Ankunft in Sulden – Aufstieg zur Düsseldorfer Hütte

Ankunft in Sulden – Aufstieg zur Düsseldorfer Hütte

04.08.2006

Sulden im gleichnamigen TalFür unsere neuntägige Bergtour haben wir in diesem Jahr den „Vinschgau“ gewählt, italienisch Val Venosta.. Der westliche Teil Südtirols ist über Italiens Grenzen hinaus für Apfelanbau bekannt. Unter Bergbegeisterten gilt er indessen als Eldorado. Denn hier erwarten den Alpinisten fast 100 Gletscher und mehr als 70 Gipfel über 3000 Höhenmeter. Und die regenärmste Region Südtirols und gleichzeitig eines der trockensten Gebiete der gesamten Alpen bietet meist stabiles gutes Bergwetter. Erreichbar von Deutschland über Fern- und Rechenpass, über Imst und Landeck in Österreich – vonWeg zur Düsseldorfer Füssen aus 160 km in 2-3 Stunden. 

Das den Vinschgau prägende Tal der Etsch wird im Norden von hohen Ötztaler Bergen begrenzt. Hier entspringt der zweitlängste Fluss Italiens, die Etsch. Und hier wurde auch die bekannte Gletschermumie „Ötzi“ oberhalb des Niederjochferners im Similaun-Gebiet auf 3210 m Höhe gefunden. Im Süden dominiert die gewaltige Ortlergruppe. Der riesige Bergstock von 50 km Länge und 40 km Breite ist nach dem höchsten und mächtigsten Gipfel der Gruppe benannt – dem 3905 m hohen „König“ Ortler. Neun der hiesigen 3000er haben wir uns vorgenommen.

Von den Bergen ist leider während der Fahrt kaum etwas zu sehen. Im Vinschgau geht es rechts ab über Gomagoi und Prad ins Ortlergebiet. Erster Ausgangspunkt ist das Suldental mit dem kleinen Ort Sulden auf 1845 m am Fuße des Ortlers. Un  en dreistündigen Aufstieg, durch den Bachlauf des Zaybachs (obwohl Weg Nr. 5 einer der schönsten Steige in Sulden sein soll!), gondeln per Kanzellift auf 2348m und erreichen die Düsseldorfer Hütte in 1,5 Stunden Fußmarsch.

Der vom Hüttenwirt persönlich gut ausgebaute und wenig steile Wanderweg Nr. 12 lädt auch viele Tageswanderer auf ein Schmankerl in die Hüttenstube ein. Und bietet auch Sandalentouristen ein Panorama der Extraklasse auf Ortler & Co.

Während des Aufstiegs reißen dann und wann die Wolken auf – der Anblick lässt uns Böses erahnen. Es gab Neuschnee! Das Anfang August! Und nicht zu knapp!

Bald erreichen wir unser Tagesziel, Rifugio Serriston auf italienisch. Von hier aus lassen sich – je nach Können – drei bis vier Dreitausender besteigen. Und die Umgebung dieser gut geführten Hütte gehört mit den großen Felsblöcken, den Gletscherschliffen sowie den herrlichen Nah- und Fernblicken zur Schönsten in Südtirol.

Die Hütte ist sehr gefragt, wer hier mehrtägige Touren plant, sollte sich vorab auch über www.duesseldorferhuette.com informieren und seine Unterkunft frühzeitig reservieren.

Wir verbringen den Spätnachmittag und Abend in der Gaststube bei Wiener Schnitzel, Weizenbier und ausgedehnter Tourenplanung für die nächsten Tage, bevor wir pünktlich zur Bettruhe im gemütlichen 2-Bett-Zimmer den wohlverdienten Schlaf finden.

