Cima Scalieret (2887m) – Abstieg nach Vigo di Fassa durch das Vajolettal

Cima Scalieret (2887m) – Abstieg nach Vigo di Fassa durch das Vajolettal

23.07.2003

Der frühe Morgen bringt Ernüchterung: irgend etwas stimmt nicht mit dem Wetter. Der TagesanbruchAntermoia-Hütte vor der Croda del Lago lässt die gewohnte Jungfräulichkeit vermissen, diese sonst so beruhigende Klarheit und Unschuld, die einem Zuversicht verleiht und spricht: „egal was war und was noch sein wird, lauft erst mal los und fürchtet euch nicht“. Kaum haben wir nach erfolgreichem Colazione den See in Richtung Kesselkogel passiert, fängt es an zu pieseln. Leicht zunächst, doch der Himmel zieht sich sukzessive zu.

Die Hoffnung auf Dreitausenderspaß ist damit zunichte gemacht, denn bei Regen wollen wir den Kesselkogel-Klettersteig nicht angehen. Stattdessen stapfen wir zum Antermoiapass hinauf. KaumDie Höhle des Wolpertingers oben, beginnt es kräftig zu regnen. Flugs rennen wir zu der kleinen Grotte, die wir gestern entdeckt haben. Die erweist sich als obergemütlich. Wie immer versucht Michael, mir mit seinen albernen Wolpertinger- Gruselgeschichten Angst einzujagen. Zunächst mit Erfolg. Doch nach dem Brunch hellt sich der Himmel draußen wieder auf und der Gipfelhunger erwacht erneut in mir. Wir befinden uns unweit der Cima Scalieret (2887m), jenes Berggipfels, den wir gestern von der Gartlhütte aus erspäht haben.

Auch wenn es keinen offiziellen Pfad auf die Spitze gibt, konnten wir gestern dort oben LeuteCoolman vor dem Gipfel der Cima Scalieret und ein Gipfelkreuz ausmachen. Unser Entschluss ist gefasst. Ein erkennbarer Trampelpfad führt Blick auf Rosengartenspitze und Gartlhütte von der Höhle zum Passo Scalieret (2768m) hinüber, von dort arbeiten wir uns auf den Grat in Richtung Süden vor. Nun gerät die eigentiche Spitze ins Visir. Sie kommt für einen Dolomitengipfel ziemlich unspektakulär daher – quasi „alpin“ – ein Horn, welches man über den mäßig ansteigenden Grat ohne irgendwelche Kletterhilfsmittel erwandern kann – selbstsicheres Auftreten vorausgesetzt.

Oben (2887m) bemerken wir, wie hoch dieser unbedeutende Berg in Wahrheit ist, denn wir genießen einen fantastischen ?El Barto, qué haces allá?Ausblick auf den Rosengarten, insbesondere aber auf die Wolken, die aus Richtung Rosengartenspitze kommend wie Ejakulat im Wasser auf uns zu schießen. Geschwind steigen wir wieder ab und suchen die Nähe unserer heimeligen Höhle. Doch der befürchtete Kübelguss bleibt aus. Vielmehr verkrümeln sich die Wolken und die Sonne kommt immer häufiger zum Vorschein, als wir die Grasleitenpasshütte erreichen (zur Erinnerung: das war dieser Fahrradschuppen). Hier sollte man sich keinesfalls den Blick hinab in den berüchtigten Grasleitenkessel entgehen lassen, jene bodenlose Höllengrube, die uns vor drei Jahren soviel schmerzhaftes Lehrgeld abgezollt hat.

Wir beobachten einige Leute, die in den westlichen Teil des Kesselkogel-KS einsteigen, der unmittelbar über dem Pass beginnt. Für uns fällt dieser Spaß flach, denn wir wollen heute abend zurück im Fassatal sein und haben daher einen langen Weg vor uns. Der führt uns wieder einmal zur Vajolethütte, die uns noch einen Drink auf der Sonnenterrasse wert ist. Von den zwei Wegen, die uns unwiderruflich aus dem Vajolettal hinausführen, wählen wir den oberen (Nr.541), da er uns landschaftlich interessanter erscheint. Zu unserem Entsetzen führt er nach kurzem Abstieg wieder mehrere hundert Meter bergauf. Der Colle Barbolada (2375m) ist ein am Weg liegendes Gipfel-Sonderangebot.

Der Weg – so schön und abwechslungsreich er angelegt ist – beginnt sich allmählich zu ziehen.Murmeltiere bei der Paarung! Unter unzähligen kleinen Spitzen und Türmchen geht es – mal eng, mal großzügig – auf und ab, bis uns die Füße schmerzen, der Verstand einschläft und ich nur noch diese monotone, geisterhafte Stimme vernehme, die mir brutal „Vorwärts!“ befiehlt und dann mit zartem Unterton hinterher haucht: „Sonst ist bald die letzte Gondel ins Tal weg.“ Schließlich treffen wir auf den vertrauten Weg, den wir am Sonntag hinaufgekommen sind. Der schmerzhafte Abstieg über 300Hm ist unausweichlich und irgendwann erreichen wir die Bahnstation. Die letzte Gondel ist noch lange nicht weg, geschwind sind wir unten und kurven mit dem Auto in Richtung Gadertal, auf der Suche nach einem Zimmer für die Nacht.

Fazit: Der Rosengarten ist ein ganz großer, auch wenn er nach vier Tagen ein wenig zusammengeschrumpft ist.

4.Tag: Heiligkreuzkofel (Versuch)

© Stefan Maday 05.09.2003

Heiligkreuzkofel (Versuch)

Heiligkreuzkofel (Versuch)

24.07.2003

Nachdem wir die letzte Nacht in der sinnesbetörenden Pension Jasmin in San Cassiano übernachtet und uns am All-you-can-eat- Frühstücksbuffet schadlos gehalten haben, brechen wir zu unserer ersten von insgesamt drei angedachten Tagestouren auf: der Besteigung des Heiligkreuzkofels (2908m) am Nordwestrand der fantastischen, mondkraterähnlich geformten Kreuzkofelgruppe.

