Von Sexten zur Zsigmondyhütte (2235m)

Von Sexten zur Zsigmondyhütte (2235m)

01.07.2001

(i) Schnee, Schnee, Schnee
Das waren unsere drei Hauptsorgen während der beiden letzten Wochen. Da haben wir Frühsommer und in den Sextener Dolomiten liegt die kalte Pampe nach wie vor in rauhen Mengen herum. Einen derart langen Winter wie in diesem Jahr hatten die Alpen seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Noch im Mai hatte es deftig gerieselt. Ein Hohn angesichts der Tatsache, dass wir uns alle erdenkliche Mühe geben, die globale Erwärmung voranzutreiben. Doch auf die Natur ist bekanntlich kein Verlass.
Ohnmächtig waren wir dazu verdammt, die quälend langsamen Fortschritte der einsetzenden Schneeschmelze mittels Livecam und Wetterbericht aus der Ferne zu verfolgen. Rotwandspitze als Wolkenburg verkleidetSo waren wir auch nicht allzu überrascht, die Nordhänge der über dem Ortsteil Moos thronenden Rotwandspitze bei unserer gestrigen Ankunft in kräftiges Milchzahnweiß getaucht zu sehen. Hübsch anzublicken, solange man nicht dort oben herumzustapfen gedenkt. Schade, denn die eindrucksvolle Spitze hätte unser erster Meilenstein auf dem Weg zur Bertihütte sein sollen. Da werden wir wohl improvisieren müssen.

Von der Pension Weberhof, in der wir genächtigt und unsere vermutlich für längere Zeit letzte Dusche genossen haben, sind es nur wenige hundert Meter bishin zur Talstation der Rotwandwiesenbahn. Dort sagt man uns, was wir eigentlich schon wussten: oben liege noch sehr viel Schnee. Ein Anruf auf der Bertihütte bringt mehr Klarheit: der Klettersteig, der von der Bertihütte zur Zsigmondyhütte, unserem morgigem Ziel, führt, sei unpassierbar. Kurzerhand werfen wir unsere gesamte Planung über den Haufen und beschließen, die Bertihütte sausen zu lassen und schon heute zur Zsigmondyhütte aufzusteigen.
Unsere Knochen werden es uns danken, denn der Plan, am ersten Tag bereits einen steilen Beinahe-Dreitausender mal eben so vom Tal aus überrennen zu wollen, war vielleicht auch etwas zu ehrgeizig und eher dem Bierwahn entsprungen.

(ii) Fischlein und Wasser
Wir verlassen die Straße und somit die Zivilisation und folgen dem Dolomiten-Highway Nummer 5, der leicht ansteigend das malerische Fischleintal hinaufführt. Die Gipfel sind nach dem nächtlichen Regen in dichte Wattewolken gepackt, hier unten jedoch brennt bereits die Sonne und ein warmes Wonnegefühl stellt sich ein. Der Rucksack erscheint mir lange nicht so wuchtig wie vor einem Jahr bei unserer Tour durch die Westdolomiten und so bereue ich es vorläufig nicht, dass ich diesmal ein paar Unterhosen weniger eingepackt habe. Vorläufig… Wir kommen unerwartet schnell voran und hängen die zahlreichen Tagesausflügler locker ab.

Bald schon haben wir die Talschlusshütte (1548m) erreicht. Ihr italienischer Name, Capana Turistica, erweist sich als noch treffender. Blick durch das Bacherntal auf den HochleistAb hier zeigen wir dem Dolomiten-Highway die kalte Schulter und vertrauen auf den Trampelpfad, der parallel zu dem Bächlein mit dem originellen Namen Bachern-Bach direkt nach Süden führt. Vor uns liegt eine imposante steile Zinne, der Hochleist (2410m). Seine Form sowie die dunkle schwarze Spalte am Fuße seiner Nordwand wecken in uns unwillkürlich gewisse Assoziationen, die ich im Rahmen dieser seriösen Reportage nicht näher spezifizieren möchte.

Schließlich zwingt uns der Weg, den Bach zu überqueren. Zu Zeiten, an denen die Schneeschmelze abgeschlossen ist, mag sich an dieser Stelle eine seichte Furt befinden. Nicht so heute. Ich versinke bis über die Schäfte meiner Schuhe im Wasser und hole mir nasse Füße. Das erscheint mir anfangs nur ein wenig unbequem. Doch sobald der Weg steiler anzusteigen beginnt, bemerke ich erste Schmerzen. Offenbar löst sich die aufgeweichte Haut von den Fersen. Wir nehmen eine Auszeit zum Sockenwechseln, Schuhetrocknen und Salamifuttern.