2.Tag: Tschenglser Hochwand (3375 m)

© Michael Breiden 15.01.2007

Tschenglser Hochwand (3375)

Tschenglser Hochwand (3375)

05.08.2006

Am Morgen lässt sich König Ortler gegenüber des Tales blicken. Der fast 4000 m hohe Riese strahlt im Morgenlicht. Bei der ersten Zigarette hole ich mir fast Erfrierungen. Stefan freut es sichtlich, dass er als König Ortler mal wolkenfreiNichtraucher heute nicht leiden muss. Wir genießen um 7.00 Uhr ein gutes Frühstück und erkundigen uns beim Hüttenwirt über Wetter- und Wegverhältnisse. Er scheint nicht ein Mann klarer Worte zu sein, legt sich über Weg-Zustand und Wetter ungern fest, aber es „soll wohl schöner werden“. Irgendwann. Es sei noch niemand nach dem Neuschnee Schnee Anfang Augustoben gewesen, daher könne es etwas schwierig sein. Wir starten also, um unseren diesjährig ersten 3000 zu ersteigen. Dazu haben wir ausgerechnet den Zungenbrecher Tschenglser Hochwand gewählt. Sie gilt als Nonplusultra für trittsichere Wege-Bergsteiger. Mit 3375 m einer der höchsten Gipfel rund um die Hütte. Die Spannung am Morgen ist groß. Starten wir doch in eine uns unbekannte Region. Alleine, fort von allem uns Bekannten und Sicheren.

Der Zugang zur Hochwand begeistert durch seine Vielfalt, malerisch sind die Blockfelder mit Trümmer und BlockwerkRiesentrümmern bis zur Hausgröße. Der Höhenweg Nr. 5 schlängelt sich durch gewaltiges Blockwerk und Geröll, das einst große Gletscher als Moränen liegen ließen. Am kleinen See „Seenlin i Laghetti“ gabelt sich der Pfad laut Karte. Heute sehen wir hier nur eine Fußspur – und die zeigt in Richtung Angelusspitz und Schafbergspitz (Weg 5a). Im Neuschnee haben wir es schwer Wegmarkierungen zu finden. Dieses heitere Suchspiel soll uns leider bis zum Gipfel erhalten bleiben.

Mit jedem Höhenmeter scheint der Schnee tiefer zu werden. So hangeln wir uns von einer Markierung zur nächsten. Drei weitere Bergsteiger folgen uns stetig auf Abstand – das ist ja auch leichter. Am Einstieg des Klettersteigs „hagelt“ es Eiszapfen, die sich in der zarten Morgensonne weit oben lösen. Der vom Hüttenwirt persönlich angelegt Steig wäre Eiszapfen hageln herabmörderisch.

Alternativ führt der steile Serpentinenweg durch eine Geröllrinne zur Scharte am Südwest-Grat. Schneefrei gut markiert, bei Neuschnee kaum auszumachen. Die Chance auf den heutigen Gipfel schwindet – ähnlich wie die Kraft, denn Schnee und Wegsuche wirken nun doppelt anstrengend – oft finden wir nicht den ursprünglichen Weg, steigen einfach die Rinne bestmöglich nach oben. Was zunehmend auch in Kletterei durch Schnee und Eis übergeht.

Der Gipfelaufbau lässt jetzt echte Spannung aufkommen. Zum Außergewöhnlichen gehört der ständige Blick auf die berühmten Nordwände von Ortler (3899m) – heute, Anfang August, alles in weiß gehüllt.

Der Hohe Angelus gegenüberNach zwei Stunden machen wir Pause und lassen die Gruppe vorbeiziehen, damit diese Vertainspitze mit Hängegletscherab jetzt die Vorarbeit leisten kann.

Weiter folgen wir dem Pfad über den steilen Grad, wo wir immer wieder die Hände brauchen, um einzelne Stellen zu überwinden, oder teilweise auch freihändig über schmale vereiste Gräte balancieren müssen. Eine heikle Sache. Jeder Tritt musste hier sitzen. Trotz mulmigem Gefühl im Magen treibt uns das sichtbare Gipfelziel weiter. Unwiderstehlich die Anziehungskraft. Jetzt nicht mehr zurück.

Schließlich überwinden wir zwei ansonsten leichte Klettersteigpassagen. Heute durch Schnee und Eis oberer Gipfelaufbau der Tschenglser HochwandKlettern an der Hochwandzwar erschwert aber mühelos und ungefährlich, dank Sicherungen am Drahtseil.

Solche Kletterstellen sorgen immer für zusätzliches Adrenalin und steigenden Puls. Das aber wiederum für neue Energie. Die letzten Meter zum Gipfel lassen auf glitschigem Schnee und Fels ohne Sicherung das Adrenalin steigen. Nach vier Stunden haben wir den höchsten Punkt erreicht.

