Die Besteigung der Schusterplatte (2957m)

Die Besteigung der Schusterplatte (2957m)

03.07.2001

(i) Milka und Hugo der Boss Reider (Vorspiel)
Nach den gestrigen Strapazen hatten wir einen erneuten nächtlichen Achtstünder wirklich verdient. Die SchusterplatteAbgesehen von einem bleiernen Muskelkater in den Oberschenkeln fühlen wir uns fit und voller Tatendrang wollen wir uns in Kürze einen richtig hohen Brocken vornehmen. Bereits gestern abend haben wir für heute die Besteigung der Schusterplatte angedacht, jenes unförmigen Kolosses, dessen Südwand unseren Fensterblick ziert. Aus der Ferne betrachtet scheint dort nicht übermäßig viel Schnee zu liegen.
Draußen vor der Hütte erwischen wir Hüttenboss Hugo Reider denkmalgleich auf einem Sockel stehend und mit seiner Handyantenne herumwedelnd um Netzempfang ringend. Mit Erfolg, und so erfahren wir, dass es offenbar technische Probleme mit seinem Bagger gibt. Schade, dadurch verzögert sich der Ausbau der sympathischen Kloakengrube neben der Hütte. Milka ist besserer Laune, als wir ihr erneut 106000 Lire für die kommende Nacht in die Hand drücken. Derart gebeutelt lassen wir das Frühstück aus und bauen stattdessen auf unseren Proviant.

(ii) Der Anstieg
Mit halbem Gepäck gehen wir die Sache zuversichtlich an. Die Klettergurte haben wir vorsorglich eingesteckt, denn eventuell möchten wir auf unserem Rückweg noch einmal den Toblinger Knoten (2617m) besuchen. Dort wurde ein Leiternsteig aus dem Krieg rekonstruiert, der heute allgemein als das El Dorado für Möchtegernfeuerwehrleute gilt. Der Weg führt uns locker an den beiden Seen vorbei hin zur Innichriedlscharte. Auf einer netten Wiese gönnen wir uns ein Frühstück bestehend aus Keksen, Salami sowie Wasser unbekannter Herkunft und Konsistenz.
Hinter unserer Wiese beginnt abrupt die lebensfeindliche Zone in Gestalt einer riesigen Schotterpiste, die es zu traversieren gilt. Der Pfad windet sich einen guten Teil um den Westhang des Innichriedlknotens (2885m) herum und wir sind nicht besonders überrascht, dass er immer einmal wieder unter Firnschneebächen verschwindet.
Endlich gelangen wir zum Kar südöstlich der Schusterplatte. Nun heißt es Höhe gewinnen. Teils über rutschigen Schotter, teils über felsige Terrassen. Der Pfad ist oft gar nicht zu erkennen. Die Sonne brennt derweil auf uns herab. Ein kleines Bächlein hilft uns beim Strecken unserer Wasserreserven. Atemlos erreichen wir schließlich einen Felsabsatz. Dort werden wir bereits erwartet.

(iii) Gefahrvolle Augenblicke
Ein Mädchen und sein Großvater. Sie waren schon auf dem Gipfel und können es gar nicht erwarten, uns den Weg zu zeigen: statt geradeaus auf den Sattel, wie wir vermutet hatten, führt der tatsächlich links eine schmale Felsenschlucht hinauf. Die ist allerdings unverschämt steil. Damit nicht genug: sie ist bedauerlicherweise auch mit Schnee bedeckt. Stolz berichten die beiden, wie sie auf allen Vieren dort rauf- und wieder runtergeklettert sind. Die Hände nur immer schön tief in den Schnee bohren, dann klappt das schon. Wir sind entgeistert.
So kurz vor dem Ziel wollen wir jedoch nicht unverrichteter Dinge wieder umkehren. Wir versuchen es mit unseren Stöcken. Es gibt Momente im Leben, da möchte man nicht um jeden Preis der Erste sein. Deshalb lasse ich gerne den skierprobten Michael vor. Wenn er auch hier und da einmal durch den Schnee bricht, bastelt er mir doch hübsche Treppenstufen. So arbeiten wir uns unendlich langsam den Steilhang hinauf, dessen Höhe wahrscheinlich kaum 20 Meter beträgt. Doch ein Sturz könnte hier fatale Folgen haben, da das Schneefeld nur wenige Meter breit ist und überall Felsen lauern, die bekanntlich nicht sehr gut flauschen.

(iv) Der Gipfel
Schließlich erreichen wir den Absatz. Nun kann es nicht mehr weit sein bis zum Gipfel. Links windet sich ein schmaler Pfad um einen Felsen herum und führt uns auf ein Geröllfeld. Der Weg verschwindet, doch ein kleines Schneefeld weist Fußspuren auf. Bald haben wir die Platte erreicht. Sie macht ihrem Namen Ehre: flach und ausladend ist das Gelände hier oben. Dazu roter Fels wie auf einem lanzarotischen Vulkan. Die höchste Stelle ist durch einen leeren Wegweiser markiert und lädt uns zum Gipfelglück. Beim Salamiessen auf dem Gipfel (c) by MB’s SelbstauslöserDie Laston dei Scarperi erweist sich als grandiose Aussichtsplattform im wahrsten Sinne des Wortes. Fast level mit der Großen Zinne erschließt sich uns ein beinahe 360 Grad umfassender Rundblick. Nur unmittelbar im Norden blockt die noch höhere Dreischusterspitze (Punta Tre Scarperi, 3151m). So lernen wir die schneebedeckten Gipfel der Marmarole ebenso kennen wie das Cristallomassiv, Ziel unseres letzten Ausflugstages. Fern im Südwesten glauben wir sogar den altbekannten Marmolada-Gletscher ausmachen zu können.

Vier Stunden haben wir von der Hütte aus benötigt. Stellt man die Frühstückspause und die Schneeschikane in Rechnung, liegen wir damit durchaus im Normalbereich. Ausnahmsweise. Mein Kopf fühlt sich wieder wie in Watte gepackt und ich beschließe, heute abend einmal versuchsweise dem Dämon Alk abzuschwören. Der kleine Zurbrüggen auf 2958mDie Sonne knallt gnadenlos vom Himmel und erzeugt selbst in dieser luftigen Höhe einen Hauch von Club Mediterrane. Die riesige Schneerolle, die sich am Nordrand des Gipfel breit gemacht hat, zeigt sich davon unbeeindruckt. Weil sie 90 Prozent der Sonnenstrahlung einfach zu reflektieren vermag, darf sie sich die kleine Hoffnung wahren, diesen Sommer zu überleben und vielleicht zum Fundament eines neuen Gletschers zu werden.
Ein einsamer Mann kommt zu uns herauf. Seine vermeintlich bessere Hälfte hat er unten am Schneefeld zurückgelassen. Da war doch was… Ich könnte noch den ganzen Tag hier faul in der Sonne herumliegen, doch Michael kann es offenbar gar nicht mehr erwarten, wieder durch den kalten Schnee zu robben. Die Entspannung weicht von mir und ich gebe mich geschlagen. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend steigen wir ab und finden uns wenige Minuten später – viel zu früh – an der pathologischen Stelle wieder.

