Im Hintern Eis (3270 m) und Grawand (3251 m)

Im Hintern Eis (3270 m) und Grawand (3251 m)

10.08.2006

Am Morgen starten wir von Kurzras mit der Seilbahn hoch zur Bergstation Grawand. Im Lift sind wir die einzigen Wanderer, sonst nur Skifahrer und Snowboarder, denn ganzjährig gondeln hier Wintersportler ins Gletscherskigebiet des Hochjochferner nördlich der Grawand. Unser Plan für heute sah eigentlich anders aus. Von Kurzras aus wollten wir den 3000er in Nähe des bekannten Ötztaler Berges Weißkugel names „Im Hintern Eis“ besteigen. Dieser Gipfel gilt als einfach, aber anstrengend, 1200 Hm von Kurzras aus – und aufgefallen ist er uns durch seinen interessanten Namen, der ja zunächst nicht sonderlich einladend klingt. Von dort wollten wir hinüber zur Grawand, um den Abstieg dann anschließend mit der Bahn vornehmen zu können. 

Heute Morgen ist es jedoch wolkenlos, die Luft ist klar und verspricht eine gute Fernsicht. Also gehen wir die Route einfach umgekehrt, auch wenn die Grawand, dann eigentlich nicht als bestiegen gilt. Egal, die Fernsicht ist zu verlockend – und so sehen wir wenig später den Gipfel schon unmittelbar vor uns. Von der oberen Station sind es nur 50 Höhenmeter zum Scheitelpunkt – auch hier fiel letzte Nacht wieder Neuschnee, so dass der Weg recht rutschig ist, bei den Abgründen rechts und links kann es einem da schon mulmig werden. Den Gipfel teilen wir uns heute mit zwei weiteren Wanderern. Die Aussicht ist grandios. Die weiß gekrönten Ötztaler Berge erheben sich stolz vor dunklem Blau. Im Westen die spitze Weißkugel, im Norden die Wildspitze – beide mit über 3700 m Höhe. Im Osten die Finailspitze. Dahinter der berühmte Similaun, wo Bergsteiger 1991 die Gletschermumie oberhalb des Niederjochferners auf 3210m Höhe fanden („Ötzi“ suchte vor 5000 Jahren vom Schnalstal aus einen Weg über die Gletscher nach Norden).

Dazwischen unzählige weitere Zinken mit vergletscherten Hängen bis weit in die Talsohlen. Besonders die Gletscher Hochjochferner und Kreuzferner reichen noch weit hinab, wenn auch nicht mehr der Karte entsprechend, sondern leider schon weit kleiner. Im Süden entdecken wir alte Bekannte. Die Giganten Ortler, Monte Zebru, Königsspitze und Monte Cevedale überragen hier den Vinschgau. Nach ausgiebiger Film und Fotosession machen wir uns auf den Weg zum eigentlichen Tagesziel.

Laut Karte führt der Weg zur Schönen-Aussicht-Hütte eigentlich den Gletscher hinab, inzwischen aber über dessen Möränenfelder links vorbei. Ohne Neuschnee könnte man hier sogar einen weiteren Gipfel, die Graue Wand (3202 m) mitnehmen – heute ist der Pfad aufgrund des Schnees leider unauffindbar. Wir folgen daher dem unseren weiter bis zum Einstieg in den gut gesicherten und hier auch schneefreien Steig. Dieser führt uns nach vielen Kletterpassagen, die jedoch recht leicht einzustufen sind, hinab bis zum Gletschersee des Hochferners. Erstmals mache ich hier die Erfahrung, wie schnell man auf dem Hosenboden rutschen kann, wenn man auf einem verharschten Gletscher den Halt verliert. Nachdem das Gelächter nach dieser Übung sich gelegt hat, steigen wir weiter zur vor uns liegenden Rifugio Bellavista hinauf, der italienische Name unseres Zwischenziels. Von Grawand bis hierher waren es knapp 1,5 h Gehzeit.

„Bellavista“ ist nicht übertrieben. Die Hütte ist auch für Turnschuh-Wanderer direkt von Kurzras im Schnalstal aus in reichlich 2 Stunden auf guten Saumwegen erreichbar. Mit Blick auf die Eisfelder von Hochferner und Kreuzferner sowie auf die Gipfel Grawand, Graue Wand und Schwarze Wand kann hier jeder ein hochalpines Erlebnis genießen. Zudem arbeiten hier nette junge Italienerinnen. Wohl Studentinnen, die ihre Semesterferien hier verbringen – beneidenswert.