Das Gipfelerlebnis ist gewaltig. 2500 m überragt das breit gelagerte Felsmassiv den Vinschgau, 600 m ist die Nordwand, 300 m die Südflanke hoch. Und die Grate strotzen von wilden Felszacken. Die waagerechten Eiszapfen am Gipfelkreuz verraten, welch kalte Stürme hier herrschen. Die Aussicht ist grandios – auf die Eisriesen Ortler, Monte Zebru und Königsspitz, auf die 500 m hohe Nordwand der Vertainspitze mit ihrem Hängegletscher sowie auf die Steilabbrüche des Gletschers der Großen Angelusspitze. Zum Greifen nah lassen sich jede Eiswulst, jeder mit Neuschnee gezuckerte Felssporn mit bloßem Auge erkennen. Gen Norden dann der Tiefblick in den sommerlichen Vinschgau. Überwältigend! Und überwältigend das Gefühl, nur durch eigene Kraft diesen Koloss bezwungen zu haben.

Nach ausgiebigem Beglückwünschen mit Handshake, Gipfel-Foto-Shooting, Pausensnak mit Wasser, Keksen und Zigarette treten wir vor den anderen Bergsteigern – Tschechen, wie sich herausstellt – wieder den Abstieg an, um die Kletterstellen in unserer Geschwindigkeit gehen zu können. Beim Aufstieg haben uns die Tschechen hier Michael am Gipfelaufgehalten und für unkomfortable Warterei im Steilhang gesorgt. Die Kletterstellen wirken von oben furchterregend, sind aber leichter im Abstieg passierbar. Der Schnee wird arg sulzig, die Trittsicherheit lässt nach, und das Bombardement mit Eiszapfen wird teils gefährlich. Wir begegnen einer weiteren Gruppe beim Aufstieg, die uns danken, dass wir den Weg gespurt haben. Nach nur 2 h sind wir wieder am Seenlin i Laghetti, wo sich alsbald auch die Tschechen zu uns gesellen – im Rausch des Gipfelsturms plaudern wir fröhlich miteinander – wir haben es geschafft – die Tschenglser Hochwand sollte unser bisher höchster und schwierigster Berg der Ortler-Tour bleiben.

Bis zur Hütte, wo Südtiroler Köstlichkeiten für die Anstrengung belohnen, ist es jetzt ein halbstündigezurück durch haushohe Trümmerfelders Kinderspiel. Auch Stefan ist sichtlich erleichtert und entspannt auf seine Weise. Die spätere Freude bei Rückkehr zur Hütte ist noch größer. Vermutlich ist es die Freude, der Gefahr getrotzt zu haben, gesund zurückzukehren – oder ganz einfach die Entspannung nach stundenlanger Anspannung – die Gelöstheit nach dem „Kick“.

Der Wirt der Düsseldorfer Hütte kennt die Geschichten, die abends bis in seine Küche vordringen, während er südtiroler Köstlichkeiten kredenzt. Die Gipfelstürmer reflektieren das Erlebte, der eine lautstark, der andere ruhig in sich gekehrt – aber alle mit zufriedenem Lächeln. Alles ist vergessen. Nur das hier und jetzt zählt. Job, Heimat, Familie – alles weit weg hinter den Bergen. Radler und Schnitzel schmecken uns heute besonders gut. Bald träumen wir vom König Ortler und seinen vielen Genossen drum herum, die wir alle bezwingen wollen.

3. Tag: Hinteres Schöneck (3128 m)

© Michael Breiden 27.02.2006

Hinteres Schöneck (3128 m)

Hinteres Schöneck (3128 m)

06.08.2006

Eigentlich steht der Hohe Angelus mit seinen 3521m auf unserem Plan. Die Wetterbedingungen sind aber alles andere, als ideal. So nehmen wir uns heute das weniger schwere „Hintere Schöneck“ vor. Der Hütten-Hausberg gilt als Aussichtsloge der Extraklasse gegenüber der Ortler-Nordwand mit seinem 3899m hohen Gipfel und dem mächtigen Gletscherdach der Nordseite. Der Gipfel bietet sich als Höhepunkt einer Abstiegsroute ins Tal an.