(v) Gefahrvolle Augenblicke (Reprise)
Von oben betrachtet wirkt der verschneite Kamin noch viel gefährlicher. Wir beherzigen den Rat von Rotkäppchen und Großvater und gehen die Angelegenheit auf allen Vieren an. Die Füße voraus, die Finger in den Schnee gekrallt, immer bereit, bei der kleinsten Unregelmäßigkeit das Gesicht in das kalte Nass zu drücken. Schritt für Schritt. Nicht sehen können, wo man hintritt. Mit den Füßen nach Stufen im Schnee tasten und hoffen, dass sie halten. Das zieht sich in die Länge. Bald sind meine Hände taubgefroren. Will ich sie zum Aufwärmen kurz aus dem Schnee ziehen, beginnen meine Oberschenkel wie von Spasmen getrieben zu zittern. Kälte? Anstrengung? Panik?
Michael sitzt schon zum Trocknen in der Sonne und auf halber Höhe verlasse auch ich endlich das Schneefeld und rette mich in die Felsen. Entnervt. Ohne Steigeisen werde ich dergleichen nicht noch einmal machen.
Die Hände beginnen vehement zu schmerzen, das ist ein gutes Zeichen. Nur einige Fingerkuppen bleiben weiterhin ohne Sinn. Wir begrüßen die bessere Hälfte und machen uns an den Abstieg. Der führt den bekannten Weg zurück, das ist eher langweilige Routine und so erreichen wir irgendwann am frühen Nachmittag unsere Frühstückswiese.

(vi) Der Ausklang
Kein Gedanke mehr an Leiternstress beim Toblinger Knoten, wir verplempern den Rest des Tages lieber hic et nunc mit einer Serie von 5-Minuten-Schläfchen. Das kommt meiner Vorstellung von einem Erholungsurlaub schon recht nahe. Während über uns die Sonne glänzt, ziehen von Südwesten her dicke Wolken auf. Praktische ZinnenVerzweifelt versuchen sie, uns den Tag zu verderben, verheddern sich jedoch stets in den Drei Zinnen, die wie Türme in der Schlacht jeder Angriffswelle standhalten. Ein unterhaltsames Schauspiel. Und noch ein Schläfchen…
Nach geraumer Zeit lockt das Abendessen und wir stiefeln zurück in Richtung Hütte. Auf dem Pfad unterhalb des Toblinger Knotens machen wir eine merkwürdige Entdeckung: ein schmaler Riss zieht sich mehrere Meter über den Hang. Möglicherweise eine Sollbruchstelle für den nächsten Bergsturz. Das braucht uns wohl nicht mehr zu kümmern, wir verdrücken alsbald unser obligatorisches Wiener Schnitzel (22000 L mit Beilage), das auf italienisch eigentlich ein Mailänder Schnitzel ist (bistecca alla milanese). Die Schustergrillplatte hat ihre Spuren hinterlassen: genau wie im vergangenen Jahr haben wir uns die Lippen verbrannt. Der Schmerz beim Essen stellt dabei noch das kleinste Übel dar. Schlimmer sind die nekrosen Hautfetzen, die wir uns in den Folgetagen von den verdorrten Lippen pulen dürfen.
Nach dem Essen macht sich gähnende Langeweile breit, da ich meinen den Alkohol betreffenden Vorsatz eisern in die Tat umsetze. Bei dem auf Berghütten üblichen schmalen Unterhaltungsprogramm kommt dem Nüchternen jede Minute vor wie sechzig Sekunden. Doch selbst das geht vorbei. Wir planen die morgige Tour und landen irgendwann im Bett.

4.Tag: Von der Dreizinnenhütte zur Fonda Savio Hütte

© Stefan Maday 13.08.2001

Von der Dreizinnenhütte zur Fonda Savio Hütte (2367m)

Von der Dreizinnenhütte zur Fonda Savio Hütte (2367m)

04.07.2001

(i) Zu den Drei Zinnen
Nachdem sie fast neun Stunden außer Betrieb waren, sind meine Augen offenbar derart getrübt, dass ich beim ersten Blick aus dem Fenster fast gar nichts erkennen kann. Es hängt ein dichter Grauschleier über meinen Linsen. Als auch vermehrtes Reiben der Glubscherchen nichts an diesem Zustand ändert, schwant mir Böses: die Nebelsuppe ist authentisch. Das Wetter macht dort weiter, wo es gestern abend aufgehört hat.
Nach der üblichen rudimentären Morgentoilette packen wir unsere hundert Sachen und schicken uns an, der Dreizinnenhütte Lebewohl zu sagen. Schön war die Zeit. Und kostspielig.
Unser erstes Ziel für den heutigen Tag soll die Auronzohütte sein. Die liegt auf der anderen Seite der Drei Zinnen und ist von hier aus prinzipiell über zwei Routen erreichbar: den Senioren-Highway 101 an der Westflanke des Paterno oder den Weg 105, der sich etwas schwerfällig durch die Lange Alpe auf und ab windet. Da die Sichtverhältnisse eher bescheiden und die Muskelkater am frühen Morgen noch reichlich schmerzhaft sind, entscheiden wir uns für den einfacheren der beiden. Wir folgen dem breiten, gut ausgebauten Highway 101, der ohne große Höhenschwankungen im „Schatten“ des Paternkofel verläuft. RiesenzinneWir kommen zügig voran, denn Hugo Reider hat hier mit seinem Bagger fleißig Schnee geschippt, auf dass kein Turnschuhtourist aus Misurina den Weg zu seiner Hütte scheue. Neben der Schotterstraße liegt der Schnee noch teilweise mannshoch. Als wir den Paternsattel (Forcella Lavaredo, 2457m) erreicht haben, finden wir uns quasi direkt am Fuße der Kleinen Zinne wieder. Aus unmittelbarer Nähe wirken die drei Hauer richtig ehrfurchtgebietend, denn wir bekommen eine Vorstellung von ihren Dimensionen dank zweier Kletterer, die sich in der Ostwand der Großen Zinne vergnügen. In der gewaltigen 500m-Senkrechten sind sie praktisch nur mit dem Fernglas auszumachen.
Eine Gruppe von Schulkindern kommt von der Gegenseite herauf. Eifrig machen die Ragazzi Fotos von uns, denn sie halten uns offenbar für Klettersuperhelden oder – Geruch und Aussehen bedacht – für kuriose Bergprimaten. Vielleicht haben sie es auch nur auf die Drei Zinnen abgesehen und wir sitzen schlicht und ergreifend im Weg. Dennoch sollte ich mir heute abend einmal die Haare waschen.

(ii) Selbst ist der Mann
Dachten wir bis hierhin, die Sicht sei heute eher la la, werden wir auf der Südseite der Zinnen eines besseren belehrt. Während unseres Abstieges zur Auronzohütte stapfen wir durch einen fiesen nässenden Nebel, der es uns kaum gestattet, bis zur nächsten Biegung zu sehen. Die Südwände der Zinnen sind unsichtbar, nur die riesigen abgeschlagenen Felsbrocken am Wegesrand zeugen von ihrer Existenz.
Viele Wanderer kommen uns entgegen, aus der Anzahl der „Ciao“s und „Grüß Gott“s pro Minute können wir die Entfernung zur Auronzohütte gut abschätzen. Bald schält sie sich vor uns aus dem opaken Dunst. Keinen Augenblick zu früh, denn wir sind hungrig, nass und durchgefroren. Meine Kopfschmerzen melden sich wieder, folglich sind sie wohl eher hypoxischen als alkoholischen Ursprungs. Das freut mich sehr, so kann ich heute abend auf der Hütte wieder guten Gewissens zulangen. Das wird auch nötig sein, denn schließich haben wir auf der Fonda Savio Bettenlager gebucht. Auch Michael fühlt sich heute schlapp, meint, er hätte sich wohl müde geschlafen heute nacht.
An der Selbstbedienungstheke holen wir uns das lange überfällige Frühstück: zwei gigantische Käsebrötchen und eine Dose koffeinhaltiger Limonade aus Atlanta für 14000 Lire. Draußen scheint gar kurzzeitig die Sonne, der Nebel lichtet sich und gibt für einen Moment den Blick auf unseren weiteren Weg frei. Das vermag unsere merkwürdig gedrückte Stimmung zumindest ein wenig zu erhellen.

