Durch das Grödner Joch zur Pisciadu-Hütte (2585m)

Durch das Grödner Joch zur Pisciadu-Hütte (2585m)

27.06.2000

(i) Nepp und Ungewißheit Nach einer durchwachsenen Nacht — ich weiß nun, wer der Schnarcher ist — serviert uns der Wirt der Puezhütte ein frugales Frühstück bestehend aus einer einzigen Tasse Tee respektive Kaffee sowie zwei kleinen Scheiben Weißbrot mit etwas Marmolada. Alles zusammen zum Spottpreis von 10000 Liren. Vielleicht hatte er nur einfach nicht mehr da, denn der Hubschrauber kommt erst heute. Da sind wir glücklicherweise nicht mehr hier. Heute werden wir eine Entscheidung über unseren weiteren Weg fällen müssen. Ursprünglich hatten wir die Boe-Hütte im Herzen der Sella als Ziel unserer dritten Tagesetappe angepeilt. Nach den beiden ersten Touren haben wir gelernt, unser Leistungsvermögen etwas realistischer einzuschätzen. Die Boehütte scheint für uns heute kaum erreichbar. Auch von unseren Mitwanderern haben sich nur die Fünf Freunde dieses Ziel gesteckt, die Bergers wollen bis zur Pisciadu-Hütte, die Zwickauer gar nur bis zum Grödner Joch marschieren. Dabei ist es fraglich, ob wir überhaupt so weit kommen, Michaels Knieschmerz ist schlimmer geworden. In weiser Voraussicht hat er einen Verband mitgenommen und bastelt sich daraus eine provisorische Bandage. An was er alles gedacht hat! Ich habe anscheinend nur nutzlosen Krempel bei mir wie den Föhn, der in keine Steckdose paßt oder die Mückensalbe, zu der es keine passenden Insekten gibt. Mein kleines Radio spricht nur noch Italienisch mit mir und das schwere Brot hat gestern schon wie Kaugummi geschmeckt. Wir vertagen unsere Entscheidung, bis wir am Grödner Joch sind, dort müssen wir in jedem Fall vorbei. Dann wird sich zeigen, ob und wie weit wir noch können. Aufi geht es den Dolomiten- Highway Nr.2 nach Süden. Der Pfad ist angenehm anspruchslos und verläuft nur leicht abfallend am östlichen Ende des Langentals (Val Lunga) vorbei. Von dort läßt sich ein Teil des Grödner Tals überblicken, vorne das Dorf Wolkenstein, dahinter muß irgendwo St.Christina liegen. Unten ist es noch dunstig. Kurz vor dem Ciampacjoch offenbart sich im Süden ein Stück der Marmolada, die dank ihres ausgedehnten Gletschers unverwechselbar ist. Wir hatten ursprünglich einmal eine Begehung der Marmolada in Erwägung gezogen, der Gedanke an Schnee und Kälte hat uns schließlich doch abgeschreckt. Hier, etwa 1000m tiefer, läßt es sich gerade so aushalten. Wenn nur dieser Wind nicht wäre.

  (ii) Die öden Ebenen des Puezmassivs
Durch einen steinernen Trog erreichen wir das Joch und betreten schließlich die Crespeina- Hochebene, eine wilde und öde Landschaft, bestehend aus abgeschmirgelten Dolomitfelsen und Parzellen kränklich aussehenden Grases, dessen Aussaat nicht mehr als einen verzweifelten Versuch des Lebens darstellt, an diesem Ort unbedingt Fuß fassen zu wollen. Ein angemessenes Szenarium für unsere erste Pause. Die Sonne hat den morgendlichen Dunst aufgelöst und brennt inzwischen mit Vehemenz. Der Himmel ist dermaßen blau, wie man ihn im dreckigen, immerfeuchten deutschen Flachland niemals zu Gesicht bekommt. Kein Wassertröpfchen, kein Sulfatkriställchen stiehlt der Rayleigh-Streuung die Schau.
So rein, so dunkelblau. Mit einem Wort: azzuro! Meine tauben Lippen verlangen immerfort nach Einfettung. Nie wieder werde ich Werbeanzeigen für Lippenstifte mit Lichtschutzfaktor 32 belächeln. Nacken und Waden haben sich auch eine pralle Röte zugelegt, das ergibt später eine todschicke Partialbräune, die sich außerordentlich gut im Schwimmbad macht.