Hinter der Hütte geht’s nach Weg Nr. 25a schräg zum breiten Bach hinab und über Bretter ans andere Gipfel im NebelUfer. Der Weg führte uns über Schutthalden zum Steilgelände, durch steiles Gras, Trümmerflächen und Schrofen – über Rippen und quer durch Rinnen in der Flanke weit empor. Dann quer durch das Steilgelände über Platten und Blockfelder zum Gipfel herauf, der nur wenig aus dem Kamm hervorragt.

Die Route von der Düsseldorfer Hütte zum Hinteren Schöneck ist steil und voller Überraschungen, da der Weg durch die zerfurchte Felsflanke von unten nicht auszumachen ist. Inklusive weniger Pausen erreichen wir den Gipfel nach nur 1 h 45 Min., womit wir in einer guten Zeit liegen.

Das als Aussichtsloge geltende Schöneck zeigt sich heute weder schön noch aussichtsreich. Düstere Nebelwolken verhüllen jegliche Talblicke und lassen es zudem noch auf uns herabschneien. Entsprechend kurz fällt die Gipfelpause aus. 1200 Höhenmeter Abstieg nach Sulden stehen bevor. Auf und neben dem Südrücken geht es abwärts, teilweise wieder über mächtiges Blockfeld und über gut ausgebaute Plattenwege bis zum völlig unauffälligen vorderen Schöneck (2908 m). Dieser vordere „Gipfel“ ist für Wanderer, die sich auf einfachen Bergpfaden wohl fühlen, bei schönem Wetter ebenso ein tolles Ziel, erreichbar von Sulden herauf, da dieser gewöhnlich schöne Blicke auf die Eisklötze Ortler, Monte Zebru, Königsspitze und hinab ins Suldental verspricht.

Die Bezeichnung „Gipfel“ ist aber leicht übertrieben, es ist eher ein Grashügel, der vordere eines langen Das Vordere SchöneckKamms. Wir verlieren über den Pfad Nr. 25 bei einsetzendem Regen und Wind jetzt über den Kamm abwärts schnell an Höhe. Bei ca. 2750 m dann in steile KüheWiesenhänge diagonal abwärts über die Stieralm zur Kalberhütte nahe der Waldgrenze. Ein zuvor nicht eingezeichneter Weg, für uns aber eine vermeintliche Abkürzung, offenbart sich als Sackgasse und endet bei Lawinenschutzgittern. Zurück bei Kalberhütte vorbei stolpern wir nun den breiten Wald- und Forstweg hinab nach Sulden. Die 1200 Höhenmeter sind trotz einfachem Weg nicht zu unterschätzen, brauchten wir doch über 4 Stunden dafür.

Die nächsten Nächte belohnen wir uns für die Knochenschinderei mit einem luxuriösegegenüber der Ortlern Talquartier, ausgestattet mit Dusche und Fernseher. Nun wussten wir die Vorzüge einer herrlich warmen Dusche wieder zu schätzen – und deren wundersame Belebung müder Muskulatur. Belebt wurde die letzten Tage aber noch mehr. Trotz körperlicher Anstrengung spürte ich eine herrliche Belebung meines Geistes. Die Wahrnehmung wurde geschärBrotzeit bzw. Kekszeitft. Als ob ich meine natürlichen Instinkte wieder finde. Jeder Stein, jede Pflanze aufgesogen und gespeichert. Und die Zeit verrinnt tagsüber scheinbar langsamer, jede Minute lebe ich intensiver. Die Erfahrung mit dem Wesentlichen, dem Ursprünglichen – eine enorme Erholung für den Geist. Und das entfaltet erstaunliche körperliche Energie, die ich tagtäglich bis in allen Gliedern zu fühlen glaube. Ich nehme an, Kumpel Stefan empfindet ähnliches, denn als Großstädter aus Köln setzt er hier eine erstaunliche Energie frei – zäher Bursche.

Unser Restaurant-Tipp: Die Bärenhöhle
Wir machen eine wirklich gute Pizzaria aus: die Bärenhöhle. Der Besitzer – offensichtlich ein Motorrad-Freak, hat aus einer alten Scheune eine urige Pizza-Höhle mit tollem Ambiente geschaffen. Und Olio-Picante hat er auch.

