Rinnenspitze
11.08.2016
8.Tag: Rinnenspitze
Gipfel: Rinnenspitze (3000m) Ausgangspunkt: Oberrißalm im Oberbergtal (1750m) Höhendifferenz: 1250m Gesamtdauer: 9h Ausrüstung: Bergwanderung (Rucksack) Bedingungen: SchneeEs ist Donnerstag und unser vorletzter, geplanter Tourentag. Der Wetterbericht verspricht relativ gutes Wetter – für heute. Wir haben uns für die Rinnenspitze entschieden, unseren 5. und vorläufig letzten der „Stubai Seven“. Für das Zuckerhütl scheinen uns die Bedingungen nicht mehr gut genug zu werden und für den Habicht reicht die Zeit nicht mehr. Gleiches gilt für den Hochfeiler im Zillertal. Den haben wir schon seit Jahren auf der Liste, wollten ihn immer noch zum Schluss „dranhängen“, doch stets hat uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auch in diesem Jahr war wieder einmal der Wunsch die Tochter der Porzellankiste.
Das allwissende Internet beschreibt den Normalweg auf die Rinnenspitze als für den trittsicheren und schwindelfreien Berggänger unschwieriges Unterfangen. Mit exakt 3000m Höhe ist er in jedem Fall der niedrigste Dreitausender, den wir je angegangen sind. Kurioserweise starten wir nicht mit einer kostenlosen Bergbahnfahrt, sondern bringen uns mit dem Auto auf der Fahrt durch das Oberbergtal, einem Nebental des Stubaitales, auf Starthöhe. Am Parkplatz der Oberrißalm (1750m) berappen wir einen Fünfer und bemerken mit leichtem Unbehagen, dass es während der Nacht wieder einmal geschneit haben dürfte, denn dort, wo der Nebel sich herablässt, kurz aufzuziehen, gibt er den Blick auf weiße Hänge frei. „Schnee bis in tiefe Lagen“, kommentiert Mika trocken. Was dies wohl für unsere angeblich leichte Dreitausendertour bedeuten mag?
Immerhin sind heute morgen viele Leute unterwegs auf dem Weg zur Franz-Senn-Hütte (2149m), die überall bei meinen Recherchen auftauchte, da sie den Stützpunkt für viele interessante Gipfelziele darstellt, u.a. für die Ruderhofspitze (3474m). Die ersten 200 Hm über grüne Serpentinen lassen die bleierne Morgenkälte schnell vergessen. Nach einem Stündchen passieren wir die Alpein Alm (2010m). Nun ist es nicht mehr weit bis zur FS-Hütte, vorbei an einer tiefen Schlucht, in die sich der Oberbergbach in jahrtausendelanger Kleinarbeit hineingefressen hat. Die Hütte ist ein Ungetüm mit 5 Stockwerken. Wir sehen von einer Hütteneinkehr ab, wir wollen nicht zu viel Zeit verlieren und auf gar keinen Fall das „Fenster“ für unsere Gipfelbesteigung verpassen.
Wir legen nur eine kurze Rast auf der Wiese hinter der Hütte ein. Die tiefhängenden Wolken haben in der Tat an Höhe gewonnen und fangen an, aufzubrechen. Nun sehen wir, warum die FS-Hütte so überaus populär ist – ihre Lage und die Aussicht sind schlichtweg unbeschreiblich. Vor uns öffnet sich das Hochtal hin zu spektakulären Spitzen und Gletschern – der Neuschnee verhilft dabei natürlich der Dramatik ein bisschen auf die Beine. Links führt ein kleines Steiglein auf den obligatorischen Hüttengipfel, der eigentlich nur das Gratende der Sommerwand darstellt. Im Nordwesten lugt für einen kurzen Augenblick ein weißes Spitzlein hervor, das laut Karte im Grunde nur unsere Rinnenspitze sein kann.
Über die Brücke geht es auf die Nordseite des Baches. Der Weg entfernt sich zunächst von unserem Ziel, um dann nach anfänglichem Höhengewinn auf einem Absatz wenig steil nach Westen zu führen. Drei Damen in Klettersteigmontur kommen uns entgegen, sie sind soeben den Edelweißsteig hinaufgekraxelt, die Hüttenferrata. Nach einer Weile kommt die Rinnenspitze ins Blickfeld in Form eines kessen ungleichseitigen Dreiecks, das nach Süden steil abfällt, nach Norden jedoch einen sanft abfallenden Grat abwirft. Die Aufstiegsroute drängt sich unseren erfahrenen Augen sofort auf – eine schneebedeckte Schneise zieht sich diagonal vom südlichen Fuß hinauf in Richtung Nordostgrat.