(iii) Zur Fonda Savio, 1.Versuch
Der Weg mit der Nummer 117 ist kongruent mit dem Dolomiten-Höhenweg Nr.4 und derart bedeutend, dass er einen eigenen, wohlklingenden Namen führt: Sentiero Bonacossa. Von der Auronzohütte ausgehend durchschneidet er die Cadini Gruppe bishin zur Col de Varda-Bergstation oberhalb von Misurina. Ihm folgen wir die Grashänge des Monte Campedelle (2345m) hinauf bis zu einem Sattel unterhalb des vollkommen unbedeutenden Gipfels.
Von nun an schlängelt sich der Pfad über ein schmales Felsband um unzählige Vorsprünge herum. Unter uns liegt das Valle Campedelle und im Dunst können wir nur erahnen, wie weit es links von uns in die Tiefe geht. Einstieg in den Bonacossa SteigEin sehr interessanter Weg, der jedoch ständige Konzentration erfordert. Wir passieren einige künstliche Nischen im Fels, wie es sie überall in dieser Gegend gibt: Pockennarben des Krieges. Noch eine Biegung nach rechts und wir stehen endlich vor dem Einstieg in den Bonacossa Klettersteig.
Michael bekommt mit einem Male kalte Füße, meint, er fühle sich schon den ganzen Tag wackelig auf den Beinen und er würde einen etwas zivilisierteren Weg zur Fonda Savio Hütte bevorzugen. Ausgerechnet das allererste Stück ist nicht gesichert, ein kurzer aber sehr schmaler Sims. Da ist den Bergführern offenbar das Seil ausgegangen. Dahinter sind wieder Sicherungen vorhanden, soweit man im Dunst sehen kann (etwa fünf Meter). Es ist zwar nicht so, dass ich unter allen Umständen auf die Kletterei im Nebel erpicht wäre. Sie würde uns nur helfen, eine Menge Zeit und Energie einzusparen. Doch meine Motivationskünste versagen kläglich und so kehren wir wieder um. Vielleicht besser so, möglicherweise wäre wirklich etwas passiert und ich hätte mich in der Rolle der Advocatus Diaboli wiedergefunden.

(iv) Zur Fonda Savio, 2.Versuch
Kurz vor der Auronzohütte kürzen wir über den Hang zur Autostraße ab. Für kurze Zeit tauchen wir in eine andere, vergessen geglaubte Welt ein. Chromblitzende Motorräder und Cabriolets kommen uns entgegen. Hinter dem Parkplatz beginnt endlich ein Trampelpfad, der uns immer weiter absteigend bis unter die Baumgrenze geleitet. Hier unten ist es gleich ein paar Grade wärmer und Schnee wurde seit Monaten nicht mehr gesichtet. Schließlich geht es wieder aufwärts, wir lernen ein paar Kühe kennen, schleppen uns unter ärgsten Anstrengungen ein ausgetrocknetes Bachbett hinauf, überqueren ein interessantes Plateau mit hausgroßen Bouldern und erreichen letzlich die Rimbianco Scharte (2206m). Die Cima Cadini und der BonacossasteigHier treffen wir wieder auf den guten alten 117er. Ob wir über den Klettersteig wirklich schneller vorangekommen wären, werden wir niemals erfahren.
Wir umkreiseln die Cima Cadini und finden uns in einem schmalen Tälchen wieder, dessen Grund trotz der geringen Höhe über und über mit Schnee bedeckt ist. Der offizielle Weg führt selbstredend mitten durch die weiße Pampe. Wir schlagen uns alternativ oberhalb davon durch die Felsen, bis wir direkt unter der Fonda Savio Hütte stehen. Wir haben uns schon oft gefragt, wie auf all diesen einsamen Berghütten die Abwasserentsorgung geregelt ist. Nun sind wir schlauer, denn wir treten gerade durch ein Geröllfeld der besonderen Art: bestehend aus Müll und zementhartem Klopapier mit „Gimmick“. Lecker, lecker. Mal schauen, ob wir morgen früh nicht auch einen bescheidenen Beitrag leisten können.

(v) Hüttenzauber
Ein bisschen Kletterspaß haben wir dann doch noch, bevor wir die Hütte über den blau markierten Pfad erreichen. Die Hüttentochter zeigt uns sofort einmal unser „Zimmer“, das verdächtig nach einem niedrigen, dunklen und stickigen Dachboden aussieht. Rifugio Fonda SavioErreichbar nur über den härtesten aller Klettersteige in Gestalt einer gut zwei Meter hohen Holzleiter, an deren oberen Ende die Dachluke gähnt. Wer möchte da nicht zu gerne nachts betrunken mit voller Blase heruntersteigen?
Nach und nach trudeln immer mehr Gäste ein und die kleine Hütte wird gerammelt voll. Das Bier fließt und das Schnitzel mundet. Am Nebentisch sitzt eine Gruppe von Kletteranfängern, die ein einwöchiges Rauf- und Runterseminar mitmachen. Wir sind angenehm überrascht, dass dreiviertel der Teilnehmer weiblich sind und ich bin froh, dass ich noch ein frisches Shirt ohne hässliche Salzränder in petto habe. Wir lernen zwei Jungs aus Köln kennen, die aus der Gegenrichtung über die Diavolo Scharte gekommen sind und morgen in Richtung der Drei Zinnen weiter wollen. Sie sind bestens ausgerüstet mit Eispickel und Steigeisen, solcherlei Equipment hätte ich mir an der einen oder anderen Stelle auch gewünscht. Wir empfehlen ihnen jedenfalls guten Gewissens den Paternkofel.
Da wäre dann noch die Gruppe alter Haudegen, welche zumindest an der Bierfront alles geben. Wir haben das Privileg, den Dachboden mit ihnen teilen zu dürfen. Hoffentlich schnarchen und furzen die nicht die ganze Nacht…

5.Tag: Durch die Cadini Gruppe nach Misurina

© Stefan Maday 13.08.2001

Durch die Cadini Gruppe nach Misurina

Durch die Cadini Gruppe nach Misurina

05.07.2001

(i) Drei Leitern
Selten habe ich das Morgengrauen so sehr herbeigesehnt wie heute. An Schlaf war kaum zu denken, denn die alten Haudegen haben die ganze Nacht geschnarcht und gefurzt.
In Rekordzeit haben wir gepackt und kehren dem Dachboden den Rücken. Das Wetter ist nicht das Gelbe vom Ei, doch allemal besser als gestern. Nur ein paar wenige tiefhängende Wolken trüben den Gesamteindruck. Ten o’clock postman, bring me a ladder (c) by MBEin leckeres Frühstück ist noch drin, dann ruft schon wieder der Berg. Michael war schon einmal hier und empfiehlt den Leitersteig auf der Cima Cadini jenseits des Schneefeldes.
Wir durchqueren es mit einem mulmigen Gefühl, denn irgendwo unter der Schneedecke hören wir ein Bächlein rauschen. Da möchte man nicht unbedingt schon am frühen Morgen hineinplumpsen. Die Kletterei bis zum Einstieg führt über tropfenden Fels und ist ziemlich spannend, doch auf den Leitern vergeht mir bald die Lust. Das obligatorische Klick-Klack beim Umsichern erweist sich als lästig und zeitaufwendig. Bei Licht betrachtet scheint die Leiterkletterei eine ziemlich öde Angelegenheit zu sein und nichts für ungeduldige Naturen. Michael ist erst gar nicht mitgekommen, denn er war schon einmal hier. So steige ich gipfel- und reuelos wieder ab. Die Kletterdamen hängen mittlerweile tapfer in der Wand einer anderen Cima Cadini*.