Hoffentlich habe ich die Socken nicht zu voreilig ausgetauscht, denn laut Karte werden wir den Rauschebach noch einmal überqueren müssen. Das Tal vor uns verengt sich sukzessive, bald ist es fast gänzlich vom strömenden Wasser eingenommen. Wieder kommen wir an eine dieser Pseudo-Furten und stellen schnell fest, dass das Wasser zu tief ist, um das andere Ufer trockenen Fußes erreichen zu können. Nun ist guter Rat teuer.
Auf der Suche nach einer besseren Passage gehe ich das Ufer immer weiter stromaufwärts ab. Vergebens. Entweder ist das Wasser zu tief oder die Strömung ist zu reißend. Das ist nicht verwunderlich, denn nach den Gesetzen der Hydrodynamik sollte das Wasservolumen, das pro Zeiteinheit durch den Stromquerschnitt fließt, an allen Stellen das gleiche sein. Letztlich finde ich doch noch eine geeignete Stelle, an der ich den Mahlstrom durch geschicktes von-Fels-zu-Fels-Hüpfen überqueren kann. Mit dem schweren Gepäck wäre dies jedoch eine riskante Angelegenheit.

So kehre ich wieder zum Ausgangspunkt zurück und finde den Michael jammernd vor. Bei dem Versuch, Steine in den Bach zu werfen, hat er sich einen Finger gequetscht. Dafür kam ihm die zündende Idee, die ebenso absurd wie einleuchtend scheint: die Stromschnellen ohne Schuhe zu überqueren! In Badelatschen a la Kneipp durch das eiskalte Wasser. So wird es auch gemacht, schnell und schmerzhaft. Endlich am rettenden Ufer. Die Kosten dieser mehr als peinlichen Bachaktion: eine Stunde Zeit und ein nekroser Finger. Der Profit: saubere Füße und die Erkenntnis, dass es immer noch etwas zu lernen gibt.

(iii) Rifugio Zsigmondy Comici
Die Füße werden rasch wieder warm, während wir den rechtsbacherischen Hang emporsteigen. Das verhasste Gewässer liegt bald hundert Meter unter uns, als wir wieder auf den guten alten Dolomiten-Highway treffen. Der Unterschied zu unserem Trampelpfad ist markant: breite, ausgebaute Stufen führen die Südostflanke der Kanzel (2533m) hinauf. Wir treffen auf einen Briten, der meint, in eight minutes wären wir an der Hütte. Wir schaffen es sogar in five. Zsigy mit Kanzel (c) by MBWie die meisten Berghütten in den Dolomiten zeichnet sich auch die Zsigmondyhütte durch ihre exquisite Lage aus: gegenüber dem mächtigen Zwölferkofel (3094m) und seinem dieser Tage vollkommen schneebedeckten nördlichen Schutthang.

Wir checken bei der netten Blondine ein und lümmeln uns bei koffeinhaltiger Limonade ein wenig auf der Terrasse herum. Es ist noch früher Nachmittag, bis hierher haben wir etwa 4.5h benötigt. Zeit genug, um noch die eine oder andere Attraktion mitzunehmen. Wir beobachten eine Gruppe, die von der Scharte westlich des Zwölfers durch die steile Schneepiste in unsere Richtung herabkommt. Die Leute haben sichtlich Schwierigkeiten bei ihrem Abstieg und retten sich im Schneckentempo von einem der raren schneelosen Flecken zum nächsten. Da bekommt man es richtig mit der Angst zu tun.
Der Himmel hat sich mehr und mehr zugezogen, aus der Ferne ertönt auch einmal das ein oder andere Donnergrollen. Dessen ungeachtet beschließen wir, heute noch den Gipfel des Hochleist anzugehen. Von unserer Warte aus sieht er alles andere als steil und gefährlich aus, von Süden her ist er über einen kaum ansteigenden Kamm zu erreichen.