Leider zeigt sich der Himmel ziemlich trüb, doch sind wir guter Hoffnung, denn aus Erfahrung wissen wir,Die Abtei wie schnell das Wetter in den Alpen umschlagen kann. Im wenige Kilometer entfernten Dorf Pedraces nehmen wir den Lift hinauf zur Bergstation. Eine Schotterstraße bringt uns nach 200Hm zum Heiligkreuz-Hospiz (2045m). Doch spiritueller Beistand währet uns hier nicht, nur der Anblick der sich an der Westwand des Massivs stauenden Wolken und das ernüchternde Gefühl des einsetzenden Regens.

Langer Rede kurzer Sinn: nach einer kleinen Wanderung durch den Medes-Wald wird das Wetter nicht besser und der Tag nicht jünger. Wir verzichten bald auf die Besteigung und fahren mit dem Wagen über den Falzarego-Pass nach Cortina d’Ampezzo. Dort bummeln wir die Einkaufsmeile dieser bedeutenden Metropole auf und ab, was etwa fünfzehn Minuten unserer Zeit in Anspruch nimmt.

Fazit: schlechtes Wetter ist im Urlaub unbedingt zu vermeiden.

5.Tag: Tofana di Roces (Versuch)

© Stefan Maday 05.09.2003

Tofana di Roces (Versuch)

Tofana di Roces (Versuch)

25.07.2003

Hätten wir uns besser nochmal den Kreuzkofel vorgenommen! So müssen wir – bei 1a Kaiserwetter -Tofana di Rotzi den Versuch, die südliche der drei Tofanen (3235m) über die Ferrata Lipella zu erklimmen, bereits nach drei Stunden abbrechen.

Etwa 500 Hm unterhalb des Gipfels beginnt eines der Expeditionsmitglieder zu schwächeln. Der Rest der Crew möchte den Gipfel nicht allein besteigen, sondern begleitet den Kaputten wieder hinab. Bei der Gelegenheit sucht man in der Südwand des Giganten vergeblich nach der berühmten „Grotta“ – einem 800m langen Tunnel – und erspäht sie erst von weit unten, als es zu spät ist.

Da ich in Zukunft mit einem erneuten Besteigungsversuch rechne, verzichte ich an dieser Stelle auf eine detaillierte Berichterstattung. Am Rande sei nur erwähnt, dass wir einem Murmeltier, mehreren Gämsen (den unschuldigsten Opfern der Rechtschreibereform) und unzähligen Körperfresserblumen (die möglicherweise harmlose Klettpflanzen sind) begegneten. Zudem war der Apfel, den ich beim Frühstück geklaut habe, in seinem Herzen vollkommen faul – eine Tatsache, die sich im Nachhinein leicht als schlechtes Omen interpretieren lässt.

Fazit: wir kommen wieder!

6.Tag: Drei-Gipfel-Tour am Falzarego-Pass

© Stefan Maday 05.09.2003

Drei-Gipfel-Tour am Falzarego-Pass

Drei-Gipfel-Tour am Falzarego-Pass

26.07.2003

Für unseren finalen Tourentag haben wir uns realistische Ziele gesteckt. In der Nähe des Falzarego-Passes westlich Cortina d’Ampezzo haben wir in den letzten Tagen einige interessante, jedoch nicht bombastisch hohe Berggipfel entdeckt, die wir besteigen möchten.

Als erstes soll der Hexenstein (Sasso di Stria, 2477m) vor uns auf die Knie fallen. Seine Südostwand ist ein schaurig-schönes Postkartenmotiv und bei Kletterern sehr beliebt. Als Fußgänger versuchen wir es über die entgegengesetzte Flanke, die direkt vom Valparola-Pass (2192m) ausgeht und nurmehr ein Krabbelfelsen ist. 

Schon dem parkplatzgebundenen Beobachter springt der blaue, etwa automobilgroße Felsbrocken ins Auge und man fragt sich unwillkürlich: ist das eine Laune der Natur? Wahrscheinlich nicht. Wirkt zu artifiziell. In diesem Fall muss ihn jemand blau gemacht haben. Aber wer und warum? Sollte jemand seriöse Antworten auf diese Fragen kennen (kein „UFO verlor Kühlflüssigkeit“ o.ä.), möge er mir bitte schreiben.

Der Aufstieg erweist sich anfangs als unproblematisch. An einer Stelle verlieren wir Zeit, als wir einem falschen Pfad nach links folgen, der uns beinahe zurück zum Parkplatz bringt. Unvermutet stehen wir schließlich vor einem großen Transparent. Eine Inschrift klärt uns über die Tatsache auf, dass Mitglieder des italienischen Alpenvereins hier derzeit alte Schützengräben freischaufeln und restaurieren. Offenbar fanden auch die österreichischen Truppen im 1. Weltkrieg den Hexenstein strategisch günstig gelegen. Der Wanderer sei jedenfalls herzlich eingeladen, seinen Beitrag zur archäologischen Forschung in Form freiwilliger Arbeit beizusteuern, heißt es.
Wir versuchen der Vorstellung, bei diesem warmen, fast schwülen Wetter unseren letzten Urlaubstag Hacke und Schippe schwingend herumzubringen irgend etwas abzugewinnen, beschließen dann aber, die arbeitenden Kolonnen möglichst diskret und weiträumig zu umgehen.

Wie angekündigt, treffen wir unterwegs auf viele Gräben und Unterstände. Etwa 50m unterhalb des Gipfels beginntDer Weg… ein ungesicherter Klettersteig, später führen Leitern einen engen Kamin hinauf und schon sind…das Ziel wir oben. Selbst hier findet sich noch Kriegsarchitektur. Über dem Eingang einer kleinen Grotte prangt ein Schild mit einer Inschrift. Ich kann zwar kein Italienisch, aber ein wenig Spanisch und Latein. Der Schrieb erweist sich als schwülstiges Liebesgedicht zu Gunsten einer gewissen Roberta.