(ii) Zwei teuflische Scharten
Für uns heißt es jedoch Ade sagen und der 117 hoch zur Diavolo Scharte folgen. Das nördliche Kar zwischen beiden Cime Cadini erweist sich als steil und – oh Wunder – schneebedeckt. Wenn wir auch immer noch quälend lange brauchen, entwickeln wir doch allmählich eine gewisse Routine im Rauf- und Runterschlittern, ohne es jedoch wirklich zu genießen. Lass jucken: Forcella Diavolo mit Blick auf Cima Cadini, Cima Cadini und Cima CadiniWas an der Scharte nun so teuflisch sein soll? In jedem Fall bietet sie eine schöne Aussicht auf eine Reihe gehörnter Cadinis und ein verlockendes Rastplätzchen für den Atemlosen. Über uns hören wir Stimmen von Bergsteigern, die sich an der Cima Cadini versuchen.
Der Abstieg erfolgt schneelos weil über den Südhang. Wir müssen einige Leitern überwinden, ehe wir gnadenlos abfallendes Schottergelände erreichen. Was wären die armen Kniegelenke ohne Stöcke und Bandagen. Endlich am Absatz angelangt, gönnen wir uns die nächste Pause und orientieren uns erst einmal, wo wir überhaupt hin müssen. Wieder hoch zu irgendeiner Scharte, soviel ist sicher. Glücklicherweise nicht zu der hohen direkt gegenüber, der Weg führt rechts versetzt einen steilen Hang hinauf. Ein Jüngling kommt diesen Weg hinab, gefolgt von seiner bedauernswerten Lebensabschnittspartnerin. Die bewegt sich ziemlich langsam und unsicher, so als sei jeder Schritt Wagnis und Tortur. So hat sie sich ihren Urlaub sicherlich nicht vorgestellt.

Wir durchqueren ein verschneites Bett und finden uns alsbald am Anstieg wieder. Der führt schweißtreibend über Humus und Schotter sowie einige künstliche Holzstufen hinauf bis unter eine Felswand. Dort beginnen Drahtseilsicherungen, die uns immer wieder sporadisch auf dem weiteren Weg nach oben begleiten. Abwechselnd darf geklettert und Schotter getreten werden. Auch ein schikanöses Schneebrett ähnlich dem am Paternkofel darf nicht fehlen. Die letzten Meter durch das immer steiler und enger werdende Kar arten in völlig unkontrolliertes Gekraxel und Gerutsche aus, denn der Fels ist seltsam bröckelig und der eigentliche Weg liegt unter einem Gletscher verborgen. Ein bisschen Glück muss man im Leben schon haben. Endlich am Scheitelpunkt angelangt, ist auch schon Mittagszeit. Heute kredenzt Maitre Aldi zur Abwechslung Salami und Kekse, wobei mir erstere allmählich zum Halse heraushängt.
Der Abstieg verläuft unspektakulär, nach einem kurzen Steilstück dümpelt der Weg endlos und kaum abfallend über einen tristen Schutthang dahin, bis wir endlich im Garten der Col de Varda Hütte (2201m) stehen. Der Sessellift befördert uns für je 9000 Lire gen Misurina, der Glitzermetropole mit Straßenverkehr und adretten Menschen.

(iii) Versuchungen
Hübsch haben sie es hier. Nicht zuletzt dank des idyllischen Sees, umrahmt von schicken Hotels und putzigen Souvenirshops. Und trotz Tallage (unter 1800m) lässt das Panorama keine Wünsche offen: im Westen erhebt sich der Monte Cristallo, nach Süden blickt man auf das eindrucksvolle, schneebedeckte Sofa mit Namen Sorapis. Hier lässt es sich aushalten…Am Nordosthimmel dürfen die Drei Zinnen nicht fehlen und so kommt es uns vor, als hätten wir uns in den letzten drei Tagen kaum vom Fleck bewegt. Nur unsere geschundenen Füße sprechen eine andere Sprache.
Zwei Stunden vertrödeln wir am Ufer des Sees, bis zur Abfahrt unseres Busses. Eine zähe aber erstaunlich preiswerte Fahrt nach Sexten beginnt. Dort fallen wir in die Pension Weberhof ein und verlustieren uns nach langer Askese an den Errungenschaften der Zivilisation: der warmen Dusche, frischen Klamotten, Television, der Pizza bei Marlies und Markus und und und… einem frisch bezogenen Bett.

(*) Der aufmerksame Leser wird vielleicht bemerkt haben, dass beinahe alle Gipfel der Cadini Gruppe „Cima Cadini“ heißen. Das liegt daran, dass sie alle gleich aussehen und hat den Vorteil, dass man sich hier schnell zurechtfindet („Wetten um ein Bier, dass das da vorne die Cima Cadini ist?“)

6.Tag: Die Besteigung des Herrstein am Pragser Wildsee

© Stefan Maday 13.08.2001

Die Besteigung des Herrstein (2447m) am Pragser Wildsee

Die Besteigung des Herrstein (2447m) am Pragser Wildsee

06.07.2001

(i) Wildsee statt Firnschnee
Es ist bereits halb zwölf mittags, als wir uns vor dem Hotel am Pragser Wildsee wiederfinden. Nicht, dass wir wegen Völlerei und nächtlicher Exzesse so lange in unseren gemütlichen Federn gelegen hätten. Vielmehr sind wir heute morgen schon fast 3 Stunden lang mit dem Auto in der Gegend herumgekurvt auf der Suche nach einem adäquaten Gipfelchen.
An der Talstation der Cristallobahn kurz vor Cortina d’Ampezzo wusste man zu erzählen, dass der Lift erst ab morgen fahre und dass man in der Gipfelregion wegen des vielen Schnees sowieso nicht viel unternehmen könne. Der wildeste ist er eigentlich nichtSchade, hatten wir uns doch für unseren letzten Tag einen hübschen Törn über den Dibonasteig ausgedacht nebst Besteigung eines Dreitausenderzinkens, welcher doch einen würdigen Jubiläumsgipfel (Nr.25) für mich dargestellt hätte. So hieß es – wieder einmal – umdisponieren, die Karte auf der Motorhaube ausbreiten und aus den vielen grauen Flecken einen als angemessenen Ersatz auswählen. Schließlich landete Michaels Finger auf eben jenem kleinen blauen Etwas am Nordrand der Pragser Dolomiten mit angeschlossenem Zweitausender – genannt Herrstein (Sasso di Signore).
Der Pragser Wildsee (Lago di Braies) präsentiert sich uns als ein wirklich idyllisches Gewässerchen mit klarem, blaugrünem Wasser und in drei Himmelsrichtungen umsäumt von den steilen Bergen der Pragser Dolomiten. Auf knapp 1500m Seehöhe gelegen, bietet er ein angenehmes Klimat für Seeumrunder und Tretbootkaleuns.

(ii) Apostolo Grande – ein Hauch von Italien
Wir umkurven den kleinen Nordzipfel des Sees und kehren seinem Ufer bald den Rücken, denn unser Weg mit der Nummer 58 führt uns direkt in den Wald hinein. Beim ersten geringen Anstieg tropft uns bereits der Schweiß in der Mittagsschwüle. Der große EinzelkämpferbaumWir entschließen uns, oben ohne weiterzustiefeln. Das schont die Kleidung und ergibt dank der Rucksackriemen attraktive Sonnenbrandmuster auf der Haut. Der Wald weicht schließlich einem weißen Schotterfeld und wir gönnen uns die erste Trinkpause.
Hinter dem großen Einzelkämpferbaum beginnt die Nordwand der Apostelkette, in der sich der Pfad allmählich in Ost-West-Richtung aufwärts windet. Die Strecke stellt keine besonderen Ansprüche an den Berggeher, lediglich an einer Stelle wird uns etwas mulmig: über uns vernehmen unsere Lauscher ein verdächtiges Geriesel, und als wenig später neben uns kleine Steinchen einzuschlagen beginnen ist alle Müdigkeit mit einem Male weggefegt und wir beschleuingen unseren Schritt vehement. Wie wir später feststellen werden, befindet sich oberhalb der Wand ein 45 Grad steiler Schotterhang und wir können uns lebhaft vorstellen, wie instabil so eine Rampe ist. Da mag schon ein Hüsterchen ausreichen und ab geht die Post.
Schweißgetränkt betreten wir schließlich einen kiefernüberwucherten Sattel. Nach rechts führt ein Trampelpfad zum Gipfel des Großen Apostel (1995m) hinüber, der nur einen halben Steinwurf entfernt liegt. Auf der Sitzbank stehend genießen wir den schwindelerregenden Ausblick auf den 500m unter uns liegenden See.