(iv) Die Besteigung des Hochleist (2410m)
Das überflüssige Gepäck wird aus dem Rucksack entfernt und verbleibt auf der Hütte. Nun wird es ernst. Schon bald erreichen wir das riesige Schneefeld, dass es in östlicher Richtung zu durchqueren gilt. Die weiße Masse zeigt sich ziemlich glitschig und seifig, gerne überlasse ich Michael den Vortritt, auf dass er mir Stufen in den Schnee trete. Wir sind sehr glücklich über die Wanderstöcke, die wir in diesem Jahr dabei haben. Sie waren eigentlich zur Schonung unserer maroden Kniegelenke gedacht, geben aber auch Halt im tiefen rutschigen Schnee. Eine lohnende Investition.
Der Pfad, der eigentlich nur aus Fußstapfen besteht, die irgendjemand in den letzten Stunden oder Tagen hinterlassen hat, steigt glücklicherweise nur mäßig an. Dennoch freue ich mich über jeden kleinen schneefreien Flecken, über den er führt. Die Treterei im Schnee ist höchst anstrengend und ich habe niemals das beruhigende Gefühl, wirklich Herr über meine eigenen Füße zu sein.

Nach einer halben Stunde gelangen wir an einen kleinen Pass (2328m). Der Hauptpfad steigt von nun an steil hoch zur Forcella Giralba, wir biegen links ab in Richtung auf den Hochleist Gipfel. Wir rasten an einem niedlichen kleinen Gletschersee, bevor wir uns auf den Kamm stürzen. Der ist vorerst noch sehr breit und mit wüsten Karren bedeckt. Die schmalen Rillen erweisen sich als tückische Fallen für unsere Stockspitzen. Vergeblich suchen wir nach Wegmarkierungen, jeder Pfad ist gleichwertig.
Allmählich verjüngt sich der Kamm und verwandelt sich in einen Grat, die Felsen nehmen wieder kantigere Formen an. Wir überqueren ein paar kleinere Schneefelder und stehen auch bald schon auf dem Gipfel. Das war doch eine sehr preiswerte Besteigung, wenn man bedenkt, wie unbändig sich der Gipfel vom Tal aus präsentiert. Hochleist GipfelBei einem solchen Sonderangebot nehmen wir auch ein paar kleinere Schönheitsfehler in Kauf. Der Gipfel selbst wirkt ziemlich weitläufig und unspektakulär, ein Gipfelkreuz ist nicht vorhanden. So deklarieren wir irgendeinen Felsbrocken als höchsten, setzen uns drauf und dürfen uns die unerschrockenen Bezwinger des Hochleist nennen. Gar nicht schlecht für den ersten Tag und kaputt gemacht haben wir uns dabei auch nicht. Die Fernsicht fällt dem trüben Wetter zum Opfer, hier und da tröpfelt es sogar. Im Osten türmt sich die gigantische Felswand des Elferkofel (3095m) zum Greifen nahe vor uns auf. Auf halber Höhe machen wir an einigen Stellen die in den Felsen gehauenen Gänge des Alpini-Steiges aus. Entgegen dem, was uns berichtet wurde, sieht der Steig relativ schneefrei aus. Da hätte man sich vielleicht von der Rotwandspitze kommend irgendwie herüberquälen können.

(v) Der große Coup
Die Lust auf Schnitzel macht alsbald die Runde und so beschließen wir den Abstieg über denselben Weg. Das fiese Schneefeld zeigt sich bergab noch unangenehmer zu begehen. Wir überholen einen einsamen Mann mit Eispickel, der von der Forcella Giralba heruntergestiegen ist und offensichtlich gar keine Power mehr hat.
Zurück auf der Zsigmondyhütte erwartet mich ein schwerer Schicksalsschlag: jemand hat meine geliebten Badelatschen geklaut! Ich hatte sie vor unserem kleinen Ausflug unten ins Schuhregal gestellt und der Dieb hielt sie vermutlich irrtümlich für Inventar. Es wäre sicherlich Energieverschwendung, unauffällig unter den Tischen herumzukrabbeln, die Latschen jedes einzelnen Gastes unter die Lupe zu nehmen und den Ertappten daraufhin zu brüskieren. Morgen früh werden sie wieder im Regal stehen. Ich hoffe nur, dass der Schubiak sich die Füße gewaschen hat!
Nach dem leckeren Wiener Schnipo (21000 Lire) und ein paar Bierchen (je 6500 Lire) sieht die Welt schon wieder rosiger aus. Wir verspüren keine große Motivation mehr, die morgige Tour zu planen und verplempern die Zeit bis 22:00 Uhr lieber mit Gäste- und Bedienungsobservierung, Romme-Spielchen, eisigen Rauchpausen vor der Hütte und dem Verzehr von Rotwein (8500 Lire je Karaffe Schädel-Hausmarke). Es folgt die wohlverdiente Heia im Doppelzimmer.