4.Tag: Hintere Schöntaufspitze (3325 m)

© Michael Breiden 15.01.2007

Hintere Schöntaufspitze (3325 m)

Hintere Schöntaufspitze (3325 m)

07.08.2006

Da das Wetter auch am folgenden Tag noch Kälte, leichten Regen und Wolken bereithält, planen wir für heute die Hintere Schöntaufspitze. Denn dieser Gipfel gilt als „schnellster“ Ortler-Dreitausender. Von Sulden ist fällt klarer Sicht der weiße Schopf der Schöntaufspitze über dem äußeren Rosimtal ins Auge – ein kammnaher Gletscher, der den Gipfel im Norden schmückt, sorgt für das charakteristische Bild. Darunter fällt eine Felsflanke in Hochkare ab, die nahezu nie von Bergsteigern betreten werden. Die Südseite ist das krasse Gegenstück dazu. Dort ist das Gelände sanft und weiträumig –Suldenferner mit Königsspitze und dient im Winter als hochalpine Pistenregion. Das ist die Aufstiegsroute.

Wir nehmen mit der Seilbahn die ersten Höhenmeter zur Schaubachhütte auf 2580 m. Zu Fuß vom Tal in knapp zwei Stunden erreichbar. Mit leichtem Gepäck, dazu gehören heute nur Regenjacke, Stöcke, Trinkwasser und Fotoausrüstung, sollte uns heute eine Blitzbesteigung gelingen.

Bei Ankunft an der Bergstation empfängt Stefan und mich ein gewaltiges Bild: ganz nahe der wild zerklüftete Suldenferner und dahinter, scheinbar unendlich hoch die Königsspitze (3859 m) mit der Nordwand fast im Profil und dem 1100 m hohen Ostbollwerk. Selbst heute, bei nur gelegentlichen Einblicken bei Aufriss der Wolkendecke sehr beeindruckend.

Dank Seilbahn tummeln sich hier viele Turnschuhtouristen. Doch deren Ziel scheint eher die große bewirtete Madritschhütte zu sein, die wir auf halbem Weg 151 in Richtung Madritschjoch passieren. Bis dorthin ist der Weg breit und leicht begehbar, führt er doch großteils über breite Pistenschneisen. Das Joch (3123 m) erreichen wir nach nur 1,5 Stunden, das letzte Stück steil über Schutt und Schnee.

Inzwischen herrscht hier starker Wind, die Wolkendecke unmittelbar über uns. Hier eröffnet sich der Blick ins Madritschtal und Martelltal, auf dessen Osthängen wir ein weiteres unserer geplanten Ziele sehen. Über das Madritschjoch finden Wanderer eine kurze Verbindung von Martell- und Suldental – mit dem Wagen sind diese Täler ca. 80 km voneinander entfernt.

Am heutigen Tag sehen wir niemanden, der zum Gipfel hinaufsteigt, jedoch einige, die ihre Besteigung vorzeitig abbrechen. Obwohl der Wind nun in heftige Sturmböen umschlägt, entschließen wir uns zu einem Versuch. Der sonst eher leichte Weg nach Norden über den erst ausgeprägten Kamm wird durch den 30-50 cm Neuschnee zusätzlich schwierig, da fast vollkommen unkenntlich. Dank guter Ausrüstung erreichen wir nach 40 Min. über den Weg über Skipistenbreiten Rücken und eine weiträumige Gipfelfläche die Schöntaufspitze. Bei inzwischen heftigem Sturm und nur wenigen Meter Sicht müssen wir immer darauf gefasst sein, davon geweht zu werden. Stefan erinnert so eingepackt fast an einen Polarforscher im Schneesturm.

Den höchsten Punkt endlich erreicht beeindruckt uns zwar nicht die hier ansonsten herrliche Aussicht auf die Ortlergruppe, nein, die bleibt gänzlich aus. Der Gipfel überrascht uns jedoch mit einem seltenen Phänomen. Auf ca. 20 qm genau auf dem höchsten Punkt Am höchsten Punktherrscht plötzlich absolute Windstille, obwohl der Sturm drum herum geradezu tobt. Wie im Auge eines Hurrikans. Faszinierend! Eine Belohnung für den Gipfelstürmer. Wieder ein ungewöhnliches Naturerlebnis. Oder achte ich hier mehr darauf? Die Achtung vor der Natur. Das ist es! Mehr Respekt, weil ich ihr ausgeliefert bin. Und meine Sinne werden scheinbar trainiert: Sehen, hören, spüren – und speichern!