Wir genießen das Privileg, allein hier oben zu stehen. Sehr geräumig ist der Gipfel auch gar nicht.Marmolada Zu dieser frühen Stunde – wir haben gerade mal siebzig Minuten für den Aufstieg gebraucht – ist die Aussicht phänomenal. So klar habe ich beispielsweise die majestätische Marmolada noch niemals gesehen. Ich mag mich irren, doch der Gletscher auf dem Nordhang scheint in den letzten drei Jahren merklich zurückgegangen zu sein – wohl Parodontose.

Beim Abstieg, der über die gleiche Route erfolgt, kommen uns Scharen von Menschen entgegen. Welch ein Glück, dass wir heute einigermaßen früh aus den Federn in die Puschen gekommen sind. Auf jeden Fall sind wir uns einig, dass der Hexenstein zu den interessanteren Gipfeln zählt, weil er uns bergsteigerisch einigermaßen inspiriert und kulturhistorisch gar immens befruchtet hat.

Nach wie vor voller Tatendrang fahren wir zum 1500m entfernten Falzarego-Pass (2105m). Hier herrscht Hochbetrieb und wir finden nur mit Mühe einen Parkplatz. Zwei Hauptattraktionen hat der Pass zu bieten: die Motorrad- und Bustouris gehen zum Powershopping in den Souvenirladen und die etwas unternehmungslustigeren Zeitgenossen pflegen mit der Seilbahn zur Lagazuoi-Hütte (2756m) hinauf zu schweben.

Wir hingegen sind der Mainstream-Aktivitäten müde und haben eine Wanderung durch das namenlose Gebiet südlich der Fahrstraße beschlossen, das einigeAbmarsch am Passo Falzarego: Monte Averau (links) und Punta Gallina (r.) interessant aussehende Gipfel bereithält. Mit Namen wie Punta Gallina, Monte Averau oder La Gusela können wir daheim zwar nicht protzen, aber mal ehrlich: die wirklichen Abenteuer erlebt man nicht auf der Tofana Soundso oder dem Monte Cristallo, wo man mit dutzenden von Sandalentouristen en fila marschieren muss, sondern auf dem Weg zu den Underdogs.

Hier bekommt der Bergwanderer, was er von einer Gebirgstour wirklich erwartet: schlecht oder gar nicht markierte Wege und die dadurch bedingte Orientierungslosigkeit, ungesicherte Klettersteige und vor allem Abgeschiedenheit, so dass man wenigstens unbehelligt pinkeln kann, wann und wo man will.

Über sattgrüne Grasmatten, die dann und wann von Skinarben unterbrochen werden, ackern wir uns den Hang in Richtung Punta Gallina („Hühnerspitze“, 2518m) hinauf. Von Norden erscheint der Gipfel wie ein Soufflet, vom Hexenstein aus wie eine Rampe. Ein Pfad verlässt den Hauptweg und führt uns teilweise eng um die Westflanke des Berges herum.

Wir treffen auf eine nette, junge Italienerin, die zusammen mit ihrem Bruder einen recht unorthodoxen Abstieg vom Gipfel durch einen rutschigen Schotterkamin hinter sich hat. Anscheinend haben die beiden vollkommen die Orientierung verloren. Auch wir wissen nicht genau, wie es weitergehen soll. Der Pfad, den wir gekommen sind, windet sich weiter um den Berg herum, doch wir entdecken eine Farbmarkierung am Fels, direkt neben einer schmalen Spalte, die es offenbar hinauf zu klettern gilt.

Es sind nur wenige Meter. Michael lässt seinen Rucksack zurück, da wir glauben, danach so gut wieAuf der Punta Gallina. Im Hintergrund das Lagazuoi-Massiv auf dem Gipfel zu sein. Doch da haben wir uns gründlich verhauen. Jetzt kommt die Rampe ins Spiel, die wir vom Hexenstein erblickt haben und es folgt ein grausamer, nicht enden wollender Aufstieg durch blendenden Schotter.

Da heißt es pumpen. Nur Steinhaufen weisen zuverlässig den Weg. Endlich auf dem Gipfel angekommen, sind wir nicht die einzigen. Wir haben ein italienisches Pärchen aus seiner Siesta aufgeschreckt. Das Gipfelkreuz ist nur circa 30cm hoch und hat auch keinen Blitzableiter eingebaut.

Als nächstes ist der Monte Averau (2648m) dran, ein steiler Zahn im wahrsten Sinne des Wortes und kaum einen Kilometer Luftlinie von uns entfernt. Michael hat leider das Pech, dass er wieder absteigen muss, um seinen Rucksack zu bergen. Denn der kürzeste Weg zum Averau führt über den Südosthang der Punta Gallina. Der Arme muss also etwa das dreifache meiner Wegstrecke bis zu unserem Treffpunkt, der Forcella Gallina, zurücklegen, wenn er sich nicht wieder die Rampe hochquälen möchte. Ich beneide ihn ehrlich darum, denn bestimmt lernt er dabei eine ganze Menge.

Ich gebe ihm eine Viertelstunde Vorsprung, dann gehe auch ich den Abstieg an. Bis auf ein kurzes Krabbelstück und eine einzige unangenehm enge Stelle, auf die eine etwas ältere italienische Dame gar nicht gut zu sprechen ist, verläuft der vollkommen analog zur Aufstiegsroute. Kaum sitze ich zwei Minuten unterhalb des Treffpunktes, der steilen Schuttrinne, als bereits der Michael angestampft kommt. Ich tue gelangweilt, als warte ich schon seit einer halben Stunde.

Wir stolpern die besagte Rinne hinauf und erreichen einen Pass am Fuße des Monte Averau. Die Sonne brennt erbarmungslos zwischen den Quellwolken hernieder und unsere Wasservorräte sind fast erledigt. Der Pfad bringt uns um denAverau-Hütte mit Abschussrampe halben Gipfel herum und schließlich zur heiß ersehnten Averau-Hütte (2416m), wo wir erstmal unsere Zellen erfrischen. Hinter der Hütte dürfen wir ein absolutes Kuriosum bestaunen, denn dort neigt sich eine gigantische, steinerne Abschussrampe himmelwärts, an deren Oberkante eine weitere Berghütte thront – die Nuvolau-Hütte. Doch nach so viel Japserei in der schwülen Julihitze sind wir weder für eine Rampenbesteigung noch für eine Besteigung des Averau über die Via Ferrata an der Ostwand länger motiviert.