Von der Hütte aus den Markierungen und Steinmännern folgend führt der Weg über die Geröllflächen und Gletscherschliffe der Jochköfel weiter aufwärts zu den Moränenfeldern ab 3100 m Höhe. Wir sind heute nicht die einzigen Gipfelstürmer, drei Gruppen sind vor uns, zwei kommen uns entgegen. In etwa 3100 m scheint der Gipfel erreicht, zumindest scheint der dortige Steinhaufen das Ziel der Wandergruppe zu sein, die wir hier einholen. Der eigentliche Gipfel des „Im Hintern Eis“ wird hier aber erst sichtbar. Der Weg schlängelt sich nun nach links flach an den Südfuß des Gipfels und über Trümmer und Schnee steil hinauf zum höchsten Punkt. Die Mühe wird belohnt. Und es ist jetzt der siebte 3000er in dieser Woche, auf dem wir stehen.

Auf dem „Im Hintern Eis“ haben wir mit solch eisigen Temperaturen nicht gerechnet, aber wir lassen uns von einem vielleicht doch wahren Hintergrund des Namens nicht abschrecken – das Erlebnis ist überwältigend, wir saugen die Eindrücke förmlich auf: Wolkenformationen jagen vorüber. Zum Greifen nahe. Die Luft ist klar, schmeckt frisch und sauber. Absolute Stille, nur hin und wieder der Ruf einer Dohle. Die Zeit scheint still zu stehen. Und einsam ist es, aber schön einsam. Gegenüber ein gigantischer Berg, die Weißkugel mit ihrer 300 m hohen Gipfelflanke aus Fels und Eis. 3700 m hoch ist der Riese. Darunter entspringt ein mächtiger Gletscher. Spaltenreich mit wilden Eisbrüchen schiebt er sich kilometerweit talabwärts. Die Kälte des „Hintereisfernes“ lässt uns frösteln.

Von diesem Gletscher leitet sich auch der Name unseres Ziels ab, scheint aber eher irrtümlich von einem Kartografen so benannt zu sein, denn Derartiges klingt eher nach einem Flurname, bezeichnet aber nie einen Gipfel. Egal, „Im Hintern Eis“ droht wohl jedem, der sich hier zu lange aufhält. Im Gegensatz zum seltsamen Namen ist dessen Lage sehr reizvoll. Den Berg kennzeichnet im Westen und Norden eine 350 m hohe Fels- und Eisflanke, während Moränenfelder und Gletscherschliffe die Süd- und gleichzeitig Aufstiegsseite prägen. Im Norden krönt jetzt ganz nah die Wildspitze mit ihren zahlreichen Vorgipfeln das eindrucksvolle Bild. Im Westen die Weißkugel – beide über 3700 m hoch.

Eine ganz andere Welt, fast unwirklich, lebensfeindlich und fern von Allem. Fern vom Leben, das wir tief unten im Tal zurückließen. Im Schnalstal, das idyllisch, wie die Landschaft einer Modelleisenbahn unter uns liegt. Der Gipfel lässt mich absolute Freiheit fühlen, ein befreit sein von allem. Hier wird mir der Grund für die einzigartige „Bergfaszination“ bewusst. Es ist die unbeschreibliche Vielfalt der Gegensätze, die man hier mit allen geschärften Sinnen wahrnimmt. Extreme Höhen und Tiefen, Ruhe und Wildheit zugleich, Abenteuer und Entspannung, Harmonie und Chaos. Kälte und Wärme, Vergänglichkeit und Beständigkeit, Angst und Wohlbefinden. Alles extrem nahe beieinander. Das Naturerlebnis ermöglicht ein Verlassen des Alltags, wie es woanders kaum möglich ist. Und ein gestärktes Selbstbewusstsein. Ich habe mich selbst entdeckt, gleichzeitig aber auch „Urlaub“ von mir selbst gemacht. Das Ziel ist die Rückkehr ins Tal, zurück zur Familie, zurück ins alltägliche Leben – mit freiem Geist im Gepäck – und dem Gefühl, etwas oben gelassen zu haben.