Das ist er also, mein 25. Alpengipfel, fast schon über der Baumgrenze… nicht gerade einer, von dem ich meinen imaginären Enkeln berichten müsste…und doch eigentlich ein ganz gemütlicher.

Bis zum Pass am Fuße des Herrstein haben wir noch 200Hm netto zurückzulegen und diese erweisen sich in der drückenden Hitze als äußerst beschwerlich. Lästige Insekten besummen uns und das mediterrane Kiefergestrüpp schrammt an unserer Haut herum, während wir uns den ausgetretenen Pfad im Schneckentempo hinaufquälen. Unsere Wasservorräte haben sich bereits bedenklich verknappt. Das vermeintlich nahe Rauschen eines Baches enttarnt sich als akustische Fata Morgana. Am Fuße des Herrstein pennt dieser Herr einEndlich weicht die Vegetation dolomitösem Schotter, wir entdecken gar ein wenig Schnee und haben irgendwann – wer zählt schon die Minuten – den Weisslahnsattel (Sella Lavina Bianca, 2194m) erreicht.
Wir werfen einen Blick auf die Südseite des Herrstein, dessen Gipfel immer noch steile 250Hm von uns entfernt liegt. Plötzlich macht sich seitens der Opposition heftige Kritik an der Sinnhaftigkeit der Besteigung breit, mit anderen Worten: Michael hat keine Lust mehr. Hört er denn das Rufen nicht? Sind wir soweit vorgedrungen, um im Angesicht des Ziels aufzugeben? Ich jedenfalls fühle mich bei meiner Masochistenehre gepackt. Ein wenig Kalkül ist natürlich auch dabei. Sollte es tastächlich einen Gott geben, so könnte man die Option auf ein wohltemperiertes Jenseits doch gewiss ein wenig vergrößern, indem man unter schlimmsten Entbehrungen auf seinen ureigenen Stein pilgerte.
Für lange Dispute sind wir viel zu müde und gelangen deshalb zu einem schnellen Konsens: ich werde solo hochsteigen, während Michael die verantwortungsvolle Aufgabe obliegt, das Basislager zu bewachen und die Grasmatten auf ihre Elastizität hin zu testen. Eine Stunde bis anderthalb werde ich wohl benötigen. Sollte ich länger fortbleiben, dann hätten wir beide ein kleines Problem.

(iii) Die Besteigung des Herrstein (2447m)
Da der Anstieg sich anfangs nur mäßig steil den Hang durch Kiefergestrüpp hinaufschlängelt, gehe ich selbigen ziemlich forsch an. Zu forsch, denn bald schon droht mir die Puste auszugehen. Im mittleren Drittel wird es steil und äußerst rutschig. Ich muss meine Stöcke immer wieder tief in die Humusschicht rammen und mich selbst auf kraftraubende Art und Weise hinterherziehen. Im oberen Drittel dominiert endlich fester griffiger Fels. Ich arretiere die Stöcke am Rucksack, denn hier ist des öfteren Handarbeit angesagt. Nach etwa zwanzig Minuten bin ich an einer Felsmauer angekommen. Vor dem Überwinden mache ich zum letzten Mal Winki-Winki zum Michael, danach verliere ich den Sichtkontakt mit dem Basislager.
Jenseits der Mauer angelangt ist meine Verwirrung groß: vom ersehnten Gipfel fehlt jede Spur. Der schmale Pfad windet sich ebenerdig um mehrere Felsblöcke herum und schlüge mir das Herz nicht schon bis zum Halse, so würde mich der gähnende Abgrund unter mir zur Langsamkeit ermutigen. Die Dolomiten haben in ihrer Entwicklungsgeschichte besonders viele schroffe Klippen hervorgebracht, doch dank des hellen Gesteins wirken diese nicht gar so düster und bedrohlich wie andererorts in den Alpen. Durch die gute Ausleuchtung hat man zumindest nicht dieses unangenehme Gefühl, im Ernstfall von einem schwarzen Loch verschluckt zu werden. Das sollte aber noch lange kein Grund sein, übermütig zu werden.
Endlich kommt der Gipfel in Sicht, rund wie ein Pudding und umsäumt von einem steilen Felsband. Die Seilsicherung nutzt mir herzlich wenig, denn meine Kletttersteigtakelage liegt beinahe 1000 Meter tiefer im Kofferraum des Wagens. Doch die abgewetzten Felsen verraten mir, dass die Ideallinie sowieso um ein gutes Stückchen links vom Seil liegt. Vorsichtig ziehe ich mich die wenigen Meter hinauf, laufe erstaunt noch eine kleine Wiese hinauf und stehe alsbald auf dem Gipfel des Herrstein.

Ein Blick auf die Uhr: exakt eine halbe Stunde habe ich gebraucht. Ich entlocke meiner ausgedörrten Kehle einen krächzenden Jodler als Gruß an den Zurückgebliebenen und gebe mir selbst 10 Minuten Zeit für das Gipfelglück-Management. BeweisfotoDie Aussicht ist schnell abgehakt, zu waschküchig ist die Atmosphäre, als dass ich mir irgend etwas genauer betrachten wollte. Wenigstens ist von dem befürchteten Gewitter weit und breit nichts zu sehen. Das Gipfelkreuz ist relativ neuwertig, aus Metall, sehr schön, auch ein Sponsorenschild fehlt nicht. Das Beweisfoto mit Selbstauslöser ist obligatorisch. Ebenso das Zigarettchen, sobald der Puls nicht mehr gar so sehr flattert.
Schließlich kann ich der Versuchung nicht widerstehen, meinen Namen in den hölzernen Sitzbalken zu kratzen, der wohl einst der Längsbaum des ursprünglichen Kreuzes war. Viele Markierungen habe ich während der letzen Tage in den Dolomiten hinterlassen. Sie alle zeugen von meiner Existenz, meinen Hoffnungen, meinen Wünschen und meinen Taten. Doch wird nur diese eine länger bestehen als bis zum nächsten Regenschauer. Während des Abstieges habe ich zwanzig Minuten Zeit, meinen überstürzten Aufbruch vom Gipfel zu bereuen. Das ging alles viel zu hektisch vonstatten, eigentlich hätte ich den Michael ein wenig schmoren lassen sollen. Gelohnt hat sich der kleine Abstecher jedoch allemal. Ein interessanter Gipfel, nicht zu einfach, nicht zu schwer. Wie für mich und den heutigen Tag gemacht.
Im Mitteldrittel der Südwand stolpere ich beinahe meiner eigenen Schotterlawine hinterher. Erst im letzten Augenblick finde ich Halt und Gleichgewicht wieder. Das Schicksal meint es bekanntlich gut mit Helden, Kindern und Dummköpfen.