Wir steigen unterhalb der Ostflanke des Hüttenberges ab, werfen noch einen Blick auf die zu Unrecht unberühmten Cinque Torri, die wie Gichtfinger aus dem Boden ragen, treten einen gut befestigten Highway hinab, stapfen durch Wald und Wiese, machen kindische Spielchen an einem Bach und landen letzten Endes unversehrt am Wagen.

Das war es auch beinahe schon fast wieder für dieses Jahr. Heute abend werden wir uns nochmal Riesenpizza inklusive Umtrunk in San Cassianos Dorfkneipe „Da la Vedla“ gönnen und morgen abend sitzen wir schon wieder zu Hause in Good Ole Germany, salben unsere geschundenen Füße und überlegen, ob wir die stinkenden Wanderklamotten nicht besser sofort verbrennen.
Bei Licht besehen hat diese Urlaubsform mit Vernunft und Bequemlichkeit nicht viel zu tun. Eher mit einer Art von unbestimmter Sehnsucht, die sich immer nur für den Augenblick stillen lässt. Und so beginnt schon bald das Warten auf den nächsten Sommer…

Fazit: die Buchhaltung meint, es seien dann doch nur zwei Gipfel gewesen.

© Stefan Maday 05.09.2003

Von Sexten zur Zsigmondyhütte (2235m)

Von Sexten zur Zsigmondyhütte (2235m)

01.07.2001

(i) Schnee, Schnee, Schnee
Das waren unsere drei Hauptsorgen während der beiden letzten Wochen. Da haben wir Frühsommer und in den Sextener Dolomiten liegt die kalte Pampe nach wie vor in rauhen Mengen herum. Einen derart langen Winter wie in diesem Jahr hatten die Alpen seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Noch im Mai hatte es deftig gerieselt. Ein Hohn angesichts der Tatsache, dass wir uns alle erdenkliche Mühe geben, die globale Erwärmung voranzutreiben. Doch auf die Natur ist bekanntlich kein Verlass.
Ohnmächtig waren wir dazu verdammt, die quälend langsamen Fortschritte der einsetzenden Schneeschmelze mittels Livecam und Wetterbericht aus der Ferne zu verfolgen. Rotwandspitze als Wolkenburg verkleidetSo waren wir auch nicht allzu überrascht, die Nordhänge der über dem Ortsteil Moos thronenden Rotwandspitze bei unserer gestrigen Ankunft in kräftiges Milchzahnweiß getaucht zu sehen. Hübsch anzublicken, solange man nicht dort oben herumzustapfen gedenkt. Schade, denn die eindrucksvolle Spitze hätte unser erster Meilenstein auf dem Weg zur Bertihütte sein sollen. Da werden wir wohl improvisieren müssen.

Von der Pension Weberhof, in der wir genächtigt und unsere vermutlich für längere Zeit letzte Dusche genossen haben, sind es nur wenige hundert Meter bishin zur Talstation der Rotwandwiesenbahn. Dort sagt man uns, was wir eigentlich schon wussten: oben liege noch sehr viel Schnee. Ein Anruf auf der Bertihütte bringt mehr Klarheit: der Klettersteig, der von der Bertihütte zur Zsigmondyhütte, unserem morgigem Ziel, führt, sei unpassierbar. Kurzerhand werfen wir unsere gesamte Planung über den Haufen und beschließen, die Bertihütte sausen zu lassen und schon heute zur Zsigmondyhütte aufzusteigen.
Unsere Knochen werden es uns danken, denn der Plan, am ersten Tag bereits einen steilen Beinahe-Dreitausender mal eben so vom Tal aus überrennen zu wollen, war vielleicht auch etwas zu ehrgeizig und eher dem Bierwahn entsprungen.

(ii) Fischlein und Wasser
Wir verlassen die Straße und somit die Zivilisation und folgen dem Dolomiten-Highway Nummer 5, der leicht ansteigend das malerische Fischleintal hinaufführt. Die Gipfel sind nach dem nächtlichen Regen in dichte Wattewolken gepackt, hier unten jedoch brennt bereits die Sonne und ein warmes Wonnegefühl stellt sich ein. Der Rucksack erscheint mir lange nicht so wuchtig wie vor einem Jahr bei unserer Tour durch die Westdolomiten und so bereue ich es vorläufig nicht, dass ich diesmal ein paar Unterhosen weniger eingepackt habe. Vorläufig… Wir kommen unerwartet schnell voran und hängen die zahlreichen Tagesausflügler locker ab.

Bald schon haben wir die Talschlusshütte (1548m) erreicht. Ihr italienischer Name, Capana Turistica, erweist sich als noch treffender. Blick durch das Bacherntal auf den HochleistAb hier zeigen wir dem Dolomiten-Highway die kalte Schulter und vertrauen auf den Trampelpfad, der parallel zu dem Bächlein mit dem originellen Namen Bachern-Bach direkt nach Süden führt. Vor uns liegt eine imposante steile Zinne, der Hochleist (2410m). Seine Form sowie die dunkle schwarze Spalte am Fuße seiner Nordwand wecken in uns unwillkürlich gewisse Assoziationen, die ich im Rahmen dieser seriösen Reportage nicht näher spezifizieren möchte.

Schließlich zwingt uns der Weg, den Bach zu überqueren. Zu Zeiten, an denen die Schneeschmelze abgeschlossen ist, mag sich an dieser Stelle eine seichte Furt befinden. Nicht so heute. Ich versinke bis über die Schäfte meiner Schuhe im Wasser und hole mir nasse Füße. Das erscheint mir anfangs nur ein wenig unbequem. Doch sobald der Weg steiler anzusteigen beginnt, bemerke ich erste Schmerzen. Offenbar löst sich die aufgeweichte Haut von den Fersen. Wir nehmen eine Auszeit zum Sockenwechseln, Schuhetrocknen und Salamifuttern.