Eine mit Schnee und Eis umhüllte Messstation mit deutlich horizontaler Ausrichtung der Eisformation erinnert an arktis-ähnliche Wind- und Temperaturverhältnisse. Daher bleiben wir nicht lange. Den Rückweg vom Gipfel finden wir nun leichter über unsere eigenen windverwehten Spuren vom Aufstieg.

Zwei weitere Bergsteiger haben den Aufstieg gewagt und kommen uns auf halbem Wege entgegen. Wir erreichen bald das Madritschjoch und legen den Abstieg bis zur Madritschhütte schnell zurück, um uns hier bei einer leckeren Leberknödelsuppe aufzuwärmen.

Gut gestärkt ist die leichte Wanderung zur Schaubachhütte bei aufklarendem Himmel eine willkommene Abwechslung von nur 60 Minuten. Von dort gondeln wir ins Tal und lassen den Abend bei Pizza und Weizen in der Bärenhöhle ausklingen.

An diesem Abend bin ich sehr nachdenklich. Tagsüber ist man hier „eins“ mit Fels, Eis, Luft und Sonne. Und die Zeit scheint langsamer zu vergehen. Durch viele Eindrücke, aber auch durch Stille und Einsamkeit. Ich spüre jetzt noch den kalten Granit an den Fingerspitzen. Fühle tagsüber Furcht – und gleichzeitig Glück. Komisch, wie nahe das beieinander liegt.

Während die Anstrengung noch in allen Muskeln vibriert – planen wir schon das morgige Gipfelziel. Wie schon die Einheimische sagen: „Der Berg ruft“. Was ist das genau für ein Verlangen? Sehnsucht nach landschaftlicher Schönheit? Nähe zur Natur? Abenteuerlust? Das „eins“ werden mit den Elementen?

5. Tag: Rötlspitz/Punta Rosa (3026 m) und Monte Scorluzzo (3095 m)

© Michael Breiden 27.02.2006

Rötlspitz/Punta Rosa (3026 m) und Monte Scorluzzo (3095 m)

Rötlspitz/Punta Rosa (3026 m) und Monte Scorluzzo (3095 m)

08.08.2006

Ein weiteres Ziel führt uns am nächsten Tag bei blauem Himmel über das Trafoier Tal hinauf zum Stilftser Joch. Die berühmte Passstraße mit ihren 48 Kehren ist ein Abenteuer für sich – es ist beeindruckend, was hier in Vergangenheit in punkto Straßenbau geleistet wurde. Das Stilfser Joch (ital. Passo dello Stelvio), zweithöchster Passstraße der Alpen, verbindet Lombardei und Bormio mit dem Vinschgau. Im 1. Weltkrieg verlief hier die stark umkämpfte Ortlerfront.

Die Straße führt heute ins Sommerskigebiet auf 2758 m. Vom Joch aus, einer Hotel- und Geschäftssiedlung für die zahlreichen Sommerski-Gäste, sind mehrere hohe Gipfel erreichbar. Mindestens zwei der Gipfelziele nehmen wir uns heute vor.

Die Rötlspitz zählt zu den „raschen“ 3000er, sie nehmen wir als erste vor, nachdem wir dem Touristenrummel des Stilftser Jochs über die Dreisprachenspitze nach Norden entkommen. Bald lassen wir die Sandalentouristen hinter uns und haben die Bergruhe für uns.

Wir folgen alten Kriegspfaden (Weg Nr. 20) auf weiten Flächen des Kammes bis unter den Sattel Südfuß des Gipfels. Hier steigen wir kurz empor und folgen dann Weg 20a diagonal durch den Trümmerhang zum breiten Ostgrat. Über Schutthänge geht es weiter zum Vorgipfel, dort über Blockwerk, wo Trittsicherheit wichtig wird – schließlich an einer auffallenden Felskluft vorbei zum höchsten Punkt dieses „roten Berges“. In gut 75 Minuten haben wir den strammem Aufstieg zurückgelegt.