Ein kurzer, aber atemraubender Anstieg führt uns letztlich zum Crespeinajoch (2528m), einem steinernen Tor, das einen wunderbaren Aussichtspunkt darstellt. Wieder eine gute Gelegenheit zum Pausieren. Der Rucksack scheint nicht mehr ganz so schwer wie an den beiden ersten Tagen, an was man sich nicht alles gewöhnt. Von hier aus können wir den Langkofel wieder sehen, wie er unerwartet steil und massig aus der grünen Wiese schießt. Fünf oder sechs Kilometer Luftlinie, in zwei Tagen werden wir dort sein.
Unser Pfad wird nun ziemlich eng und führt uns bergab entlang der Schotterpiste des Col Torron. Michael hält sich wacker, offenbar bringt die Kniebandage wirklich etwas. Aber der Hammerabstieg kommt erst noch. Immer mehr Menschen strömen uns entgegen, Tagestouris, die vom Grödner Joch aufgestiegen sind. Neidisch beäugen wir ihr leichtes Gepäck, bestehend aus kleinen Rucksäcken oder gar Handtäschchen.
Nach kurzem Anstieg gelangen wir zum Cirjoch (2469m). Wieder ein neues Panorami, diesmal ist es die Sella, die bereits zum Greifen nah scheint. Leider müssen wir dazu erst einmal 350m talwärts trampeln, um danach wieder 450m hoch zu stiefeln. Eine Brücke wäre hier vielleicht angemessen…

(iii) Beschwerlicher Abstieg vom Cirjoch zum Grödner Joch Durch ein Labyrinth von Felsnadeln schlängeln wir uns in die Tiefe, bis sich der Weg allmählich öffnet und den Blick auf das Grödner Joch (Passo Gardena, 2120m) freigibt. Schmerz stellt sich ein, als wir immer schön mit den Knien bremsend der steinigen Wendeltreppe nach unten folgen. Mit der hochalpinen Idylle ist es zunächst einmal vorbei, Scharen von Wanderern entgegnen uns, wir haben es längst aufgegeben, sie alle zu grüßen. Eintagsfliegen. Die Vegetation ändert sich, will sagen, es wachsen wieder anständige Pflanzen wie Kiefern und sogar ein paar Bäume. Von weitem glitzert die Dolomiten- Höhenstraße in der Sonne. Auf ihr vergnügen sich ungezählte Ausflugsbusse und Motorradfahrer damit, den lieben langen Tag die Serpentinen hoch und runter zu düsen. Entlang der Straße reihen sich ein paar wenige Häuser auf, doch nach der Einsamkeit der letzten Tage erscheint uns dieser künstliche Weiler beinahe wie eine große, neonglitzernde Stadt. Endlich unten angestolpert suchen wir uns eine Wiese zum essen und palavern. Es ist Mittag, die Zwickauer müßten schon lange hier sein, wahrscheinlich befinden sie sich bereits auf dem Weg zum Gipfel der Großen Cirspitze (2592m), neben dem Souvenirshop die Hauptattraktion des Jochs. Mit der Wunderkraft der Salami in unseren Adern wollen wir hingegen die Besteigung der Sella wagen und heute wenigstens noch die Pisciadu-Hütte ansteuern. Vom Grödner Joch aus erscheint diese Festung schier unbezwingbar, bis zu einer Höhe von 500m türmen sich die Wände des unteren Stockwerks gegen den Pass auf. Und doch muß es dort irgendwo eine Schwachstelle geben. Der Dolomiten- Highway wird sie uns weisen.