Hoffentlich habe ich die Socken nicht zu voreilig ausgetauscht, denn laut Karte werden wir den Rauschebach noch einmal überqueren müssen. Das Tal vor uns verengt sich sukzessive, bald ist es fast gänzlich vom strömenden Wasser eingenommen. Wieder kommen wir an eine dieser Pseudo-Furten und stellen schnell fest, dass das Wasser zu tief ist, um das andere Ufer trockenen Fußes erreichen zu können. Nun ist guter Rat teuer.
Auf der Suche nach einer besseren Passage gehe ich das Ufer immer weiter stromaufwärts ab. Vergebens. Entweder ist das Wasser zu tief oder die Strömung ist zu reißend. Das ist nicht verwunderlich, denn nach den Gesetzen der Hydrodynamik sollte das Wasservolumen, das pro Zeiteinheit durch den Stromquerschnitt fließt, an allen Stellen das gleiche sein. Letztlich finde ich doch noch eine geeignete Stelle, an der ich den Mahlstrom durch geschicktes von-Fels-zu-Fels-Hüpfen überqueren kann. Mit dem schweren Gepäck wäre dies jedoch eine riskante Angelegenheit.

So kehre ich wieder zum Ausgangspunkt zurück und finde den Michael jammernd vor. Bei dem Versuch, Steine in den Bach zu werfen, hat er sich einen Finger gequetscht. Dafür kam ihm die zündende Idee, die ebenso absurd wie einleuchtend scheint: die Stromschnellen ohne Schuhe zu überqueren! In Badelatschen a la Kneipp durch das eiskalte Wasser. So wird es auch gemacht, schnell und schmerzhaft. Endlich am rettenden Ufer. Die Kosten dieser mehr als peinlichen Bachaktion: eine Stunde Zeit und ein nekroser Finger. Der Profit: saubere Füße und die Erkenntnis, dass es immer noch etwas zu lernen gibt.

(iii) Rifugio Zsigmondy Comici
Die Füße werden rasch wieder warm, während wir den rechtsbacherischen Hang emporsteigen. Das verhasste Gewässer liegt bald hundert Meter unter uns, als wir wieder auf den guten alten Dolomiten-Highway treffen. Der Unterschied zu unserem Trampelpfad ist markant: breite, ausgebaute Stufen führen die Südostflanke der Kanzel (2533m) hinauf. Wir treffen auf einen Briten, der meint, in eight minutes wären wir an der Hütte. Wir schaffen es sogar in five. Zsigy mit Kanzel (c) by MBWie die meisten Berghütten in den Dolomiten zeichnet sich auch die Zsigmondyhütte durch ihre exquisite Lage aus: gegenüber dem mächtigen Zwölferkofel (3094m) und seinem dieser Tage vollkommen schneebedeckten nördlichen Schutthang.

Wir checken bei der netten Blondine ein und lümmeln uns bei koffeinhaltiger Limonade ein wenig auf der Terrasse herum. Es ist noch früher Nachmittag, bis hierher haben wir etwa 4.5h benötigt. Zeit genug, um noch die eine oder andere Attraktion mitzunehmen. Wir beobachten eine Gruppe, die von der Scharte westlich des Zwölfers durch die steile Schneepiste in unsere Richtung herabkommt. Die Leute haben sichtlich Schwierigkeiten bei ihrem Abstieg und retten sich im Schneckentempo von einem der raren schneelosen Flecken zum nächsten. Da bekommt man es richtig mit der Angst zu tun.
Der Himmel hat sich mehr und mehr zugezogen, aus der Ferne ertönt auch einmal das ein oder andere Donnergrollen. Dessen ungeachtet beschließen wir, heute noch den Gipfel des Hochleist anzugehen. Von unserer Warte aus sieht er alles andere als steil und gefährlich aus, von Süden her ist er über einen kaum ansteigenden Kamm zu erreichen.

(iv) Die Besteigung des Hochleist (2410m)
Das überflüssige Gepäck wird aus dem Rucksack entfernt und verbleibt auf der Hütte. Nun wird es ernst. Schon bald erreichen wir das riesige Schneefeld, dass es in östlicher Richtung zu durchqueren gilt. Die weiße Masse zeigt sich ziemlich glitschig und seifig, gerne überlasse ich Michael den Vortritt, auf dass er mir Stufen in den Schnee trete. Wir sind sehr glücklich über die Wanderstöcke, die wir in diesem Jahr dabei haben. Sie waren eigentlich zur Schonung unserer maroden Kniegelenke gedacht, geben aber auch Halt im tiefen rutschigen Schnee. Eine lohnende Investition.
Der Pfad, der eigentlich nur aus Fußstapfen besteht, die irgendjemand in den letzten Stunden oder Tagen hinterlassen hat, steigt glücklicherweise nur mäßig an. Dennoch freue ich mich über jeden kleinen schneefreien Flecken, über den er führt. Die Treterei im Schnee ist höchst anstrengend und ich habe niemals das beruhigende Gefühl, wirklich Herr über meine eigenen Füße zu sein.