Der Tiefblick an der Südwand ist überwältigend. Und eindrucksvoll präsentiert sich König Ortler auch hier – aber nun mit seiner zerborstenen, mehr als 1000m hohen Westflanke. Gut sichtbar hier auch seine mächtige Eiskappe auf seiner Nordwestabdachung. Davor die Passstraße und im Süden das Skigebiet an Monte Livrio und Geisterspitze mit den durch Seilbahnen und riesigen Betonbauten erschlossenen Gletschern. Gegenüber des Jochs unser nächstes Ziel: der Monte Scorluzzo.

Zurück am Stilftser Joch lassen wir uns nicht vom Jahrmarktstrubel aufhalten, sondern stiefeln unentwegt eine Sandstraße gen Süden bis zum Sattel östlich des Scorluzzo. Hier folgen wir dem Steig zu einer Schulter empor, oft entlang ehemaliger Schützengräben des ersten Weltkriegs. Weiter über groben Schutt geht es recht steil aber einfach zum Gipfel. Auch der Monte Scorluzzo bietet uns heute eine gute Fernsicht z.B. auf das Monte Cristallo-Massiv im Süden, wohinter wir Bormio vermuten. Die Umweltsünden des Sommerskigebiets im Osten sind jetzt zum Greifen nahe.

Im Nordwesten schon in der Schweiz gelegen, erspähen wir den Piz Umbrail und planen eine Drei-Gipfel-Tour perfekt zur machen. Zurück am Stilftser Joch lassen wir diesen Plan jedoch fallen, da uns heute noch ein Gebietswechsel ins Martelltal bevorsteht. Damit verbunden ca. zwei Stunden Autofahrt mit 48 Kehren hinunter ins Trafoier Tal und weiter abwärts in den Vinschgau. Dort erwarten uns alsbald sommerliche Temperaturen und strahlend blauer Himmel, der uns bis zum nächsten Nachmittag im Martelltal erhalten bleiben soll. Das bezaubernde Tal ist durch den Zufrittsee, einem türkisblauen Stausee geprägt, der mit dem dick vergletscherten Monte Cevedale im Hintergrund malerische Fotomotive liefert. Im einzigen Ort des Tales, in Martell, übernachten wir.

6. Tag: Vordere Rotspitze (3033 m)

© Michael Breiden 15.01.2007

Vordere Rotspitze (3033 m) im Martelltal

Vordere Rotspitze (3033 m) im Martelltal

09.08.2006

Die Vordere Rotspitze (3033m) gilt als Aussichtsplattform vor der Gebirgskette zwischen Cevedale, Veneziaspitze und Hintere Rotspitze – das ideale Ziel für uns heute. Und eine körperliche Herausforderung. 1000 Höhenmeter Aufstieg! Gehzeit laut Wanderführer drei Stunden.

Bei schönstem Sonnenschein starten wir vom Parkplatz der Enzianhütte am Talende hinter dem türkisblauen Zufrittsee. Vom Parkplatz am Straßenende geht es über den klammähnlichen Fluß Plima am ehemaligen Hotel Paradies vorbei über kleine stille Bergwege. Diese schlängeln sich durch den Wald mit dem schönen Namen Paradiso di Cevedale – dann über eine Talstufe auf den folgenden „Boden“. Die Höhenmeter sind sehr schweißtreibend, dies und das schöne Wetter laden zu Pausen in weichem Gras ein, um in Ruhe den tollen Blick auf Cevedale & Co. genießen zu können.

Gegenüber blicken wir ins Madritschtal und erspähen in der Ferne die Hintere Schöntaufspitze, die wir Tage zuvor bei weit schlechterem Wetter bestiegen hatten. Weiter führt uns der Pfad Nr. 31 durch stark geliedertes, teilweise felsdurchsetztes Gelände über Stufen und kleine Einschnitte und Tälchen in das Kar westlich des Gipfels. Die letzten 100 Höhenmeter werden sehr steil und anstrengend, der Steig führt durch eine mit Stahlseil gesicherte Rinne hinauf. Der Fels und Schutt ist sehr lose und rutschig – doch endlich ist der Gipfel erreicht. Er belohnt uns mit einem einzigartigen Gipfelpanorama.