(iv) Das Ende
Michael hat sich während der letzten Stunde im Basislager ausgiebig erholt und angeödet. Wir meditieren noch ein wenig über der Frage, ob der formlose Klotz weit im diesigen Osten vielleicht unsere gute alte Schusterplatte sein könne. Im Südosten machen wir eine Gestalt auf dem nahegelenen Gipfel des Großen Rosskofl (2559m) aus. Dieser wäre vielleicht auch ein lohnenswertes Ziel für uns gewesen, doch jetzt hören wir kein Rufen mehr.
Wir brechen auf. Der Abstieg führt uns über den 26er durch ein nicht enden wollendes Schotterfeld. Ein Bach rettet uns vor der Dehydration und nach zahlreichen Serpentinenkilometern begrüßen wir einen Senioren-Highway, der uns um den Seewald herumführt, uns kurz einmal in St.Veith ausspuckt und uns endlich bleierner Beine zum Pragser Wildsee zurückbringt. An dessen Ufer ist es mittlerweile einsam geworden, sechseinhalb Stunden nach unserem Abmarsch heute mittag. Auch auf die Gefahr hin, ein katastrophales Artensterben anzustoßen, lassen wir es uns nicht nehmen, unsere Stinkfüße im kalten Wasser zu baden. Was kümmert’s uns, schon morgen hat uns die Realität wieder und das Wunderland wird nur noch in unserer Vorstellung weiter existieren.

Mein spezieller Dank gilt Michael und der Kontinentalverschiebung, denn ohne die beiden wäre dieser Urlaub so nicht möglich gewesen.

© Stefan Maday 13.08.2001

Von St.Christina zur Gampenalm (2062m)

Von St.Christina zur Gampenalm (2062m)

25.06.2000

(i) Erste Schritte durch die Kälte Endlich ist es soweit. Der Tag, auf den wir beide monatelang hin gearbeitet haben. Gestern Nachmittag sind wir in St.Christina eingetrudelt und haben die Nacht in der Pension Mont Blanc verbracht. Wir waren zunächst ein wenig irritiert ob der Kälte und des in der Nacht einsetzenden Dauerregens. Hieß es doch in einem Buch über die Dolomiten zum Stichwort Klima: „in der weingesegneten Region spürt man bereits einen Hauch von Italien!“ Heute morgen folgte die nächste Überraschung: die Spitze des Langkofel, die ab und an durch die tiefhängenden Wolkenfetzen lugt, ist in verräterisches Weiß getaucht. Neuschnee. In Italien. Davon lassen wir uns aber nicht entmutigen. Also die schweren Rucksäcke aufgeschnallt und los. Jetzt zahlt sich unsere gewissenhafte Vorbereitung aus. Michael ist im Vorfeld dreimal Fahrrad gefahren, während ich mich von einem Muskelfaserriß im Oberschenkel erholte. So untrainiert wagt man sich vielleicht zu Bundesjugendspielen, doch weniger in hochalpine Regionen. Da dies meine erste Berghüttentour ist, fiel mir die Entscheidung darüber schwer, was an Ausrüstung in den Rucksack gehört und was man besser zu Hause läßt. Nach den ersten Metern schwant mir bereits, daß ich mir viel zu viel Gewicht aufgebürdet habe. Ein gutes hat die Sache aber dennoch: mit 12kg auf dem Buckel kann ich gar nicht so schnell laufen, als daß ich auf dem Höhenweg oberhalb von St.Christina ernsthaft außer Atem käme.

(ii) Col Raiser
Als wir die Talstation der Col Raiser-Bahn erreichen, stellen wir erleichtert fest, daß sie schon geöffnet hat. Angesichts der vor uns liegenden Strapazen wählen wir die unsportliche Variante für den Aufstieg in Richtung Seceda: wir berappen je 13500 Lire und lassen uns gemütlich nach oben gondeln. Auf 2100m angekommen, sieht die Welt auch schon viel freundlicher aus. Der Neuschnee ist schon fast wieder weggetaut, die Wolken verziehen sich mehr und mehr und geben den Blick auf die herrlich nackigen Geisler Spitzen frei. Der Weg führt dann auch nur mäßig steil ansteigend über Almwiesen an der Troier Hütte vorbei bis zu einem Wegekreuz. Dort haben wir die Wahl zwischen der Panascharte (Forcella Pana) und der Mittagsscharte (Forcella de Mesdi). Nur durch einen der beiden Kare können wir die hinter der Alm abrupt abfallende nördliche Steilwand passieren. Per Münzwurf entscheiden wir uns für die Panascharte und erreichen wenige Minuten später den vorläufig höchsten Punkt unserer Wanderung. Bis hierher haben wir ungefähr 350Hm überwunden, gar nicht übel für den Anfang. Laut Karte war das auch schon der schlimmste Anstieg für heute. Jetzt beginnt der Spaß.

(iii) Kletterspaß an der Panascharte
Pünktlich reißt der Himmel auf und die Sonne beginnt, ihre alles versengenden Strahlen auf unsere mitteleuropäische Haut zu werfen. Ein Hauch von Italien. Schade, daß der Wind so kalt weht wie im deutschen Winter. Die Pullover bleiben an. In dem harten Licht wirkt die felsige Landschaft noch um einiges grotesker. Hinter uns, weit weg im Südosten, erhebt sich die gewaltige Sella eindrucksvoll noch über das Puez-Massiv hinweg. Sie sieht so gar nicht wie ein Gebirgsstock aus, vielmehr trutzt sie wie eine mächtige zweistöckige Burg. An ihren Rampen scheint üppig Schnee zu liegen. Wenn alles nach Plan läuft, sollten wir in zwei Tagen dort oben sein. Bis dahin hoffen wir auf eine Hitzewelle.
Vor uns liegt der namenlose Kar, den es herabzustiefeln gilt. Unschwer erkennt man die Drahtseilsicherungen, an denen man sich sicher herunter hangeln kann. Wir legen besser unsere Sicherungsgurte an. Das ist zwar nicht mein erster Klettersteig, aber es macht doch einen Unterscheid, ob man einen Felsen mit leichtem Sturmgepäck oder mit dem halben Hausrat auf dem Rücken hinunterklettert. Anfangs etwas wackelig und zögerlich bewegen wir uns die enge Schlucht hinunter. Obwohl wir keine Helme haben, brauchen wir uns vor Steinschlägen nicht zu fürchten, denn im TVB unten in St.Christina hat man uns versichert, der Weg durch die Panascharte sei absolut sicher. Mit jedem Meter steigt das Selbstvertrauen, die Felsenschlucht wird immer breiter und bald haben wir das Ende des Klettersteiges erreicht. Das war doch relativ einfach und hatte trotzdem einen hohen Unterhaltungswert. Nun erwartet uns ein anstrengender Abstieg über die Schotterpiste. Auch der hat einen gewissen Unterhaltungswert, aber mehr für unsere Knochen, Sehnen und Gelenke.
Nach einer ausgiebigen Salamipause sind wir so richtig schön durchgefroren. In endlos scheinenden Serpentinen staken wir durch das Geröll, bis wir auf 2000m Höhe schließlich wieder grünes Terrain erreichen. Michaels Knie schmerzt vom ständigen Abbremsen gegen die Schwerkraft. Arthrose im Frühstadium. Das mußte früher oder später passieren. Deswegen benutzen viele Bergwanderer Skistöcke für den Abstieg. Wir nicht.