Den letzten Weg zum Gipfel hinauf hatten nur noch drei andere Gipfelsuchende gewagt, nach gegenseitiger Beglückwünschung treten diese jedoch schnell wieder den Rückweg an, weil im Westen schlechtes Wetter aufzuziehen droht. Wir genießen erstmal jedoch ausgiebig den Ausblick, bevor wir den langen 1200 Hm –Abstieg angehen.

Bald erreichen wir dann über die gleiche Route wieder die Schöne-Aussicht-Hütte, die wir für eine weitere Pause nutzen. Der Abstiegsweg ist anschließend wirklich leicht, da breit angelegt. Jedoch lang und aufgrund des Höhenunterschiedes für unsere Knie sehr belastend. Unterhalb der Steinschlagspitze und des Hasenkopfs führt der Saumweg erst nach Westen auf die andere Talseite, dann dort immer oberhalb des Bacheinschnitts bleibend hinab ins Tal bei Kurzras. Die letzten Höhenmeter legen wir im schmerzenden Eilschritt zurück, um nicht unangenehm vom Gewitter, das bereits den Vinschgau hinauf grollt, überrascht zu werden. In letzter Sekunde erreichen wir trockenen Fußes den Parkplatz und retten uns in unseren Wagen. Wir beschließen nach Sulden zurückzukehren, um am nächsten Tag einen der vorgelagerten Gipfel des Ortlers zu besteigen – die Tabarettaspitze.

8. Tag: Tabarettaspitze (3128 m)

© Michael Breiden 15.01.2007

Tabarettaspitze (3128 m)

Tabarettaspitze (3128 m)

11.08.2006

Das Wetter bleibt wechselhaft. Aber wir sind guter Dinge, heute unseren neunten 3000er zu erreichen – Tabarettaspitze, schon träumen wir von zehn bis elf dieser Größenordnung, womit wir unsere Allzeit-Statistik enorm aufpoliert hätten. Wir starten mit dem Sessellift hinauf zur Bergstation Langenstein auf 2330 m. Von hier aus folgen wir erst Weg Nr. 10, dann 4a in Richtung Zwischenziel Tabarettahütte. Der Pfad führt über „frisches“ Geröll direkt unter der Unter der Ortler-Nordwandberühmten Ortler-Nordwand entlang, das teilweise erst jüngst aus der Ortler-Nordwand herab gedonnert zu sein scheint – zunächst etwa eine Stunde immer etwa auf einer Höhe. Die Tabarettahütte liegt auf einem kleinen Hügel an dessen Fuß ein großer Gedenkstein an alle Verunglückten der Ortler-Nordwand erinnert. Hier steigen wir jetzt etwa 200 Hm auf einem gut angelegten Serpentinenpfad empor, um bei der Tabarettahütte (2556 m) unseren ersten Pausensnack einzulegen.

Der anstrengende Teil erwartet uns nun über Weg Nr. 4 hinauf zur Payerhütte, die einsam hoch oben auf einem Felszipfel thront und heute nur gelegentlich ihre Verschleierung fallen lässt. Der schmale Serpentinen-Weg wirkt schon von unten sehr spektakulär. Er führt entlang der fast senkrechten Felsen über teilweise loses Geröll und Felsstufen. Hier ist Trittsicherheit gefragt, denn losgetretene Steine lösen hier leicht eine Gerölllawine aus. Plötzlich schießen tatsächlich einige Felsbrocken sehr nah an uns vorbei – dem Verursacher über uns können wir jedoch keinen Rüffel wegen Unachtsamkeit erteilen – hinter einem Felsblock weit oben blickt uns eine Ziege treudoof an und scheint sich keiner Schuld bewusst. Nach einer Stunde gelangen wir zur Bärenkopfscharte auf 2871 m, die uns jetzt den Blick hinab ins nebelige Trafoiertal und auf die Stilfserjochstraße erlaubt. Merklich haucht uns der vergletscherte Fast-4000er seine Kälte entgegen. Wir stehen zu Füßen des berühmten Ortlers.