Nach einer halben Stunde gelangen wir an einen kleinen Pass (2328m). Der Hauptpfad steigt von nun an steil hoch zur Forcella Giralba, wir biegen links ab in Richtung auf den Hochleist Gipfel. Wir rasten an einem niedlichen kleinen Gletschersee, bevor wir uns auf den Kamm stürzen. Der ist vorerst noch sehr breit und mit wüsten Karren bedeckt. Die schmalen Rillen erweisen sich als tückische Fallen für unsere Stockspitzen. Vergeblich suchen wir nach Wegmarkierungen, jeder Pfad ist gleichwertig.
Allmählich verjüngt sich der Kamm und verwandelt sich in einen Grat, die Felsen nehmen wieder kantigere Formen an. Wir überqueren ein paar kleinere Schneefelder und stehen auch bald schon auf dem Gipfel. Das war doch eine sehr preiswerte Besteigung, wenn man bedenkt, wie unbändig sich der Gipfel vom Tal aus präsentiert. Hochleist GipfelBei einem solchen Sonderangebot nehmen wir auch ein paar kleinere Schönheitsfehler in Kauf. Der Gipfel selbst wirkt ziemlich weitläufig und unspektakulär, ein Gipfelkreuz ist nicht vorhanden. So deklarieren wir irgendeinen Felsbrocken als höchsten, setzen uns drauf und dürfen uns die unerschrockenen Bezwinger des Hochleist nennen. Gar nicht schlecht für den ersten Tag und kaputt gemacht haben wir uns dabei auch nicht. Die Fernsicht fällt dem trüben Wetter zum Opfer, hier und da tröpfelt es sogar. Im Osten türmt sich die gigantische Felswand des Elferkofel (3095m) zum Greifen nahe vor uns auf. Auf halber Höhe machen wir an einigen Stellen die in den Felsen gehauenen Gänge des Alpini-Steiges aus. Entgegen dem, was uns berichtet wurde, sieht der Steig relativ schneefrei aus. Da hätte man sich vielleicht von der Rotwandspitze kommend irgendwie herüberquälen können.

(v) Der große Coup
Die Lust auf Schnitzel macht alsbald die Runde und so beschließen wir den Abstieg über denselben Weg. Das fiese Schneefeld zeigt sich bergab noch unangenehmer zu begehen. Wir überholen einen einsamen Mann mit Eispickel, der von der Forcella Giralba heruntergestiegen ist und offensichtlich gar keine Power mehr hat.
Zurück auf der Zsigmondyhütte erwartet mich ein schwerer Schicksalsschlag: jemand hat meine geliebten Badelatschen geklaut! Ich hatte sie vor unserem kleinen Ausflug unten ins Schuhregal gestellt und der Dieb hielt sie vermutlich irrtümlich für Inventar. Es wäre sicherlich Energieverschwendung, unauffällig unter den Tischen herumzukrabbeln, die Latschen jedes einzelnen Gastes unter die Lupe zu nehmen und den Ertappten daraufhin zu brüskieren. Morgen früh werden sie wieder im Regal stehen. Ich hoffe nur, dass der Schubiak sich die Füße gewaschen hat!
Nach dem leckeren Wiener Schnipo (21000 Lire) und ein paar Bierchen (je 6500 Lire) sieht die Welt schon wieder rosiger aus. Wir verspüren keine große Motivation mehr, die morgige Tour zu planen und verplempern die Zeit bis 22:00 Uhr lieber mit Gäste- und Bedienungsobservierung, Romme-Spielchen, eisigen Rauchpausen vor der Hütte und dem Verzehr von Rotwein (8500 Lire je Karaffe Schädel-Hausmarke). Es folgt die wohlverdiente Heia im Doppelzimmer.

2.Tag: Über den Paternkofel zur Dreizinnenhütte

© Stefan Maday 13.08.2001

Über den Paternkofel zur Dreizinnenhütte

Über den Paternkofel zur Dreizinnenhütte

02.07.2001

(i) Frühsport
Um sieben Uhr werden wir durch nachbarliches Getöse unsanft geweckt. Die obligatorische morgendliche Denksportaufgabe fördert ein erstaunliches Ergebnis zu Tage: das war ein satter mehr als achtstündiger Säuglingsschlaf! Der Abstieg zur Morgenzigarette vor der Hütte verläuft nicht minder überraschend: wir beide verspüren keinerlei Anzeichen eines Muskelkaters! Auch das Wetter verspricht anscheinend nur Gutes. Ich glaube, heute steht uns ein magischer Tag bevor. Meine Latschen haben sich auch wieder eingefunden, doch werden sie trotz chemischer Reinigung nie wieder dieselben sein.
Beim Frühstück schmieden wir unseren heutigen Tagesplan. Angesichts des vielen Schnees verzichten wir auf die angedachte Zwölfer-Umrundung, der Anblick der armen Wanderer gestern sprach mehr als tausend Worte. Stattdessen wollen wir schnurstracks weiter nach Westen in Richtung der Drei Zinnen, wo so vielversprechende Gipfel wie der Paternkofel und die Schusterplatte unseres Besuches harren. Kurz vorm Oberbachernjoch. Torpedoberg voraus.Der Aufstieg zum Oberbachernjoch (Passo Fiscalino, 2528m) erscheint uns zu dieser frühen Stunde ziemlich brutal und atemraubend. Hier oben entdecken wir neben einer schönen Aussicht auch die ersten Spuren militärischen Treibens aus dem ersten Weltkrieg in Form von alten Steinmauern. Dergleichen werden wir von nun an des öfteren zu sehen bekommen, war doch die Gegend um den Paternkofel damals hart umkämpftes Frontgebiet. Wir folgen einem ebenen und relativ breiten in den Fels gehauenen Weg in Richtung Norden und gelangen wenig später zur Büllele Joch Hütte (2522), ordern koffeinhaltige Limonade und fragen den Gastronomen bei der Gelegenheit nach den Wegverhältnissen am Paternkofel. Nichts genaues weiß man nicht, aber es wird schon passen. Ein großer Schäferhund liegt faul vor der Hütte herum. Ab und an beäugt er uns um sicherzustellen, dass wir die Zeche nicht prellen.