(iv) Die Munkelweg-Odyssee An einem Bächlein kurz vor der Brogles-Hütte verlassen wir den Weg und schlagen uns nach Osten bis zum Adolf Munkel-Weg durch. Dieser soll uns bis zur Gampenalm führen, wo wir übernachten wollen. Kann nicht mehr weit sein. Das denken wir zwei Stunden später immer noch. Bis hierher war es ein ständiger Irrweg durch den Wald, immer mit gelegentlichem Blickkontakt zu den Geisler Spitzen, Reinhold Messners Hausbergen: Sas Rigais, Furcheta, Wasserkofel. In der Reihenfolge müssen wir an allen vorbei. Der Weg verläuft stetig auf und ab und windet sich in alle möglichen Richtungen, so daß ich schwören könnte, daß wir uns in der letzten Stunde unserem Ziel nicht einen Kilometer genähert haben. Wahrscheinlich eine optische Täuschung. Wir haben längst den toten Punkt erreicht, an dem wir eigentlich gar nicht mehr weiter marschieren möchten. Wir tun es nur noch, weil wir keine Alternative haben. Meine Gedanken verselbständigen sich, die Schultern schmerzen von der gewaltigen Last, die Schuhsohlen haben sich in Papier verwandelt und wir müssen immer häufiger Pausen einlegen. Kein Ende in Sicht. Die Gampenalm ist auf unseren Karten nicht mehr verzeichnet, sie könnte also überall liegen, vielleicht sogar in Österreich. Schließlich ein Funke der Hoffnung: zwei ältere Ladies überholen uns und vermelden, wir hätten nur noch eine Dreiviertelstunde vor uns. Schließlich endet der verfluchte Munkelweg tatsächlich und wir entern einen gut ausgebauten Senioren-Highway. Mit letzter Puste folgen wir den Serpentinen nach oben und erreichen schließlich doch noch die Gampenalm. Das sollte heute eine Tour zum Warmlaufen werden, für die wir fünf Stunden eingeplant hatten und für die wir letztlich acht Stunden benötigt haben. Zu unserer Ehrenrettung sei zu sagen: die beiden alten Ladies hätten das auch nicht in fünf Stunden geschafft, sie hätten mindestens sechs gebraucht.

(v) Neues vom Wolpertinger
Auf der Gampenalm (privat bewirtschaftet) herrscht ordentlich Betrieb, wir liegen mit einem knappen Dutzend Leutchen auf einem Zimmer. Zumindest gibt es hier eine Dusche, das ist weit mehr Komfort, als ich zu hoffen gewagt hatte. Hoffentlich regenerieren sich meine Bandscheiben allmählich wieder. Ich bin bestimmt 10cm kürzer als noch am Morgen.
Nach Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat und Weissbier sind wir soweit wiederhergestellt, daß wir das legendäre Alpenglühen bewußt miterleben können. Michael entdeckt auf dem Wasserkofel eine schemenhafte Gestalt, die sich geisterhaft zwischen den Felsen bewegt und wartet mit einer ad hoc-Hypothese auf: das könnte der berüchtigte Wolpertinger sein. Ich tippe eher auf Messner. Ein älterer Herr jedoch schwört uns Stein und Bein, daß der Wolpertinger tatsächlich existiert! Wenn dem so wäre, könnte er das fehlende Bindeglied zwischen präkambrischen Mollusken und dem modernen Tiroler sein. Eine handfeste Sensation. Vielleicht ist der Alte aber nur ebenso bierig wie wir an diesem Abend. Viel Hüttenzauber gibt es nicht mehr, obwohl aus den Lautsprechern der Gaststätte ein Best-of-Mix der Saragossa Band ertönt, schauen die anderen Gäste lieber Fußball oder liegen früh im Bett.
Um elf gehen auch wir als letzte in die Heia. Einer der Zimmergenossen schnarcht höllisch laut. Das wird eine lange, kalte Nacht.

© Stefan Maday 16.08.2000

Über die Forcella de la Roa zur Puez-Hütte (2475m)

Über die Forcella de la Roa zur Puez-Hütte (2475m)

26.06.2000

(i) Wiederbelebung und Hasen zum Frühstück Um sieben Uhr bin ich von meinen Qualen erlöst. Im Zimmer ist es derart hektisch und betriebsam geworden, daß ich unmöglich weiterschlafen kann. Mir wird klar, warum die anderen gestern abend so früh die Segel gestrichen haben. Wenigstens macht das Wetter dort weiter, wo es am Abend aufgehört hat: am blauen Himmel ist quasi kein Wölkchen zu sehen, jedenfalls nicht bei uns. Weit weg im Norden hängen welche dicke am Alpenhauptkamm herum. Aber es ist eiskalt und nach der ersten Zigarette draußen vor der Schlafhütte bin ich plötzlich hellwach. Michael sieht auch nicht fitter aus, er habe die ganze Nacht gefroren. Kann ich von mir nicht behaupten, ich habe nur nicht geschlafen. Wie konnte ich diese verdammten Ohrenstöpsel zu Hause vergessen? Nach dem Frühstückstee sieht die ganze Sache schon freundlicher aus. Um kurz nach acht brechen wir auf zur Schlüterhütte. Als letzte. Die anderen sind alle schon weg, die Bergers, die Zwickauer und die Fünf Freunde. So braucht uns niemand zu überholen. Wir werden sie alle auf der Puez-Hütte wiedertreffen. Einer von ihnen ist ein pathologischer Schnarcher. Mit noch kalten Knochen geht es vorsichtig aufwärts. Mein Muskelkater ist zum Glück längst nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte. Nach einer Dreiviertelstunde sind wir an der Schlüterhütte angelangt. Sie hat geschlossen. Glücklicherweise. Hier wollten wir ursprünglich unsere erste Nacht verbringen, da hätten wir den Aufstieg gestern noch machen müssen! Aber Michael ist der geborene Organisator und hat das alles im Vorfeld schon abgecheckt, ausbaldowert und klargemacht. Gänzlich verwaist ist die Hütte dennoch nicht, denn hier laufen viele kleine Hoppelhäschen herum. Keine Angst, liebe Kinder. Die possierlichen Nager sind natürlich viel zu flink, als daß wir einen von ihnen fangen und als Brotaufstrich verwenden könnten. Alle Versuche in dieser Richtung schlagen fehl. Von nun an schreiten wir auf dem offiziellen Dolomitenhöhenweg Nr.2, der Route 66 der Westlichen Dolomiten, gen Süden.

(ii) Auf dem Dolomiten-Highway zur Roascharte
Der Weg ist relativ bequem zu gehen, ohne großen Potentialverlust führt er an der Ostflanke des Wasserkofel (2610m) vorbei. Am Kreuzkofeljoch haben wir nochmal einen Ausblick auf die Schotterpisten der Geisler Spitzen, an denen wir uns gestern vorbei gequält haben, zur Linken liegt ein unbekanntes Tal, das auf der Karte nicht mehr verzeichnet ist. Dahinter ragen wieder Gipfel auf, gefolgt von noch mehr Gipfeln usw. Eine unermeßliche Landschaft, die kein Ende zu nehmen scheint. Wir würden Monate oder gar Jahre brauchen, wollten wir allein in den Dolomiten jeden Stein umdrehen und die Dolomiten sind nur ein Stück Fliegendreck auf der großen Alpenübersichtskarte (obgleich ein ganz besonders schönes). Folglich beschränken wir uns darauf, was für uns machbar ist, und nähern uns in weiten Windungen allmählich der Roascharte (Forcella de la Roa). Bald betreten wir ein gigantisches Geröllfeld, der strahlend weiße Dolomit blendet uns die Augen. So frisch wie er aussieht, kann die Lawine frühestens vor ein paar Jahrhunderten abgegangen sein.
Wir lassen die Wasserscharte rechts liegen und trampeln noch einige hundert Meter parallel zum Hang in Richtung Süden. Dann folgt der Anstieg zur Roascharte.
Der erweist sich als steil und äußerst mühsam. Der Schutt ist feinkörnig, fast wie Sand, wir finden nur schwerlich Halt. In endlosen Kehren geht es hinauf, dabei kommt der Kreislauf ordentlich in Schwung und selbst die Schweißdrüsen erwachen aus ihrer kalten Lethargie. Eine der seltenen Gelegenheiten für oben ohne Pullover.