(iv) Die Erstürmung der Sella durch das Val Setus Hinter dem Restaurant, in dem Rucksack- Touristen wegen ihres peinlichen Odeurs ungern gesehen sind, stapfen wir den steilen Weg über die grüne Wiese empor, bis wir wieder felsiges Gelände erreicht haben und weiter um den Col da Masures herum bis zum Eingang in das Val Setus, das mehr eine steile Schlucht ist denn ein Tal. Was uns erwartet, ist wieder eine Schotterpiste, die es irgendwie schafft, noch steiler und strapaziöser als ihre Vorgänger zu sein. Mühsam arbeiten wir uns gegen die Schwerkraft und das rutschige Geröll durch das immer enger werdende Kar empor und erreichen nach mehreren Verschnaufpausen rechtschaffen müde die abschließende Felswand. Über einen kleinen Gletscher geht es nach links auf den Klettersteig. Klettersteige stellen sicherlich die attraktivste Variante dar, wenn es daran geht, einen Berg zu besteigen. Man hat alle Zeit der Welt, kann beim Umgreifen immer mal wieder herrlich durchatmen und gewinnt dennoch rasch an Höhe. Wo sonst bietet sich erwachsenen Menschen die Gelegenheit, nach Herzenslust auf allen Vieren herumzukrabbeln, ohne Aufsehen zu erregen? Auch die adrenalinösen Auswirkungen sollte man nicht unterschätzen. Selten ist man sich seiner eigenen körperlichen Verletzlichkeit bewußter als beim direkten Hautkontakt mit mehreren Gigatonnen Dolomitgesteins der Härte 4. Dieses durchgehend drahtseilgesicherte Exemplar einer Via Ferrata ist allerdings eher von der gutmütigeren Sorte und bei mäßigem Gegenverkehr sind wir nach etwa fünfzehn Minuten am oberen Absatz angelangt.
(v) Die Marslandschaft der Sella Dort streichen wir die Belohnung für all unsere Bemühungen ein in Gestalt eines vollkommen unirdischen Erlebnisses. Wir überblicken eine derart groteske Landschaft, wie ich sie bisher nur von den Bildern der Viking- Sonden her kannte, die Ende der Siebziger den Mars heimsuchten. Eine überraschend weitläufige und ebene Geröllwüste, die sich in dieser Form um den gesamten Sellastock herumzuziehen scheint. Felsbrocken bishin zu Automobilgröße (wer die wohl hier hingelegt hat?) säumen unseren Marsch einen kleinen Abhang hinunter, wo wir schon bald die Pisciadu-Hütte sichten, die nebst einem kleinen See idyllisch zu Füßen der Pisciadu-Spitze (Cima Pisciadu, 2985m) mitten in dieser bizarren Schrotthalde gelegen ist. Hinter dem See steigt eine Rinne Richtung Süden auf das obere Stockwerk der Sella empor, gegen den gelblichen Schotter zeichnen sich deutlich zwei Trampelpfade ab. Der linke führt zur Boehütte, unserem eigentlichen Tagesziel. Obwohl es erst früher Nachmittag ist, sind wir rechtschaffen platt und sparen uns die Tour für morgen auf.
(vi) Nudeln und Nebel auf der Pisciadu-Hütte Wir checken ein und stellen mit Bedauern fest, daß Warmduscher hier nicht auf ihre Kosten kommen. Dann gehen wir halt im See baden. Leider bemerken wir, daß am Ufer noch Schnee liegt, also brauchen wir den Bademeister gar nicht erst nach der Wassertemperatur zu fragen und entspannen uns für den Rest des Nachmittages lieber im Windschatten eines der zahlreichen Monolithen. Das Abendessen fällt schmal weil schnitzellos aus, ein harter Rückschlag für unsere Fleischdiät. Inspiriert durch soviel Askese nehme ich gleich noch meinen alkoholfreien Abend. Das verdiente Alpenglühen fällt heuer aus, denn es beginnt ein düsteres Wetter aufzuziehen. Nebelschwaden wabern geisterhaft zwischen den Ritzen und Spalten der Felswände hindurch und legen sich bleiern um Hütte. Das Wetterglück scheint uns zu verlassen. Nicht auszudenken, wenn wir morgen das Dach der Dolomiten in strömendem Regen oder gar einem Schneesturm überqueren müßten. Abwarten, vielleicht handelt es sich nur um eine allabendliche Gruselvorstellung für Touristen. Gut gelungen. Als wir im Bett liegen, ist es draußen noch nicht einmal völlig dunkel. Wir sind großzügig untergebracht, da nur zu viert mit den Bergers auf einem Zimmer. Endlich ein Anflug von Privatsphäre und Gemütlichkeit. Wenn ich heute Nacht wieder nicht schlafen kann, muß ich die Schuld wohl bei mir suchen.
