Ankunft in Sulden – Aufstieg zur Düsseldorfer Hütte

Ankunft in Sulden – Aufstieg zur Düsseldorfer Hütte

04.08.2006

Sulden im gleichnamigen TalFür unsere neuntägige Bergtour haben wir in diesem Jahr den „Vinschgau“ gewählt, italienisch Val Venosta.. Der westliche Teil Südtirols ist über Italiens Grenzen hinaus für Apfelanbau bekannt. Unter Bergbegeisterten gilt er indessen als Eldorado. Denn hier erwarten den Alpinisten fast 100 Gletscher und mehr als 70 Gipfel über 3000 Höhenmeter. Und die regenärmste Region Südtirols und gleichzeitig eines der trockensten Gebiete der gesamten Alpen bietet meist stabiles gutes Bergwetter. Erreichbar von Deutschland über Fern- und Rechenpass, über Imst und Landeck in Österreich – vonWeg zur Düsseldorfer Füssen aus 160 km in 2-3 Stunden. 

Das den Vinschgau prägende Tal der Etsch wird im Norden von hohen Ötztaler Bergen begrenzt. Hier entspringt der zweitlängste Fluss Italiens, die Etsch. Und hier wurde auch die bekannte Gletschermumie „Ötzi“ oberhalb des Niederjochferners im Similaun-Gebiet auf 3210 m Höhe gefunden. Im Süden dominiert die gewaltige Ortlergruppe. Der riesige Bergstock von 50 km Länge und 40 km Breite ist nach dem höchsten und mächtigsten Gipfel der Gruppe benannt – dem 3905 m hohen „König“ Ortler. Neun der hiesigen 3000er haben wir uns vorgenommen.

Von den Bergen ist leider während der Fahrt kaum etwas zu sehen. Im Vinschgau geht es rechts ab über Gomagoi und Prad ins Ortlergebiet. Erster Ausgangspunkt ist das Suldental mit dem kleinen Ort Sulden auf 1845 m am Fuße des Ortlers. Un  en dreistündigen Aufstieg, durch den Bachlauf des Zaybachs (obwohl Weg Nr. 5 einer der schönsten Steige in Sulden sein soll!), gondeln per Kanzellift auf 2348m und erreichen die Düsseldorfer Hütte in 1,5 Stunden Fußmarsch.

Der vom Hüttenwirt persönlich gut ausgebaute und wenig steile Wanderweg Nr. 12 lädt auch viele Tageswanderer auf ein Schmankerl in die Hüttenstube ein. Und bietet auch Sandalentouristen ein Panorama der Extraklasse auf Ortler & Co.

Während des Aufstiegs reißen dann und wann die Wolken auf – der Anblick lässt uns Böses erahnen. Es gab Neuschnee! Das Anfang August! Und nicht zu knapp!

Bald erreichen wir unser Tagesziel, Rifugio Serriston auf italienisch. Von hier aus lassen sich – je nach Können – drei bis vier Dreitausender besteigen. Und die Umgebung dieser gut geführten Hütte gehört mit den großen Felsblöcken, den Gletscherschliffen sowie den herrlichen Nah- und Fernblicken zur Schönsten in Südtirol.

Die Hütte ist sehr gefragt, wer hier mehrtägige Touren plant, sollte sich vorab auch über www.duesseldorferhuette.com informieren und seine Unterkunft frühzeitig reservieren.

Wir verbringen den Spätnachmittag und Abend in der Gaststube bei Wiener Schnitzel, Weizenbier und ausgedehnter Tourenplanung für die nächsten Tage, bevor wir pünktlich zur Bettruhe im gemütlichen 2-Bett-Zimmer den wohlverdienten Schlaf finden.

2.Tag: Tschenglser Hochwand (3375 m)

© Michael Breiden 15.01.2007

Tschenglser Hochwand (3375)

Tschenglser Hochwand (3375)