(iii) Forcella de la Roa (2617m)
Unsere Grundsatzdiskussion über Sinn und Unsinn solch unmenschlicher Schinderei nimmt erst ein Ende, als wir schließlich den Vertex erreicht haben, 2617m oberhalb von Venedig. Noch ein wenig prusten und keuchen, dann können wir die Aussicht genießen. Hinter uns überblicken wir den bisherigen Weg, wie er sich mühselig bis zu uns herauf windet. Im fernen Norden dräuen die fetten in Schnee und Wolken versunkenen Dreitausender der Stubaier Alpen. Vor uns gibt es nicht so viel zu sehen. Ein kleines Tälchen, das Val de la Roa, dahinter ein namenloser Bergrücken. Im Südosten scheint ein wenig die Sella durch. Wir werden heute aber noch höher steigen. Nach der Pause.
Zunächst muß ich meine Blasen pflastern. Ich hatte noch niemals Blasen in meinen Schuhen, offenbar habe ich einen schlechten Sockensatz erwischt. Im Lee der Felsen läßt es sich aushalten. Doch allzu lange sollten wir nicht verharren, denn über uns kreisen bereits die Geier und wittern vergammelnde Beute.
Der offizielle Höhenweg windet sich vor uns in das Tälchen hinunter, um an dessen Ende nach Osten abzuknicken und wieder steil anzusteigen. Ein stattlicher Umweg. Das scheint uns wenig attraktiv und wir entscheiden uns für den Abstecher nach links. Der Pfad sieht zwar nicht sehr Vertrauen erweckend aus, dafür verläuft er parallel zum Hang, so daß wir nichts an Höhe einbüßen. Nach zehn Minuten endet der Weg und mündet in eine senkrechte Felsspalte. Schluck. Eine sehr steile Via Ferrata liegt vor uns.

(iv) Vertigo und Die Vögel Via Ferrata bedeutet soviel wie Eisenweg, einen prägnanteren Namen für diese mit Drahtseilen und Stahlstiften gesicherten Abenteuerspielplätze für Große wird man sich schwerlich ausdenken können. Wir legen die Klettergurte an und merken sehr bald, daß sie doch nicht so unnütz sind, wie anfänglich gedacht. Dieser Klettersteig ist von einem etwas anderen Kaliber als der gestrige. Drahtseilsicherungen sind nur sporadisch vorhanden, in der engen Spalte hat man mit dem klobigen Gepäck nur begrenzte Bewegungsfreiheit. Es geht quasi senkrecht hinauf, die Wände sind teilweise vereist. Das ist Abenteuer! Vollkommene Konzentration ist angesagt. Immer gut festhalten und hoffen, daß der Michael über mir keine Steine lostritt. Zum Schluß noch eine wackelige Leiter und schon sind wir oben. Das waren aufregende 50 Meter, die für vieles entschädigen. Gleiches gilt für die Aussicht. Wir sind jetzt auf 2740m Höhe und uns bietet sich ein phantastisches Panorami nach Süden hin. Da erhebt es sich eindrucksvoll vor uns, das morgige Ziel. Der Piz Boe, die höchste Erhebung der Sella, thront nochmals 400Hm über uns. Das wird anstrengend. Da haben wir uns erst einmal eine Pause verdient, es wird Zeit, daß die schwere Salami allmählich aus dem Rucksack verschwindet. Kaum sitzen wir und essen, kommen die Geier vom Himmel hernieder. Auf kleinen Felsbrocken sitzen sie und belauern uns in der Hoffnung auf Abfälle. Eine unheimliche Stille. Abwarten. Eine Szene wie aus dem Hitchcock-Klassiker. Es handelt sich wohl eher um Krähen oder Hupfdohlen oder was auch immer. Mit Vögeln kenne ich mich nicht gut aus. Die Flattermänner kommen bis auf wenige Zentimeter an uns heran, als wir sie mit kleinen Brotpopeln ködern. Schüchternheit kann man sich in dieser lebensfeindlichen Steinwüste, in der kaum ein Grashalm wächst, als gefräßiger rabenähnlicher Vogel offenbar nicht leisten. Ich muß meinen Blick immer wieder nach Norden wenden, dort juckt der Gipfel des Piz Doleda (2908m). Sieht nach einer preiswerten Gipfelbesteigung aus, wir könnten unsere schweren Schneckenhäuser hier im Basislager lassen. Michael ist aber nicht sonderlich begeistert und alleine habe ich auch keine Lust. Wir machen uns stattdessen auf zur Puezhütte.
(v) Der lange Weg zum Puez-Schnitzel Im Laufe des 300Hm währenden Niedergangs durch die Forcella Nives zeigen sich auch bei mir die ersten Anzeichen von Materialermüdung. Mein rechtes Knie beginnt zu schmerzen. Wie eine alte Wunde, die wieder aufplatzt. Ich muß sofort an meine knochenschmirgelnden 1300m-Abstiege vom Galtenberg und vom Großen Beil in den Kitzbühler Alpen vor zehn Monaten denken. Diesmal fängt es beunruhigend früh an. Hoffentlich sind wir beiden am Ende der Woche kein Fall für den Rollstuhl. Der Dolomiten-Höhenweg zieht sich schließlich schier endlos unterhalb der schwarzen, tropfenden Wände der Puezspitzen (Pizes de Puez) entlang und windet sich noch einmal großzügig um einen Sporn des Puezkofels (Col de Puez, 2725m) herum, um letztlich nochmals anzusteigen, damit der erste Anblick der Hütte dem total erschöpften Pilger auch wirklich einen Seufzer der Erleichterung entlockt. Da liegt sie, malerisch zu Füßen des Puezkofels und mit Ausblick auf das enge Langental (Val Lunga), bzw. die südliche Felswand, die das Tal begrenzt und mehr als 300m senkrecht abfällt. Das gebänderte Gestein erinnert unwillkürlich an Bilder vom Grand Canyon. Unsere Bekannten von der Gampenalm sind alle schon hier gewesen und haben sich größtenteils nochmal aufgemacht zur Puezspitze (Cima Puez, 2913m). Das kommt für uns nicht in Frage, nach wiederum acht Stunden Bewegung in freier Natur steht uns der Sinn nach Herumräkeln und Duschen, bevor es ans verdiente Essen geht. Wir machen nämlich Urlaub. Die Hütte liegt fernab jeglicher Zivilisation und wird vom italienischen Alpenverein (CAI) bewirtschaftet, was sich preislich und servicetechnisch durchaus bemerkbar macht. Die 5-Minuten-Dusche kostet umgerechnet 5 DM, Sahara-Tarif. Der Wirt stopft uns netterweise fast alle in ein und dasselbe (12qm-) Zimmer hinein, dabei hat die neugebaute Hütte wenigstens zehn von der Sorte.

(vi) Schnitzel und Hüttenzauber
Das Schnitzel mit Bratkartoffeln ist rechtschaffen lecker. Der Salat ist nicht mehr der neueste, der Hubschrauber kommt erst morgen. Der Essig brennt an unseren Lippen, die Sonne hat sie uns unbemerkt verbrannt. Ich dachte, das sei nur am Südpol oder in Tschernobyl möglich.
Nach dem Essen kommt sogar Geselligkeit auf, der Wirt läßt Schnaps springen und spielt gekonnt fetzige Volksweisen auf dem Akkordeon. Viel Zeit zum Üben hat er hier oben ja. Hier gibt es keine Frauen, die ihn ablenken könnten, nur den Koch und die Schafe…Um kurz nach zehn dreht er aber den Diesel ab, wir trinken unser Bier im Schein von Michaels Taschenlampe aus und folgen bald den anderen ins Bettchen. Der Schnarcher sägt schon fleißig. Gute Nacht, John-Boy.