Im Osten liegt der Gramsenferner mit der Hinteren Rotspitz direkt vor uns. Rechts daneben drei weitere Gletscher am Fuße des dreigipfeligen Kamms der Venezia-Spitze. Und im Südwesten thront der vergletscherte Monte Cevedale in seiner ganzen Pracht. Mit 3.778 m dritthöchster Gigant der Ortlergruppe. Noch heute sind Reste militärischer Stellungen aus dem 1. Weltkrieg bis hoch zum Gipfelgrat sichtbar.

Himmel und Eisfelder scheinen hier ineinander überzugehen. Am Dach der Welt scheint Vieles näher beieinander. Das vergletscherte Bergmassiv strahlt Kälte während die Sonne gleißend brennt. Eine seltsame Harmonie und Ruhe bei doch landschaftlicher Wildheit und augenscheinlichem Chaos. Entsprechend die Berg- und Talfahrten der Gefühle zwischen Furcht und Freude.

Unseren 45minütigen Gipfelaufenthalt beenden wir nur, weil die Wettervorhersagen für den Nachmittag Gewitter meldeten. Trotzdem wählen wir eine andere Abstiegsroute in Richtung Südwesten, um eine abwechslungsreiche Tour perfekt zu machen. Ich muss zugeben, es war meine Idee, der sich Stefan zunächst nicht begeistert anschloss. Der hiermit verbundene Umweg sollte uns noch zum Verhängnis werden.

Nach der Steilrinne, die beinahe einem anderen Bergwanderer zum Verhängnis wird, weil wir versehentlich einen Felsbrocken lostreten, folgen wir Weg 37a über gewaltiges Blockwerk, Platten und Schutt, was einst größere Gletscher in haushohen Wällen liegen ließen. Dementsprechend führt der Weg auf und ab – nach unserem anstrengenden Aufstieg eine zusätzliche Mühe. Vorbei am kleinen Gipfel der Schranspitze, den wir kurzerhand besteigen, geht es weiter noch immer ohne merklichen Höhenverlust – bis es schließlich zu Donnern anfängt und Cevedale & Co. in dunkle Wolken gehüllt wird. Die ersten Regen und Hagelkörner treffen uns, als wir dem Pfad nun über einen sehr lang gezogenen Kamm talabwärts folgen.

Das Gewitter scheint nun direkt vor uns – es donnert und blitzt ringsherum – wir befinden uns ausgerechnet völlig schutzlos auf diesem Kamm. Glücklicherweise halten sich die Blitze in Grenzen, dafür nimmt der Regen stetig zu und hat binnen 20 Minuten die Hosen völlig durchnässt.

Wir steigen in irrsinniger Geschwindigkeit die steile Talstufe hinab und erreichen bald den Wald, dann irgendwann den rettenden Parkplatz. Das war fast schon ein Blitzabstieg. Unser Wagen ist einer der letzten dort und so verlassen wir das Tal völlig durchnässt wieder in Richtung Vinschgau.

Unser Fahrziel: das Schnalstal, wo uns morgen die Ötztaler Gipfel erwarten. Aus dem Martelltal fahren wir hinunter in den Vinschgau, dann über Latsch in Richtung Naturns im Südwesten. Dort geht’s links sehr unscheinbar ins enge Schnalstal. Dieses vom Massentourismus fast unberührte idyllische Tal bietet Zugänge in die Texelgruppe und vom Süden hier in die Ötztaler Alpen. Der bekannte Ötzi versuchte einst von diesem Tal aus die Ötztaler Gletscher nach Norden zu überqueren.

Wir bleiben heute vorerst im Tal und finden am romantischen Vernagt-Stausee nach langer Suche auch eine Unterkunft mit direktem Seeblick. Die Übernachtungsmöglichkeiten scheinen hier begrenzt, die wenigen Unterkünfte sind alle belegt, aber nach Touristen sucht man weit und breit. Heute steht Schnitzel auf der Speisekarte, eine schöne Abwechslung nach tagelanger Pizza Olio picante mit allen Folgeerscheinungen.

7. Tag: Im Hintern Eis (3270 m) und Grawand (3251 m)

© Michael Breiden 15.01.2007