05.08.2006

Am Morgen lässt sich König Ortler gegenüber des Tales blicken. Der fast 4000 m hohe Riese strahlt im Morgenlicht. Bei der ersten Zigarette hole ich mir fast Erfrierungen. Stefan freut es sichtlich, dass er als König Ortler mal wolkenfreiNichtraucher heute nicht leiden muss. Wir genießen um 7.00 Uhr ein gutes Frühstück und erkundigen uns beim Hüttenwirt über Wetter- und Wegverhältnisse. Er scheint nicht ein Mann klarer Worte zu sein, legt sich über Weg-Zustand und Wetter ungern fest, aber es „soll wohl schöner werden“. Irgendwann. Es sei noch niemand nach dem Neuschnee Schnee Anfang Augustoben gewesen, daher könne es etwas schwierig sein. Wir starten also, um unseren diesjährig ersten 3000 zu ersteigen. Dazu haben wir ausgerechnet den Zungenbrecher Tschenglser Hochwand gewählt. Sie gilt als Nonplusultra für trittsichere Wege-Bergsteiger. Mit 3375 m einer der höchsten Gipfel rund um die Hütte. Die Spannung am Morgen ist groß. Starten wir doch in eine uns unbekannte Region. Alleine, fort von allem uns Bekannten und Sicheren.

Der Zugang zur Hochwand begeistert durch seine Vielfalt, malerisch sind die Blockfelder mit Trümmer und BlockwerkRiesentrümmern bis zur Hausgröße. Der Höhenweg Nr. 5 schlängelt sich durch gewaltiges Blockwerk und Geröll, das einst große Gletscher als Moränen liegen ließen. Am kleinen See „Seenlin i Laghetti“ gabelt sich der Pfad laut Karte. Heute sehen wir hier nur eine Fußspur – und die zeigt in Richtung Angelusspitz und Schafbergspitz (Weg 5a). Im Neuschnee haben wir es schwer Wegmarkierungen zu finden. Dieses heitere Suchspiel soll uns leider bis zum Gipfel erhalten bleiben.

Mit jedem Höhenmeter scheint der Schnee tiefer zu werden. So hangeln wir uns von einer Markierung zur nächsten. Drei weitere Bergsteiger folgen uns stetig auf Abstand – das ist ja auch leichter. Am Einstieg des Klettersteigs „hagelt“ es Eiszapfen, die sich in der zarten Morgensonne weit oben lösen. Der vom Hüttenwirt persönlich angelegt Steig wäre Eiszapfen hageln herabmörderisch.

Alternativ führt der steile Serpentinenweg durch eine Geröllrinne zur Scharte am Südwest-Grat. Schneefrei gut markiert, bei Neuschnee kaum auszumachen. Die Chance auf den heutigen Gipfel schwindet – ähnlich wie die Kraft, denn Schnee und Wegsuche wirken nun doppelt anstrengend – oft finden wir nicht den ursprünglichen Weg, steigen einfach die Rinne bestmöglich nach oben. Was zunehmend auch in Kletterei durch Schnee und Eis übergeht.

Der Gipfelaufbau lässt jetzt echte Spannung aufkommen. Zum Außergewöhnlichen gehört der ständige Blick auf die berühmten Nordwände von Ortler (3899m) – heute, Anfang August, alles in weiß gehüllt.

Der Hohe Angelus gegenüberNach zwei Stunden machen wir Pause und lassen die Gruppe vorbeiziehen, damit diese Vertainspitze mit Hängegletscherab jetzt die Vorarbeit leisten kann.

Weiter folgen wir dem Pfad über den steilen Grad, wo wir immer wieder die Hände brauchen, um einzelne Stellen zu überwinden, oder teilweise auch freihändig über schmale vereiste Gräte balancieren müssen. Eine heikle Sache. Jeder Tritt musste hier sitzen. Trotz mulmigem Gefühl im Magen treibt uns das sichtbare Gipfelziel weiter. Unwiderstehlich die Anziehungskraft. Jetzt nicht mehr zurück.

Schließlich überwinden wir zwei ansonsten leichte Klettersteigpassagen. Heute durch Schnee und Eis oberer Gipfelaufbau der Tschenglser HochwandKlettern an der Hochwandzwar erschwert aber mühelos und ungefährlich, dank Sicherungen am Drahtseil.

Solche Kletterstellen sorgen immer für zusätzliches Adrenalin und steigenden Puls. Das aber wiederum für neue Energie. Die letzten Meter zum Gipfel lassen auf glitschigem Schnee und Fels ohne Sicherung das Adrenalin steigen. Nach vier Stunden haben wir den höchsten Punkt erreicht.