Tabarettahütte und Sulden liegen winzig wie Märklin-Modelle tief unter uns. Die Payerhütte thront wie ein Adlerhorst in schwindelnder Höhe über uns. Bis dorthin wurde es jetzt richtig spannend. Wir haben ein Felsmassiv zu passieren, dessen glatte westliche Platte steil in den Himmel ragt. Dazu nur eine fußbreite Rinne. Dank guter Drahtseilsicherungen lässt sie sich sicher passieren – mit und ohne Sicherungsgurt. Der über 200m schaurige Tiefblick lässt uns jedoch schwindeln. Eine früher schwierigere Kletterstelle ist durch eine Holzbrücke entschärft. Der Steig endet an einem freistehenden ca. acht Meter hohen Felszacken, der an einen mahnenden Finger König Ortlers erinnert und Bergsteiger zur Vorsicht mahnt. Der Sage nach soll es sich beim Ortler um einen versteinerten Riesen handeln.

Nun sind es noch ca. 100 Höhenmeter bis zur Hütte auf steilem aber gut ausgebautem Platten-Weg. Zugang, Lage und das sich hier bietende Bild der Payerhütte mit ihrer Kapelle erinnert mehr an die uns wohlbekannten Burgruinen des Rheintales, als an eine Berghütte. Bei gutem Wetter ist diese wichtiger Ausgangspunkt für zahlreiche Seilschaften, die mit Bergführern unterwegs zum Gipfel des Eisriesen sind. Die kleine Kapelle hier soll letzten Segen für eine glückliche Rückkehr spenden.

Heute braucht ihn niemand. Nur wenige Tagesbesucher rasten in der Gaststube, zumindest sieht neben dem einzig anwesenden Bergführer niemand so aus, als wolle er heute oder überhaupt je den Ortler besteigen. Dazu ist derzeit die Wetterlage sowieso zu unbeständig. Bei einsetzendem Schneefall und momentaner Aussichtslosigkeit genehmigen wir uns zunächst eine wärmende Mittagssuppe im Stübchen.

Der Weg zur Tabarettaspitze ist von hier aus nicht weiter ausgeschildert. Wir müssten auf Verdacht ausgetretenen Pfaden in Richtung Ortler folgen über rutschigen und steilen Fels vorbei an gähnende Abgründen – mit Kletterei am oberen Stück. Da nun eine richtig dichte Nebelwand aufzieht und weiteren Schneefall mit sich bringt, treten wir den Rückweg an. Heute halt ohne Gipfel, aber immerhin ein lohnendes Ziel über 3000 m erreicht. Wir ahnen nicht, dass nur acht Tage später ganz in der Nähe bei schlechtem Wetter zwei Dortmunder Bergwanderer auf tragische Weise ihren Tod finden. Und schon im Mai fielen zwei Berchtesgadener einer Eislawine in der Nordwand zum Opfer. Wetter und Berg sollten hier nicht herausgefordert werden.

Wir kehren gesund und glücklich auf gleichem Pfad zurück ins Tal. Der Rückweg kommt uns sogar recht kurz vor – vermutlich, weil wir uns inzwischen ausgesprochen fit und trainiert fühlen. Noch beim Abstieg planen wir für morgen unseren nächsten Gipfel. Doch dazu soll es nicht mehr kommen. Der Rückweg ins Suldental geht bis zur Tabarettahütte komplett über die Aufstiegsroute. Von dort aus wieder hinüber zum Sessellift Langenstein und schließlich hinab ins Tal, wo uns heute wieder eine leckere Pizza in der Bärenhöhle erwartet – ein letztes Mal. Aber wir kommen wieder – irgendwann – und nehmen uns den Chef vor, den König Ortler.

Suldental, 9. Tag: Der Morgen ist kühl und verregnet. Alle Hoffnungen auf Wetterbesserung schwinden. Wir setzen auf Plan B, der uns fort aus Südtirol auf dem Heimweg sogar noch ein bis zwei Gipfel in den Ötztaler Alpen bescheren könnte. Das wäre noch einmal ein Highlight. Doch leider zeigen sich Stunden später auch die Österreicher Berge von ihrer fiesesten Seite, so dass wir den Alpen nun gänzlich den Rücken kehren. Aber wir sind mit dem Erreichten zufrieden. Elf Gipfel, davon acht 3000er in nur acht Tagen. Das hätten wir vor einer Woche nicht für möglich gehalten. Und der Sommer 2007 kommt bestimmt.

© Michael Breiden 15.01.2007