Imagination, während wir dem Panorama-Highway zurück zur Liftstation folgen und während der langen Wintermonate zurück im Flachland. Stubai, wir kommen wieder!  

© Stefan Maday 10.09.2016