Das Gipfelerlebnis ist gewaltig. 2500 m überragt das breit gelagerte Felsmassiv den Vinschgau, 600 m ist die Nordwand, 300 m die Südflanke hoch. Und die Grate strotzen von wilden Felszacken. Die waagerechten Eiszapfen am Gipfelkreuz verraten, welch kalte Stürme hier herrschen. Die Aussicht ist grandios – auf die Eisriesen Ortler, Monte Zebru und Königsspitz, auf die 500 m hohe Nordwand der Vertainspitze mit ihrem Hängegletscher sowie auf die Steilabbrüche des Gletschers der Großen Angelusspitze. Zum Greifen nah lassen sich jede Eiswulst, jeder mit Neuschnee gezuckerte Felssporn mit bloßem Auge erkennen. Gen Norden dann der Tiefblick in den sommerlichen Vinschgau. Überwältigend! Und überwältigend das Gefühl, nur durch eigene Kraft diesen Koloss bezwungen zu haben.

Nach ausgiebigem Beglückwünschen mit Handshake, Gipfel-Foto-Shooting, Pausensnak mit Wasser, Keksen und Zigarette treten wir vor den anderen Bergsteigern – Tschechen, wie sich herausstellt – wieder den Abstieg an, um die Kletterstellen in unserer Geschwindigkeit gehen zu können. Beim Aufstieg haben uns die Tschechen hier Michael am Gipfelaufgehalten und für unkomfortable Warterei im Steilhang gesorgt. Die Kletterstellen wirken von oben furchterregend, sind aber leichter im Abstieg passierbar. Der Schnee wird arg sulzig, die Trittsicherheit lässt nach, und das Bombardement mit Eiszapfen wird teils gefährlich. Wir begegnen einer weiteren Gruppe beim Aufstieg, die uns danken, dass wir den Weg gespurt haben. Nach nur 2 h sind wir wieder am Seenlin i Laghetti, wo sich alsbald auch die Tschechen zu uns gesellen – im Rausch des Gipfelsturms plaudern wir fröhlich miteinander – wir haben es geschafft – die Tschenglser Hochwand sollte unser bisher höchster und schwierigster Berg der Ortler-Tour bleiben.

Bis zur Hütte, wo Südtiroler Köstlichkeiten für die Anstrengung belohnen, ist es jetzt ein halbstündigezurück durch haushohe Trümmerfelders Kinderspiel. Auch Stefan ist sichtlich erleichtert und entspannt auf seine Weise. Die spätere Freude bei Rückkehr zur Hütte ist noch größer. Vermutlich ist es die Freude, der Gefahr getrotzt zu haben, gesund zurückzukehren – oder ganz einfach die Entspannung nach stundenlanger Anspannung – die Gelöstheit nach dem „Kick“.

Der Wirt der Düsseldorfer Hütte kennt die Geschichten, die abends bis in seine Küche vordringen, während er südtiroler Köstlichkeiten kredenzt. Die Gipfelstürmer reflektieren das Erlebte, der eine lautstark, der andere ruhig in sich gekehrt – aber alle mit zufriedenem Lächeln. Alles ist vergessen. Nur das hier und jetzt zählt. Job, Heimat, Familie – alles weit weg hinter den Bergen. Radler und Schnitzel schmecken uns heute besonders gut. Bald träumen wir vom König Ortler und seinen vielen Genossen drum herum, die wir alle bezwingen wollen.

3. Tag: Hinteres Schöneck (3128 m)

© Michael Breiden 27.02.2006

Hinteres Schöneck (3128 m)

Hinteres Schöneck (3128 m)

06.08.2006

Eigentlich steht der Hohe Angelus mit seinen 3521m auf unserem Plan. Die Wetterbedingungen sind aber alles andere, als ideal. So nehmen wir uns heute das weniger schwere „Hintere Schöneck“ vor. Der Hütten-Hausberg gilt als Aussichtsloge der Extraklasse gegenüber der Ortler-Nordwand mit seinem 3899m hohen Gipfel und dem mächtigen Gletscherdach der Nordseite. Der Gipfel bietet sich als Höhepunkt einer Abstiegsroute ins Tal an.

Hinter der Hütte geht’s nach Weg Nr. 25a schräg zum breiten Bach hinab und über Bretter ans andere Gipfel im NebelUfer. Der Weg führte uns über Schutthalden zum Steilgelände, durch steiles Gras, Trümmerflächen und Schrofen – über Rippen und quer durch Rinnen in der Flanke weit empor. Dann quer durch das Steilgelände über Platten und Blockfelder zum Gipfel herauf, der nur wenig aus dem Kamm hervorragt.