Durch die Sella zur Friedrich August-Hütte (2298m)

Durch die Sella zur Friedrich August-Hütte (2298m)

28.06.2000

(i) Frühaufsteher Hier auf der Pisciadu-Hütte verbrachte ich erstmalig in den Dolomiten eine Nacht in einem Zustand, der den Namen Schlaf auch wirklich verdient hat. Guter Dinge hängen wir nach Katzenwäsche und Rucksackpacken noch ein wenig in der Frühstückslounge herum, ohne zu frühstücken — der traurige Anblick des gestrigen Frühstücks brennt uns noch immer auf der Netzhaut, so daß wir lieber erstmal ein paar Steilhänge nehmen und uns danach die mitgebrachten Salamis unter freiem Himmel neiwursteln wollen. Das Wetter darf man bestenfalls als indifferent bezeichnen. Zwar scheint die Sonne, ihre Strahlen durchdringen die hohen Schleierwolken jedoch nur mit Mühe. Zwischen den Gipfeln, insbesondere gen Norden, hängen dichte Nebelfetzen in den Tälern. Wenn wir jetzt vierzig Jahre hier gelebt hätten, wüßten wir die Zeichen vielleicht zu deuten. So lassen wir uns überraschen und hoffen, daß es zumindest trocken bleibt. Müßig zu erwähnen, daß es draußen eiskalt ist. Ein junger Spund mit Berliner Schnauze platzt herein. Ein Frühaufsteher, der mal eben vom Grödner Joch aus durch das Val Setus und über den Klettersteig hier hoch gejoggt ist. Wer morgens einen Dreitausender besteigen und abends im Gardasee planschen will, muß sich auch beeilen. Wir machen uns auf. Nahziel ist die Boe-Hütte, danach müssen wir improvisieren. Von allen ursprünglichen Gampenalm- Bekanntschaften sind nur noch die Bergers auf unserer Route, alle anderen haben wir aus den Augen verloren.
(ii) Der Weg zur Boe-Hütte Den Weg haben wir gestern schon ausbaldowert, über den schotterigen Westhang der Pisciadu- Spitze führt er durch das Vallon del Pisciadu stetig himmelwärts. Da werden die armen Knochen sehr schnell warm. Die Hütte nebst Weiher liegt schon bald wie eine verlorene Miniatur unter uns inmitten der grotesken Trümmerhalde. Immer steiler wird der Anstieg und der Pfad biegt nach links in das winzige Tal mit dem lustigen Namen Val de Tita. Der Klettersteig, der auf der Tabacco- Karte lang und breit mit roten Kreuzen an dieser Stelle verzeichnet ist, erweist sich als zwei Meter langer Witz. Oberhalb des Gletschers, der noch das ganze Tälchen bedeckt, gönnen wir uns das hart und redlich verdiente Frühstück. Der Wind weht heute noch kälter als üblich, da muß jetzt auch noch die Regenjacke als letztes Ass im Ärmel herhalten. Ein Hauch von Italien. Der Berliner hat uns schnell eingeholt, kein Wunder bei dem kleinen Rucksack, den er mit sich trägt. Außerdem würde er in Berlin viel klettern, meint er. Es ist immer wieder erstaunlich, was unsere supertolle Hauptstadt alles zu bieten hat, und daß es dort sogar Berge gibt, war uns Provinzdeppen neu. Vielleicht trainiert er an den zahllosen Baukränen. Bei der Kälte sind wir so richtig motiviert, schnell wieder Fahrt aufzunehmen. Der Pfad windet sich rechts über grobes Geröll, um schließlich auf einem verschneiten Hang wieder steil empor zu steigen. Wir sind endlich auf einem Plateau gelandet. Leider ist die Fernsicht wegen der Wolken nicht sehr ausgeprägt. Doch im Nahbereich bietet sich uns der beinahe schon gewohnte Dolomiten- Anblick: Türme über Türme, die wie Morcheln senkrecht aus dem Dunst schießen. Eine Stange kreuzt unseren Weg, als wir in Richtung Süden marschieren. Wir dürften mittlerweile etwa 2900m hoch liegen. Wir treffen die Bergers und gehen mit ihnen über das steinerne Plateau in Richtung auf den Zwischenkofel, erst einen Hang hinunter, schließlich in Serpentinen hoch auf den Gipfel (2907m). Wieder Zeit für eine Pause. Die Boe-Hütte ist von hier aus sichtbar, ebenso der Piz Boe, den wir in jedem Fall heute besteigen wollen. Auf dem Gipfel erkennt der ungeübte Beobachter ein Häuschen und ein merkwürdiges Ding, welches am ehesten an die Leinwand eines Autokinos erinnert. Sehr merkwürdig. Der Berg selbst wirkt eher unspektakulär, wie ein rundgeschliffener Tafelberg und nicht wie die typischen Dolomitengipfel mit ihren schroffen, senkrechten Wänden. Überhaupt