2.Tag: Über den Paternkofel zur Dreizinnenhütte

© Stefan Maday 13.08.2001

Über den Paternkofel zur Dreizinnenhütte

Über den Paternkofel zur Dreizinnenhütte

02.07.2001

(i) Frühsport
Um sieben Uhr werden wir durch nachbarliches Getöse unsanft geweckt. Die obligatorische morgendliche Denksportaufgabe fördert ein erstaunliches Ergebnis zu Tage: das war ein satter mehr als achtstündiger Säuglingsschlaf! Der Abstieg zur Morgenzigarette vor der Hütte verläuft nicht minder überraschend: wir beide verspüren keinerlei Anzeichen eines Muskelkaters! Auch das Wetter verspricht anscheinend nur Gutes. Ich glaube, heute steht uns ein magischer Tag bevor. Meine Latschen haben sich auch wieder eingefunden, doch werden sie trotz chemischer Reinigung nie wieder dieselben sein.
Beim Frühstück schmieden wir unseren heutigen Tagesplan. Angesichts des vielen Schnees verzichten wir auf die angedachte Zwölfer-Umrundung, der Anblick der armen Wanderer gestern sprach mehr als tausend Worte. Stattdessen wollen wir schnurstracks weiter nach Westen in Richtung der Drei Zinnen, wo so vielversprechende Gipfel wie der Paternkofel und die Schusterplatte unseres Besuches harren. Kurz vorm Oberbachernjoch. Torpedoberg voraus.Der Aufstieg zum Oberbachernjoch (Passo Fiscalino, 2528m) erscheint uns zu dieser frühen Stunde ziemlich brutal und atemraubend. Hier oben entdecken wir neben einer schönen Aussicht auch die ersten Spuren militärischen Treibens aus dem ersten Weltkrieg in Form von alten Steinmauern. Dergleichen werden wir von nun an des öfteren zu sehen bekommen, war doch die Gegend um den Paternkofel damals hart umkämpftes Frontgebiet. Wir folgen einem ebenen und relativ breiten in den Fels gehauenen Weg in Richtung Norden und gelangen wenig später zur Büllele Joch Hütte (2522), ordern koffeinhaltige Limonade und fragen den Gastronomen bei der Gelegenheit nach den Wegverhältnissen am Paternkofel. Nichts genaues weiß man nicht, aber es wird schon passen. Ein großer Schäferhund liegt faul vor der Hütte herum. Ab und an beäugt er uns um sicherzustellen, dass wir die Zeche nicht prellen.

(ii) Die Besteigung der Oberbachernspitze (2675m)
Wir zahlen und deponieren unsere Rucksäcke an der Hütte. Es ist noch früher Mittag und wir wollen uns auf der Ebene nördlich der Hütte ein wenig umschauen. Hier finden wir zahllose Relikte aus wenig zivilisierten Tagen in Form von gemauerten Schützengräben und wahllos herumliegenden vergammelten Holzplanken. Gleich vier interessante Gipfel räkeln sich vor uns in der Sonne: der Il Panettone samt aufsitzendem Schrein, ein torpedoförmiger Fels mit einer merkwürdig überhängenden Nase, die Oberbachernspitze und der Einserkofel. Der vorletzte hat es uns angetan, nach leichtem Aufstieg an einigen lustigen Abgründen vorbei stehen wir schon bald auf dem Gipfel der Oberbachernspitze (2675m). Ein Foto von Herrn BraunSo human der Anstieg von Süden ist, so schroff fällt die nördliche Wand hinter dem Gipfel ab. Nur ein Schritt trennt uns von einem erneuten Besuch der Talschlusshütte. Am Horizont machen wir zwei kapitale, im Schnee ertrinkende Berge aus: das sollten die beiden Tauern-Flagschiffe Großglockner und Großvenediger sein, die in diesem Schneejahr staffagenmäßig besonders viel hergeben.
Wir unterhalten uns mit Herrn Braun aus Bad Hersfeld oder Umgebung, der fast zeitgleich mit uns auf der Spitze eingetrudelt ist. Er mag Schweinebraten. Ferner glaubt er zu wissen, dass hier seit 50 Jahren nicht mehr so viel Schnee wie heuer gelegen habe. Wir klopfen ein paar Sprüche in das Gipfelbuch, das noch fast jungfräulich ist. Nur das sogenannte Büllele No-Limits Team war nach eigenem Bekunden früher hier als wir. Grrr! Muss heute morgen gewesen sein.
In freudiger Erwartung steigen wir endlich zurück zur Hütte und bergen unser Gepäck. Denn jetzt ist es an der Zeit für ein Abenteuer.