Die Route von der Düsseldorfer Hütte zum Hinteren Schöneck ist steil und voller Überraschungen, da der Weg durch die zerfurchte Felsflanke von unten nicht auszumachen ist. Inklusive weniger Pausen erreichen wir den Gipfel nach nur 1 h 45 Min., womit wir in einer guten Zeit liegen.

Das als Aussichtsloge geltende Schöneck zeigt sich heute weder schön noch aussichtsreich. Düstere Nebelwolken verhüllen jegliche Talblicke und lassen es zudem noch auf uns herabschneien. Entsprechend kurz fällt die Gipfelpause aus. 1200 Höhenmeter Abstieg nach Sulden stehen bevor. Auf und neben dem Südrücken geht es abwärts, teilweise wieder über mächtiges Blockfeld und über gut ausgebaute Plattenwege bis zum völlig unauffälligen vorderen Schöneck (2908 m). Dieser vordere „Gipfel“ ist für Wanderer, die sich auf einfachen Bergpfaden wohl fühlen, bei schönem Wetter ebenso ein tolles Ziel, erreichbar von Sulden herauf, da dieser gewöhnlich schöne Blicke auf die Eisklötze Ortler, Monte Zebru, Königsspitze und hinab ins Suldental verspricht.

Die Bezeichnung „Gipfel“ ist aber leicht übertrieben, es ist eher ein Grashügel, der vordere eines langen Das Vordere SchöneckKamms. Wir verlieren über den Pfad Nr. 25 bei einsetzendem Regen und Wind jetzt über den Kamm abwärts schnell an Höhe. Bei ca. 2750 m dann in steile KüheWiesenhänge diagonal abwärts über die Stieralm zur Kalberhütte nahe der Waldgrenze. Ein zuvor nicht eingezeichneter Weg, für uns aber eine vermeintliche Abkürzung, offenbart sich als Sackgasse und endet bei Lawinenschutzgittern. Zurück bei Kalberhütte vorbei stolpern wir nun den breiten Wald- und Forstweg hinab nach Sulden. Die 1200 Höhenmeter sind trotz einfachem Weg nicht zu unterschätzen, brauchten wir doch über 4 Stunden dafür.

Die nächsten Nächte belohnen wir uns für die Knochenschinderei mit einem luxuriösegegenüber der Ortlern Talquartier, ausgestattet mit Dusche und Fernseher. Nun wussten wir die Vorzüge einer herrlich warmen Dusche wieder zu schätzen – und deren wundersame Belebung müder Muskulatur. Belebt wurde die letzten Tage aber noch mehr. Trotz körperlicher Anstrengung spürte ich eine herrliche Belebung meines Geistes. Die Wahrnehmung wurde geschärBrotzeit bzw. Kekszeitft. Als ob ich meine natürlichen Instinkte wieder finde. Jeder Stein, jede Pflanze aufgesogen und gespeichert. Und die Zeit verrinnt tagsüber scheinbar langsamer, jede Minute lebe ich intensiver. Die Erfahrung mit dem Wesentlichen, dem Ursprünglichen – eine enorme Erholung für den Geist. Und das entfaltet erstaunliche körperliche Energie, die ich tagtäglich bis in allen Gliedern zu fühlen glaube. Ich nehme an, Kumpel Stefan empfindet ähnliches, denn als Großstädter aus Köln setzt er hier eine erstaunliche Energie frei – zäher Bursche.

Unser Restaurant-Tipp: Die Bärenhöhle
Wir machen eine wirklich gute Pizzaria aus: die Bärenhöhle. Der Besitzer – offensichtlich ein Motorrad-Freak, hat aus einer alten Scheune eine urige Pizza-Höhle mit tollem Ambiente geschaffen. Und Olio-Picante hat er auch.