Auf etwa 2500m legen wir eine Pause ein. Hier liegt schon eine geschlossene, wenn auch seifige Schneedecke. Man darf gespannt sein, wie es weiter oben aussieht… Als wir anschließend nur wenige Meter weiter getrottet sind, entdecken wir auf dem höchsten Punkt unseres Schotterhügels eine hölzerne Sitzgarnitur. Dies wäre ein feiner Pausenplatz gewesen. Wir überqueren einen flachen Teich mittels der arrangierten Trittsteine und beginnen bald mit dem finalen Aufstieg. Ich finde eine Sonnenbrille, die jemand strategisch sichtbar auf einem Stein platziert hat. Ich lasse sie liegen, der Eigentümer könnte immer noch vor uns auf dem Berg unterwegs sein. Wir ignorieren die Abzweigung nach links zum Rinnensee und stiefeln über feuchten Schnee teils recht exponiert die Boulderrampe hinauf. Unter trockenen Bedingungen macht dies sicherlich mehr Spaß.
Letztlich endet die Rampe unerwartet etwa 30m unterhalb des Gipfelgrates. Ein mit Trittklammern und Stahlseilen üppig ausgelegter Klettersteig führt die steile Wand hinauf. Eine ganze Schar von Menschen ist im Abstieg begriffen, vorsichtig klettern sie einer nach dem anderen den feuchten, flechtenübersäten Fels ab. Ebenso wie die Absteiger haben auch wir kein Klettersteigset im Gepäck. Als die Bahn endlich frei wird, beginne ich, mich am Seil hinaufzuhangeln. Nach einer Weile stellt sich die Wand als machbar heraus, der feuchte Fels ist nicht so prekär, wie er in der glitzernden Sonne zunächst erschien. Bald haben wir den Grat erreicht. Der erweist sich als sehr luftig. Manche Stellen sind seilgesichert, andere nicht, was sich unter den heutigen Bodenbedingungen als unangenehm herausstellt. Ein Rutscher wäre hier fatal. Vorsichtig weiter, an manchen Stellen wage ich kaum, mich komplett aufzurichten, sondern laufe geduckt wie ein Frontsoldat. Eine etwas unangenehme, vereiste Stelle, dann auf kurzem Weg auf der Ostflanke des Grates hinauf die letzten Meter zum Gipfel. Der ist nicht geräumiger als der Rest des Grates. Plötzlich bemerke ich einen Widerstand an meinem Rucksack, dann ein metallisches Scheppern. Als ich mich umblicke, sehe ich meinen Teleskopstock, den ich sicher an der Außenseite meines Ruckis arretiert glaubte, den Osthang hinunterkullern. Offensichtlich hatte sich der Stock im Spannkabel des Gipfelkreuzes verfangen und hatte sich gelöst.
Wir legen erst einmal unsere verdiente Gipfelrast ein und versuchen, die Aussicht zu genießen. Es gibt unendlich viel zu entdecken, auch wenn viele Wolken unterwegs sind. Tief unter unseren Füßen erstreckt sich der Lüsener Ferner wie ein makellos weißer Sandstrand. Im Norden glauben wir einmal, unsere Nummer drei, den Similaun, auszumachen. Im Südwesten schält sich kurz eine gigantisch aussehende Spitze aus dem Nebel, laut Karte handelt es sich wahrscheinlich um den Schrankogel (3497m), seines Zeichens der zweithöchste Berg in den Stubaier Alpen nach dem Zuckerhütl. Die ganz große Gemütlichkeit mag nicht aufkommen, wie schon auf dem Gipfel des Wilden Freiger ist es kalt und wir haben noch einen Job zu erledigen, der unsere Gedanken nicht so recht wieder loslassen will – nämlich das Alles heil wieder hinabzusteigen.
Als erstes versuche ich, meinen Stock wiederzubekommen. Er liegt verführerisch nahe, nur wenige Meter unterhalb des Gipfels. Allerdings in einer heiklen Position und ich stelle mir die Frage, ob es wohl rational ist, für ein Stück Aluminium seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Schließlich gebe ich auf. Doch Mika gibt sich nicht geschlagen und am Ende schafft er es tatsächlich, in einer kühnen Aktion das schon verloren geglaubte Gerät doch noch zu bergen.
Auf unserem Weg nach unten lassen wir alle Vorsicht walten, wissen wir doch zu gut, dass die Mehrzahl aller Bergunfälle beim Abstieg passiert, wenn entweder die Spannung abgefallen ist und der Müdigkeit das Feld überlassen hat oder wenn Zeitdruck zu Fehlern verleitet. Von beidem kann in unserem Fall heute keine Rede sein. Letztlich gestaltet sich der Abstieg nicht schwerer als der Aufstieg und bald trotten wir wieder langsam die Rampe hinunter. Die Sonnenbrille liegt immer noch an der ursprünglichen Stelle. Ich beschließe, sie mitzunehmen und an der Franz Senn-Hütte abzugeben. Als wir später dort auf einen Tee einkehren, habe ich mein nobles Vorhaben schlichtweg vergessen. Sollte also jemand seine Sonnenbrille zu dieser Zeit am Fuße der Rinnenspitze verloren haben, schicke ich sie ihm gerne auf dem Postwege, vorausgesetzt er/sie kann mir Fabrikat und Seriennummer nennen und mir eine Kopie des Kaufbeleges zusenden. Die Gläser sind leider recht verkratzt und ich werde sie wohl bald in den Müll werfen.
9.Tag: Großer Trögler
© Stefan Maday 10.09.2016