(iii) Über den Invalidensteig
Bald haben wir das Büllele Joch (2522m) erreicht. Salami und Kekse essend beobachten wir die Scharen von Wanderern, die aus dem Cengiatal heraufsteigen, um anschließend über den verschneiten Nordhang des Paternkofel zur Dreizinnenhütte zu marschieren.
Wir dagegen wandern in südlicher Richtung um einen Sporn des Paterno herum und später über einen Schotterhang hinauf zur Forcella di Laghi. Nun liegt das Ziel endlich vor uns. Der Paternkofel von OstenDer Paternkofel präsentiert sich uns von Osten als ein System von sanften schneebedeckten Hängen. Vom Einstieg in die sogenannte Ferrata Verterno (Invalidensteig) ist nichts zu sehen, doch kommen uns einige Wanderer mit angelegten Klettergurten entgegen. Ein Engländer warnt uns vor einer unbehaglichen Stelle in Form einer „unexpected gap with snow and no ropes“. Wir legen unsererseits Geschirr an und machen uns auf den Weg. Was von weitem wie ein durchgehender Hang aussah, erweist sich aus der Nähe als optische Täuschung. Wir müssen eine tiefe Spalte durchklettern. Der Abstieg ist gut gesichert, doch bald finden wir uns an der besagten Stelle „with snow and no ropes“ wieder. Ein schmales, etwa fünf Meter langes Schneebrett führt über den gähnenden Abgrund. Wenn dort jemals Stahlseile gespannt waren, sind sie heute unter dem Schnee verschwunden. Das sieht nach einer haarigen Sache aus. Ausgerechnet snow… In Deutschland wäre eine solche Streckenführung indiskutabel, da hätte der TÜV Rheinland niemals sein Prüfsiegel draufgepappt.

Auf der gegenüberliegenden Seite warten zwei Männer, ebenfalls ein wenig unschlüssig, wie denn nun zu verfahren sei. Höflich und selbstlos winke ich sie herüber und lasse ihnen den Vortritt. Wenn die das schaffen… Gibt es hier oben Holzwürmer? (c) by MBTun sie. Und wir schließlich auch. Ein schönes Gefühl im Nachhinein, wenn einem trotz einiger Bergerfahrung noch hin und wieder das Adrenalin durch den Körper schießt.
Nun folgt wieder solider Klettersteigspaß, aufwärts und größtenteils gesichert. Wir haben einigen Gegenverkehr durch Absteiger, das berechtigt uns zu der Hoffnung, dass der Gipfel bei unserer Ankunft menschenleer sein könnte. Die Kletterei in der prallen Nachmittagssonne beginnt, anstrengend zu werden. Am liebsten möchte ich nach jedem Meter eine Pause zum Japsen und Trinken einlegen. Endlich erreichen wir den oberen Berghang, tunneln eine Felsnadel und landen auf dem nächsten Klettersteig. Der windet sich relativ äquipotent auf schmalen Terrassenstufen um viele kleine Nebengipfel herum. Als Highlights seien die beiden kleinen Brücken aus Holzplanken erwähnt, die zwei schwindelerregende Klüfte überspannen.