4.Tag: Hintere Schöntaufspitze (3325 m)

© Michael Breiden 15.01.2007

Hintere Schöntaufspitze (3325 m)

Hintere Schöntaufspitze (3325 m)

07.08.2006

Da das Wetter auch am folgenden Tag noch Kälte, leichten Regen und Wolken bereithält, planen wir für heute die Hintere Schöntaufspitze. Denn dieser Gipfel gilt als „schnellster“ Ortler-Dreitausender. Von Sulden ist fällt klarer Sicht der weiße Schopf der Schöntaufspitze über dem äußeren Rosimtal ins Auge – ein kammnaher Gletscher, der den Gipfel im Norden schmückt, sorgt für das charakteristische Bild. Darunter fällt eine Felsflanke in Hochkare ab, die nahezu nie von Bergsteigern betreten werden. Die Südseite ist das krasse Gegenstück dazu. Dort ist das Gelände sanft und weiträumig –Suldenferner mit Königsspitze und dient im Winter als hochalpine Pistenregion. Das ist die Aufstiegsroute.

Wir nehmen mit der Seilbahn die ersten Höhenmeter zur Schaubachhütte auf 2580 m. Zu Fuß vom Tal in knapp zwei Stunden erreichbar. Mit leichtem Gepäck, dazu gehören heute nur Regenjacke, Stöcke, Trinkwasser und Fotoausrüstung, sollte uns heute eine Blitzbesteigung gelingen.

Bei Ankunft an der Bergstation empfängt Stefan und mich ein gewaltiges Bild: ganz nahe der wild zerklüftete Suldenferner und dahinter, scheinbar unendlich hoch die Königsspitze (3859 m) mit der Nordwand fast im Profil und dem 1100 m hohen Ostbollwerk. Selbst heute, bei nur gelegentlichen Einblicken bei Aufriss der Wolkendecke sehr beeindruckend.

Dank Seilbahn tummeln sich hier viele Turnschuhtouristen. Doch deren Ziel scheint eher die große bewirtete Madritschhütte zu sein, die wir auf halbem Weg 151 in Richtung Madritschjoch passieren. Bis dorthin ist der Weg breit und leicht begehbar, führt er doch großteils über breite Pistenschneisen. Das Joch (3123 m) erreichen wir nach nur 1,5 Stunden, das letzte Stück steil über Schutt und Schnee.

Inzwischen herrscht hier starker Wind, die Wolkendecke unmittelbar über uns. Hier eröffnet sich der Blick ins Madritschtal und Martelltal, auf dessen Osthängen wir ein weiteres unserer geplanten Ziele sehen. Über das Madritschjoch finden Wanderer eine kurze Verbindung von Martell- und Suldental – mit dem Wagen sind diese Täler ca. 80 km voneinander entfernt.

Am heutigen Tag sehen wir niemanden, der zum Gipfel hinaufsteigt, jedoch einige, die ihre Besteigung vorzeitig abbrechen. Obwohl der Wind nun in heftige Sturmböen umschlägt, entschließen wir uns zu einem Versuch. Der sonst eher leichte Weg nach Norden über den erst ausgeprägten Kamm wird durch den 30-50 cm Neuschnee zusätzlich schwierig, da fast vollkommen unkenntlich. Dank guter Ausrüstung erreichen wir nach 40 Min. über den Weg über Skipistenbreiten Rücken und eine weiträumige Gipfelfläche die Schöntaufspitze. Bei inzwischen heftigem Sturm und nur wenigen Meter Sicht müssen wir immer darauf gefasst sein, davon geweht zu werden. Stefan erinnert so eingepackt fast an einen Polarforscher im Schneesturm.

Den höchsten Punkt endlich erreicht beeindruckt uns zwar nicht die hier ansonsten herrliche Aussicht auf die Ortlergruppe, nein, die bleibt gänzlich aus. Der Gipfel überrascht uns jedoch mit einem seltenen Phänomen. Auf ca. 20 qm genau auf dem höchsten Punkt Am höchsten Punktherrscht plötzlich absolute Windstille, obwohl der Sturm drum herum geradezu tobt. Wie im Auge eines Hurrikans. Faszinierend! Eine Belohnung für den Gipfelstürmer. Wieder ein ungewöhnliches Naturerlebnis. Oder achte ich hier mehr darauf? Die Achtung vor der Natur. Das ist es! Mehr Respekt, weil ich ihr ausgeliefert bin. Und meine Sinne werden scheinbar trainiert: Sehen, hören, spüren – und speichern!

Eine mit Schnee und Eis umhüllte Messstation mit deutlich horizontaler Ausrichtung der Eisformation erinnert an arktis-ähnliche Wind- und Temperaturverhältnisse. Daher bleiben wir nicht lange. Den Rückweg vom Gipfel finden wir nun leichter über unsere eigenen windverwehten Spuren vom Aufstieg.