ähneln die Formationen auf dem Dach der Sella keinen, die wir bisher gesehen haben. Es gibt keine nennenswerte Vegetation und alles erscheint irgendwie hügelig, sanft und abgeschliffen. Die Felsen sind glatt und nur von Karren durchzogen, Zeichen einer Karstlandschaft. Große, kantige Felsbrocken wie auf dem unteren Stockwerk sucht man hier vergeblich. Wo sollten die auch herunterfallen, wenn nicht vom Himmel. An der Nordostflanke des Zwischenkofel gähnt ein atemberaubender Abgrund, dort geht es etwa 500m senkrecht in die Tiefen des Val de Mezdi hinunter. Ein unbeschreiblicher Anblick, wir wagen es kaum, uns dem Rand der Abbruchkante zu nähern. Stattdessen marschieren wir schnurstracks weiter gen Süden und erreichen nach wenigen Minuten die Boe-Hütte (2871m). Die Hütte ist gut frequentiert, viele Wanderer kommen vom Pordoijoch hierher, trinken ein Süppchen und besteigen anschließend den Gipfel des Piz Boe, zu dessen Füßen die Hütte gelegen ist. Als zusätzliches Highlight darf man heute den Versorgungshubschrauber bestaunen, der die Hütte immer wieder in kurzen Intervallen ansteuert und prall gefüllte Netze mit prall gefüllten Bierfässern abwirft. So funktioniert das also mit der Logistik. Reichlich umständlich, da darf man sich über die horrenden Preise für Flüssignahrung nicht beschweren.
(iii) Die Besteigung des Piz Boe (3152m) Wir deponieren unsere Rucksäcke in der Hütte und gehen die Besteigung des Piz Boe an. Eine tolle Aussicht dürfen wir auf dem Gipfel nicht erwarten — der Himmel hat sich immer mehr zugezogen — doch wann bietet sich einem schon einmal die Gelegenheit, einen waschechten Dreitausender zu erobern. Damit können wir zu Hause ordentlich protzen, obwohl wir von unserer Position aus eigentlich keine 300Hm mehr hochkraxeln müssen. Ohne schweres Gepäck kommt uns der Aufstieg beinahe wie ein Sonntagsspaziergang vor, über Schneefelder und Geröll hüpfen wir die Westflanke des Berges hinauf bis zu einem kurzen Klettersteig, der über einen schmalen Sims führt, bei Trockenheit aber kein Problem darstellt. Links folgt eine Abzweigung über den schmalen Grat der Cresta Strenta, wir folgen dem Pfad, der nach rechts in südliche Richtung ansteigend bishin zum Gipfel führt. Da stehen wir schließlich auf dem Gipfel und haben dafür kaum eine halbe Stunde gebraucht. Der Piz Boe ist wahrlich ein Gipfel der Superlative: mit Abstand der höchste, den ich in meiner jungen Karriere bisher bestiegen habe und auch der mit Abstand häßlichste. Mittendrauf steht hier die Imbißbude mit Namen Capanna Piz Fassa und das flache Ungetüm, das nach unten weithin sichtbar ist, erweist sich als gewaltige Satellitenschüssel. Es ist schon peinlich, wie manche Berge dem hemmungslosen Tourismus geopfert werden. Nach dem Glauben der Eingeborenen waren die höchsten Gipfel einst Residenzen der Götter, heute errichtet der Mensch dort Tempel für den einen und offenbar einzig wahren Gott Mammon. Ich persönlich sehe mich durchaus in der Lage, für ein paar Stunden auf zivilisatorische Errungenschaften wie Bier, Maccaroni und Ansichtskarten zu verzichten, doch schließlich bin ich auch aus freien Stücken hier. Nachdem wir für das obligatorische Gipfelkreuzfoto posiert und dem Hubschrauber, der auch hier sein Bier los wird, eine Weile zugesehen haben, ziehen wir uns an den Südrand des Gipfels zurück und hoffen, einen Blick auf die Marmolada (3342m) zu erheischen, den höchsten und majestätischsten aller Dolomitengipfel. Vergeblich, sie ist ständig in Wolken gehüllt. Schade, gestern um die gleiche Zeit hätten wir hier noch eine phänomenale Aussicht genießen können. Wenigstens den Eissee, Lech d’Lace, dürfen wir von hier oben aus bewundern. Ein See, der wie der Name schon andeutet, vereist ist. Wow! Beim nächsten Mal sind die Schlittschuhe dabei. Bald sind wir durchgefroren und beginnen wieder mit dem Abstieg. Wir beeilen uns lieber, denn es beginnt leicht zu schneien. Auf dem Klettersteig kommen uns vier schwule Cowboys aus Texas entgegen, um die uns nicht bange ist, denn sie werden sich oben auf dem Gipfel gegenseitig warmhalten können.