(ii) Die Besteigung der Oberbachernspitze (2675m)
Wir zahlen und deponieren unsere Rucksäcke an der Hütte. Es ist noch früher Mittag und wir wollen uns auf der Ebene nördlich der Hütte ein wenig umschauen. Hier finden wir zahllose Relikte aus wenig zivilisierten Tagen in Form von gemauerten Schützengräben und wahllos herumliegenden vergammelten Holzplanken. Gleich vier interessante Gipfel räkeln sich vor uns in der Sonne: der Il Panettone samt aufsitzendem Schrein, ein torpedoförmiger Fels mit einer merkwürdig überhängenden Nase, die Oberbachernspitze und der Einserkofel. Der vorletzte hat es uns angetan, nach leichtem Aufstieg an einigen lustigen Abgründen vorbei stehen wir schon bald auf dem Gipfel der Oberbachernspitze (2675m). Ein Foto von Herrn BraunSo human der Anstieg von Süden ist, so schroff fällt die nördliche Wand hinter dem Gipfel ab. Nur ein Schritt trennt uns von einem erneuten Besuch der Talschlusshütte. Am Horizont machen wir zwei kapitale, im Schnee ertrinkende Berge aus: das sollten die beiden Tauern-Flagschiffe Großglockner und Großvenediger sein, die in diesem Schneejahr staffagenmäßig besonders viel hergeben.
Wir unterhalten uns mit Herrn Braun aus Bad Hersfeld oder Umgebung, der fast zeitgleich mit uns auf der Spitze eingetrudelt ist. Er mag Schweinebraten. Ferner glaubt er zu wissen, dass hier seit 50 Jahren nicht mehr so viel Schnee wie heuer gelegen habe. Wir klopfen ein paar Sprüche in das Gipfelbuch, das noch fast jungfräulich ist. Nur das sogenannte Büllele No-Limits Team war nach eigenem Bekunden früher hier als wir. Grrr! Muss heute morgen gewesen sein.
In freudiger Erwartung steigen wir endlich zurück zur Hütte und bergen unser Gepäck. Denn jetzt ist es an der Zeit für ein Abenteuer.

(iii) Über den Invalidensteig
Bald haben wir das Büllele Joch (2522m) erreicht. Salami und Kekse essend beobachten wir die Scharen von Wanderern, die aus dem Cengiatal heraufsteigen, um anschließend über den verschneiten Nordhang des Paternkofel zur Dreizinnenhütte zu marschieren.
Wir dagegen wandern in südlicher Richtung um einen Sporn des Paterno herum und später über einen Schotterhang hinauf zur Forcella di Laghi. Nun liegt das Ziel endlich vor uns. Der Paternkofel von OstenDer Paternkofel präsentiert sich uns von Osten als ein System von sanften schneebedeckten Hängen. Vom Einstieg in die sogenannte Ferrata Verterno (Invalidensteig) ist nichts zu sehen, doch kommen uns einige Wanderer mit angelegten Klettergurten entgegen. Ein Engländer warnt uns vor einer unbehaglichen Stelle in Form einer „unexpected gap with snow and no ropes“. Wir legen unsererseits Geschirr an und machen uns auf den Weg. Was von weitem wie ein durchgehender Hang aussah, erweist sich aus der Nähe als optische Täuschung. Wir müssen eine tiefe Spalte durchklettern. Der Abstieg ist gut gesichert, doch bald finden wir uns an der besagten Stelle „with snow and no ropes“ wieder. Ein schmales, etwa fünf Meter langes Schneebrett führt über den gähnenden Abgrund. Wenn dort jemals Stahlseile gespannt waren, sind sie heute unter dem Schnee verschwunden. Das sieht nach einer haarigen Sache aus. Ausgerechnet snow… In Deutschland wäre eine solche Streckenführung indiskutabel, da hätte der TÜV Rheinland niemals sein Prüfsiegel draufgepappt.

Auf der gegenüberliegenden Seite warten zwei Männer, ebenfalls ein wenig unschlüssig, wie denn nun zu verfahren sei. Höflich und selbstlos winke ich sie herüber und lasse ihnen den Vortritt. Wenn die das schaffen… Gibt es hier oben Holzwürmer? (c) by MBTun sie. Und wir schließlich auch. Ein schönes Gefühl im Nachhinein, wenn einem trotz einiger Bergerfahrung noch hin und wieder das Adrenalin durch den Körper schießt.
Nun folgt wieder solider Klettersteigspaß, aufwärts und größtenteils gesichert. Wir haben einigen Gegenverkehr durch Absteiger, das berechtigt uns zu der Hoffnung, dass der Gipfel bei unserer Ankunft menschenleer sein könnte. Die Kletterei in der prallen Nachmittagssonne beginnt, anstrengend zu werden. Am liebsten möchte ich nach jedem Meter eine Pause zum Japsen und Trinken einlegen. Endlich erreichen wir den oberen Berghang, tunneln eine Felsnadel und landen auf dem nächsten Klettersteig. Der windet sich relativ äquipotent auf schmalen Terrassenstufen um viele kleine Nebengipfel herum. Als Highlights seien die beiden kleinen Brücken aus Holzplanken erwähnt, die zwei schwindelerregende Klüfte überspannen.

(iv) Der Gipfel des Paternkofel (2746m)
Insgesamt drei Wege führen von unten auf den Paterno hinauf. Sie alle treffen sich an der sogenannten Gamsscharte knapp unterhalb des Gipfels. Hier war Michael schon einmal und zeigt mir zur Motivation unsere spätere Abstiegsroute: durch das schneebedeckte nördliche Kar auf die Dreizinnenhütte zu. Eine Gruppe von Engländern kommt gerade diesen Weg hinauf. Sie meinen, dank der gespannten Seile hätte zumindest der Aufstieg auch ohne „crampons“ kein Problem dargestellt.
Doch zunächst einmal wollen wir auf dem Gipfel unser Glück suchen. Die senkrechte Wand vor uns ist dank Drahtseilsicherung schnell überwunden, es folgt ein wüstes Gestolpere und Geklettere über Felsterrassen. Der optimale Weg existiert entweder nicht oder wir haben ihn schlichtweg übersehen. Ganz obenEigentlich war Michael schon einmal hier… Nach der Devise „der einzige Weg ist rauf, Baby“ finden wir dennoch den Gipfel und sind tatsächlich die einzigen Menschen hier oben. Alleine mit dem Gipfelkreuz und der Gedenktafel für Sepp Innerkofler, der für drei einsame Jahre hier begraben lag.
Neu für mich (Michael war schon einmal hier) ist der Ausblick auf die Drei Zinnen, das zweifellos mit Abstand meistfotografierte Motiv in Südtirol. Wie die abgekauten Zahnstümpfe einer titanenhaften Großmutter schauen sie aus. So unalpin, dass sie selbst in den an bizarren Formationen so reichen Dolomiten hervorstechen. Ihr Anblick wird uns noch einige Tage (und einige Filme) hindurch begleiten. So sehr ich mich auf meine mitgebrachte Zigarre auch gefreut habe, so recht schmecken will sie mir nicht, denn mir dröhnt mächtig der Schädel. Ob von Höhenkrankheit oder vom gestrigen Methanolwein, vermag ich nicht zu beurteilen. Die Engländer haben uns endlich eingeholt, verteilen großzügig Bonbons und machen ein Gipfelfoto von uns.