Zwei weitere Bergsteiger haben den Aufstieg gewagt und kommen uns auf halbem Wege entgegen. Wir erreichen bald das Madritschjoch und legen den Abstieg bis zur Madritschhütte schnell zurück, um uns hier bei einer leckeren Leberknödelsuppe aufzuwärmen.

Gut gestärkt ist die leichte Wanderung zur Schaubachhütte bei aufklarendem Himmel eine willkommene Abwechslung von nur 60 Minuten. Von dort gondeln wir ins Tal und lassen den Abend bei Pizza und Weizen in der Bärenhöhle ausklingen.

An diesem Abend bin ich sehr nachdenklich. Tagsüber ist man hier „eins“ mit Fels, Eis, Luft und Sonne. Und die Zeit scheint langsamer zu vergehen. Durch viele Eindrücke, aber auch durch Stille und Einsamkeit. Ich spüre jetzt noch den kalten Granit an den Fingerspitzen. Fühle tagsüber Furcht – und gleichzeitig Glück. Komisch, wie nahe das beieinander liegt.

Während die Anstrengung noch in allen Muskeln vibriert – planen wir schon das morgige Gipfelziel. Wie schon die Einheimische sagen: „Der Berg ruft“. Was ist das genau für ein Verlangen? Sehnsucht nach landschaftlicher Schönheit? Nähe zur Natur? Abenteuerlust? Das „eins“ werden mit den Elementen?

5. Tag: Rötlspitz/Punta Rosa (3026 m) und Monte Scorluzzo (3095 m)

© Michael Breiden 27.02.2006

Tabarettaspitze (3128 m)

Tabarettaspitze (3128 m)

11.08.2006

Das Wetter bleibt wechselhaft. Aber wir sind guter Dinge, heute unseren neunten 3000er zu erreichen – Tabarettaspitze, schon träumen wir von zehn bis elf dieser Größenordnung, womit wir unsere Allzeit-Statistik enorm aufpoliert hätten. Wir starten mit dem Sessellift hinauf zur Bergstation Langenstein auf 2330 m. Von hier aus folgen wir erst Weg Nr. 10, dann 4a in Richtung Zwischenziel Tabarettahütte. Der Pfad führt über „frisches“ Geröll direkt unter der Unter der Ortler-Nordwandberühmten Ortler-Nordwand entlang, das teilweise erst jüngst aus der Ortler-Nordwand herab gedonnert zu sein scheint – zunächst etwa eine Stunde immer etwa auf einer Höhe. Die Tabarettahütte liegt auf einem kleinen Hügel an dessen Fuß ein großer Gedenkstein an alle Verunglückten der Ortler-Nordwand erinnert. Hier steigen wir jetzt etwa 200 Hm auf einem gut angelegten Serpentinenpfad empor, um bei der Tabarettahütte (2556 m) unseren ersten Pausensnack einzulegen.

Der anstrengende Teil erwartet uns nun über Weg Nr. 4 hinauf zur Payerhütte, die einsam hoch oben auf einem Felszipfel thront und heute nur gelegentlich ihre Verschleierung fallen lässt. Der schmale Serpentinen-Weg wirkt schon von unten sehr spektakulär. Er führt entlang der fast senkrechten Felsen über teilweise loses Geröll und Felsstufen. Hier ist Trittsicherheit gefragt, denn losgetretene Steine lösen hier leicht eine Gerölllawine aus. Plötzlich schießen tatsächlich einige Felsbrocken sehr nah an uns vorbei – dem Verursacher über uns können wir jedoch keinen Rüffel wegen Unachtsamkeit erteilen – hinter einem Felsblock weit oben blickt uns eine Ziege treudoof an und scheint sich keiner Schuld bewusst. Nach einer Stunde gelangen wir zur Bärenkopfscharte auf 2871 m, die uns jetzt den Blick hinab ins nebelige Trafoiertal und auf die Stilfserjochstraße erlaubt. Merklich haucht uns der vergletscherte Fast-4000er seine Kälte entgegen. Wir stehen zu Füßen des berühmten Ortlers.