(iv) Eine Busfahrt, die ist lustig… Zurück in der Boe-Hütte studieren wir die Busfahrpläne, die wir uns im TVB von St.Christina besorgt haben. Unsere anfängliche Routenplanung ist seit gestern vollkommen durcheinander geraten, von nun an wird improvisiert. Wir wollen uns bis zum Pordoijoch durchschlagen und von dort mit dem Bus weiter bis zum Sellajoch fahren. Dann ist es nicht mehr weit bis zur Friedrich August-Hütte, die strategisch günstig am Anfang des gleichnamigen Almweges liegt, der uns morgen bis zum Rosengarten führen soll. Die Südtiroler Verkehrsbetriebe haben sich alle Mühe gegeben, ihre Fahrpläne so transparent und übersichtlich wie nur möglich zu gestalten. Nach einer Viertelstunde intensiven Studiums haben wir auch schon zumindest eine vage Ahnung von den für uns relevanten Abfahrtzeiten. Wir verabschieden uns von den Bergers und treten den Weg zum Joch an. Der verläuft zunächst ziemlich unspektakulär über Geröll immer parallel zum Hang nach Süden, bis wir wieder auf unseren guten alten Dolomiten- Höhenweg Nr.2 stoßen, der uns letztlich sicher in westlicher Richtung zur Rif.Forcella Pordoi (2829m) geleitet. Hier droht der steile Abstieg zum Pordoijoch durch eine enge Spalte über loses Geröll. Alternativ dazu besteht 100m höher die Möglichkeit, von der Mariahütte mit der Gondel ins Tal zu schweben. Eine italienische Schulklasse kommt von dort herunter zu uns. Die Kinder drücken Michael ihre Kameras in die Hand, reihen sich brav auf und lassen den armen Kerl ein halbes Dutzend Aufnahmen von sich machen. Schließlich klettern sie wieder zurück zur Gondelstation. Wir folgen ihnen und sparen uns den langwierigen Abstieg zu Fuß, denn der Himmel verdüstert sich immer mehr und die Beine sind auch schon wieder schwer. Mit einer Riesengondel, wie man sie aus James Bond-Filmen kennt, sind wir die Strecke in wenigen Minuten hinuntergesegelt. Kaum sind wir im Tal, bricht ein heftiges Gewitter über uns herein. Sehr weise von uns, diesen Weg zu nehmen. Per pedes in dem steilen Kar wären wir jetzt in erhebliche Schwulitäten geraten. Im Cafe der Gondelstation vertrödeln wir die Zeit bis zur Ankunft unseres Busses mit dem Verzehr von Jagatee. Der zweite Bus kommt sogar planmäßig und befördert uns für wenig Geld im ersten Gang zum Sellajoch.

(v) Putenschnitzel a la Friedrich August
Der Regen hat angenehmerweise aufgehört, doch der Boden ist tief und matschig geworden, als wir auf der Suche nach dem Friedrich August-Weg über die grünen Wiesen irren. Endlich durch knietiefen Schlamm waten, wie haben wir uns danach verzehrt. Ein Blick auf die Sella hinter uns offenbart den Piz Boe in frischem Weiß. Schön, daß wir nicht mehr dort oben sind, bei Schnee hat eine solche Gipfeltour sicherlich ihr ganz eigenes unangenehmes Flair. Schließlich finden wir die Friedrich August-Hütte gemütlich im Grünen zu Füßen des Langkofel gelegen.
Ein schönes Zimmer zu zweit, eine warme Dusche mit Netzadapter für meinen Föhn und ein 3-Gänge-Menü zu einem fairen Preis lassen uns schnell vergessen, daß wir heute beinahe elf Stunden auf den Beinen waren. Morgen geht es gemütlich über die Almen, das verspricht ein richtiger Tralala-Tag zu werden.