(v) Der Innerkofler-de-Luca-Steig
Der Abstieg verläuft ebenso chaotisch wie der Aufstieg. Der Einstieg in die Kletterwand will erst einmal gefunden sein. Von der Gamsscharte aus hangeln wir uns an dem langen Drahtseil über die Schneepiste talwärts. Hier erweisen sich Fahrradhandschuhe als besonders nützlich, denn das Seil ist rostig, nass und rutschig. Schließlich verlassen wir den Schnee und halten uns an den Pfad, der links unterhalb der Felswand verläuft. Nach einigen kurzen Kletterstücken erreichen wir den Eingang eines Stollensystems.
Ein italienisches Pärchen scheint dort nur auf uns gewartet zu haben. Zu unserem Glück, denn die beiden kennen sich hier aus und haben eine anständige Taschenlampe dabei. Mit unseren Minifunzeln und unseren bescheidenen Ortskenntnissen – nur Michael war schon einmal hier – wären wir vielleicht auf einen der vielen Nebenstollen hereingefallen, die alle eines gemeinsam haben: sie versprechen einen lichten Ausgang, enden aber jäh oberhalb einer senkrechten Felswand. Reingefallen aber nicht rausgefallen (c) by MBSo jedoch meistern wir die ungezählten Treppenstufen, die – für menschliche Beine überdimensioniert – in die dunkle, feuchte Tiefe führen. Die Soldaten, denen diese Stollen damals zu welchen Zwecken auch immer gedient haben, müssen sehr eigenartige Körperproportionen besessen haben: meterlange Beine und einen zwergenhaften Oberkörper. Dazu möglichst gar keinen Kopf, denn den kann man sich hier nur allzu leicht einrammen. Endlich ein Licht, diesmal das rechte. Wir finden uns auf einem Kamm wieder, die Dreizinnenhütte nur noch einen Steinwurf voraus. Bald sind wir unten. Das war tatsächlich ein phänomenales Abenteuer, auch wenn ich das in diesem Augenblick noch nicht zu würdigen weiß. Ich bin vollkommen erledigt.

(vi) Alpenglühen auf der Dreizinnenhütte
Die Dreizinnenhütte ist der wohl bekannteste Außenposten menschlicher Zivilisation in den Dolomiten. Der Garten von Hugo und Milka (c) by MBDie einmalige Lage am Fuße des Paternkofel mit Blick auf die Drei Zinnen und die Nähe zur Fahrstraße – von der Auronzo Hütte ausgehend kann man in einer Stunde hier sein – locken tagsüber Scharen von Touristen aus Misurina an. Diese Tatsache lassen sich die beiden Hüttenchefs Milka und Hugo Reider reichlich vergolden, denn nirgendwo sonst findet der müde, durstige und hungrige solch gepfefferte Preise wie auf der Dreizinnenhütte. Für unser kapriziöses Doppelzimmer berappen wir den bisherigen Rekordpreis von je 53000 Lire. Obwohl die Hütte von außen den Eindruck eines luxuriösen Grandhotels macht, fehlt eine warme Dusche. Irgendjemand will von irgendjemand anderem gehört haben, dass es irgendwo eine verborgene Dusche gebe, versteckt hinter irgendeiner geheimen Wand, die sich bei Zahlung von 10000 Liren auf magische Weise öffnen solle. Geht zu Unrecht neben den Drei Zinnen unter: der PaternoGewiss nur ein Gerücht. Für das Geld besorge ich mir lieber einen Teller Spaghetti. Später am Abend werden wir Zeugen eines immer wieder überwältigenden Naturschauspiels. Durch einen aberwitzigen Zufall finden die Strahlen der tiefstehenden Sonne noch für einen Augenblick ihren Weg an all den Bergen im Nordwesten vorbei und tauchen den Paternkofel und die Drei Zinnen in ein sattes Orangerot. Alle Hüttengäste stehen staunend draußen, Kamera bei Fuß, bereit, die letzte Millisekunde vor Sonnenuntergang abzuwarten und das perfekte Postkartenmotiv einzufangen.
Auch Herr Braun aus Bad Hersfeld oder Umgebung ist darunter und er erzählt uns noch eine Gutenacht-Anekdote: von der Großen Zinne, wie sie vor Jahren durch einen Blitzschlag einen Kopf kürzer gemacht wurde und seitdem streng genommen kein Dreitausender mehr sei. Prost und Gute Nacht.

Siehe auch: Paternkofel Fotospecial

Paternkofel Fotospecial

So präsentiert sich der Osthang des Paterno aus der Ferne…

…und so aus der Nähe. Beim Durchklettern einer tiefen Spalte galt es ein rutschiges Schneebrett zu überqueren.

Zwei junge Italienerinnen fliehen vor uns durch ein Loch im Fels.

Der Invalidensteig führt durch eine groteske Landschaft über schmale Felsbänder…

…und lustige Holzbrücken zur Gamsscharte.

Von dort kraxeln wir über einen gesicherten Steig die senkrechte Wand hinauf…

…zum Gipfel des Paterno.

Die Drei Zinnen zum Greifen nah…

Der Abstieg durch den Kriegsstollen. Zwerge sind hier ausnahmsweise im Vorteil.

Unverhoffte Aussicht am Ende eines Lichtschachtes.

Die Erlösung naht in Gestalt der Dreizinnenhütte.

Abendlicher Hüttenzauber. Der Paterno glüht…

…die Drei Zinnen glühen, …wir auch…

3.Tag: Die Besteigung der Schusterplatte

© Stefan Maday 13.08.2001