Tabarettahütte und Sulden liegen winzig wie Märklin-Modelle tief unter uns. Die Payerhütte thront wie ein Adlerhorst in schwindelnder Höhe über uns. Bis dorthin wurde es jetzt richtig spannend. Wir haben ein Felsmassiv zu passieren, dessen glatte westliche Platte steil in den Himmel ragt. Dazu nur eine fußbreite Rinne. Dank guter Drahtseilsicherungen lässt sie sich sicher passieren – mit und ohne Sicherungsgurt. Der über 200m schaurige Tiefblick lässt uns jedoch schwindeln. Eine früher schwierigere Kletterstelle ist durch eine Holzbrücke entschärft. Der Steig endet an einem freistehenden ca. acht Meter hohen Felszacken, der an einen mahnenden Finger König Ortlers erinnert und Bergsteiger zur Vorsicht mahnt. Der Sage nach soll es sich beim Ortler um einen versteinerten Riesen handeln.

Nun sind es noch ca. 100 Höhenmeter bis zur Hütte auf steilem aber gut ausgebautem Platten-Weg. Zugang, Lage und das sich hier bietende Bild der Payerhütte mit ihrer Kapelle erinnert mehr an die uns wohlbekannten Burgruinen des Rheintales, als an eine Berghütte. Bei gutem Wetter ist diese wichtiger Ausgangspunkt für zahlreiche Seilschaften, die mit Bergführern unterwegs zum Gipfel des Eisriesen sind. Die kleine Kapelle hier soll letzten Segen für eine glückliche Rückkehr spenden.

Heute braucht ihn niemand. Nur wenige Tagesbesucher rasten in der Gaststube, zumindest sieht neben dem einzig anwesenden Bergführer niemand so aus, als wolle er heute oder überhaupt je den Ortler besteigen. Dazu ist derzeit die Wetterlage sowieso zu unbeständig. Bei einsetzendem Schneefall und momentaner Aussichtslosigkeit genehmigen wir uns zunächst eine wärmende Mittagssuppe im Stübchen.

Der Weg zur Tabarettaspitze ist von hier aus nicht weiter ausgeschildert. Wir müssten auf Verdacht ausgetretenen Pfaden in Richtung Ortler folgen über rutschigen und steilen Fels vorbei an gähnende Abgründen – mit Kletterei am oberen Stück. Da nun eine richtig dichte Nebelwand aufzieht und weiteren Schneefall mit sich bringt, treten wir den Rückweg an. Heute halt ohne Gipfel, aber immerhin ein lohnendes Ziel über 3000 m erreicht. Wir ahnen nicht, dass nur acht Tage später ganz in der Nähe bei schlechtem Wetter zwei Dortmunder Bergwanderer auf tragische Weise ihren Tod finden. Und schon im Mai fielen zwei Berchtesgadener einer Eislawine in der Nordwand zum Opfer. Wetter und Berg sollten hier nicht herausgefordert werden.

Wir kehren gesund und glücklich auf gleichem Pfad zurück ins Tal. Der Rückweg kommt uns sogar recht kurz vor – vermutlich, weil wir uns inzwischen ausgesprochen fit und trainiert fühlen. Noch beim Abstieg planen wir für morgen unseren nächsten Gipfel. Doch dazu soll es nicht mehr kommen. Der Rückweg ins Suldental geht bis zur Tabarettahütte komplett über die Aufstiegsroute. Von dort aus wieder hinüber zum Sessellift Langenstein und schließlich hinab ins Tal, wo uns heute wieder eine leckere Pizza in der Bärenhöhle erwartet – ein letztes Mal. Aber wir kommen wieder – irgendwann – und nehmen uns den Chef vor, den König Ortler.

Suldental, 9. Tag: Der Morgen ist kühl und verregnet. Alle Hoffnungen auf Wetterbesserung schwinden. Wir setzen auf Plan B, der uns fort aus Südtirol auf dem Heimweg sogar noch ein bis zwei Gipfel in den Ötztaler Alpen bescheren könnte. Das wäre noch einmal ein Highlight. Doch leider zeigen sich Stunden später auch die Österreicher Berge von ihrer fiesesten Seite, so dass wir den Alpen nun gänzlich den Rücken kehren. Aber wir sind mit dem Erreichten zufrieden. Elf Gipfel, davon acht 3000er in nur acht Tagen. Das hätten wir vor einer Woche nicht für möglich gehalten. Und der Sommer 2007 kommt bestimmt.

© Michael Breiden 15.01.2007