(iv) Der Gipfel des Paternkofel (2746m)
Insgesamt drei Wege führen von unten auf den Paterno hinauf. Sie alle treffen sich an der sogenannten Gamsscharte knapp unterhalb des Gipfels. Hier war Michael schon einmal und zeigt mir zur Motivation unsere spätere Abstiegsroute: durch das schneebedeckte nördliche Kar auf die Dreizinnenhütte zu. Eine Gruppe von Engländern kommt gerade diesen Weg hinauf. Sie meinen, dank der gespannten Seile hätte zumindest der Aufstieg auch ohne „crampons“ kein Problem dargestellt.
Doch zunächst einmal wollen wir auf dem Gipfel unser Glück suchen. Die senkrechte Wand vor uns ist dank Drahtseilsicherung schnell überwunden, es folgt ein wüstes Gestolpere und Geklettere über Felsterrassen. Der optimale Weg existiert entweder nicht oder wir haben ihn schlichtweg übersehen. Ganz obenEigentlich war Michael schon einmal hier… Nach der Devise „der einzige Weg ist rauf, Baby“ finden wir dennoch den Gipfel und sind tatsächlich die einzigen Menschen hier oben. Alleine mit dem Gipfelkreuz und der Gedenktafel für Sepp Innerkofler, der für drei einsame Jahre hier begraben lag.
Neu für mich (Michael war schon einmal hier) ist der Ausblick auf die Drei Zinnen, das zweifellos mit Abstand meistfotografierte Motiv in Südtirol. Wie die abgekauten Zahnstümpfe einer titanenhaften Großmutter schauen sie aus. So unalpin, dass sie selbst in den an bizarren Formationen so reichen Dolomiten hervorstechen. Ihr Anblick wird uns noch einige Tage (und einige Filme) hindurch begleiten. So sehr ich mich auf meine mitgebrachte Zigarre auch gefreut habe, so recht schmecken will sie mir nicht, denn mir dröhnt mächtig der Schädel. Ob von Höhenkrankheit oder vom gestrigen Methanolwein, vermag ich nicht zu beurteilen. Die Engländer haben uns endlich eingeholt, verteilen großzügig Bonbons und machen ein Gipfelfoto von uns.

(v) Der Innerkofler-de-Luca-Steig
Der Abstieg verläuft ebenso chaotisch wie der Aufstieg. Der Einstieg in die Kletterwand will erst einmal gefunden sein. Von der Gamsscharte aus hangeln wir uns an dem langen Drahtseil über die Schneepiste talwärts. Hier erweisen sich Fahrradhandschuhe als besonders nützlich, denn das Seil ist rostig, nass und rutschig. Schließlich verlassen wir den Schnee und halten uns an den Pfad, der links unterhalb der Felswand verläuft. Nach einigen kurzen Kletterstücken erreichen wir den Eingang eines Stollensystems.
Ein italienisches Pärchen scheint dort nur auf uns gewartet zu haben. Zu unserem Glück, denn die beiden kennen sich hier aus und haben eine anständige Taschenlampe dabei. Mit unseren Minifunzeln und unseren bescheidenen Ortskenntnissen – nur Michael war schon einmal hier – wären wir vielleicht auf einen der vielen Nebenstollen hereingefallen, die alle eines gemeinsam haben: sie versprechen einen lichten Ausgang, enden aber jäh oberhalb einer senkrechten Felswand. Reingefallen aber nicht rausgefallen (c) by MBSo jedoch meistern wir die ungezählten Treppenstufen, die – für menschliche Beine überdimensioniert – in die dunkle, feuchte Tiefe führen. Die Soldaten, denen diese Stollen damals zu welchen Zwecken auch immer gedient haben, müssen sehr eigenartige Körperproportionen besessen haben: meterlange Beine und einen zwergenhaften Oberkörper. Dazu möglichst gar keinen Kopf, denn den kann man sich hier nur allzu leicht einrammen. Endlich ein Licht, diesmal das rechte. Wir finden uns auf einem Kamm wieder, die Dreizinnenhütte nur noch einen Steinwurf voraus. Bald sind wir unten. Das war tatsächlich ein phänomenales Abenteuer, auch wenn ich das in diesem Augenblick noch nicht zu würdigen weiß. Ich bin vollkommen erledigt.

(vi) Alpenglühen auf der Dreizinnenhütte
Die Dreizinnenhütte ist der wohl bekannteste Außenposten menschlicher Zivilisation in den Dolomiten. Der Garten von Hugo und Milka (c) by MBDie einmalige Lage am Fuße des Paternkofel mit Blick auf die Drei Zinnen und die Nähe zur Fahrstraße – von der Auronzo Hütte ausgehend kann man in einer Stunde hier sein – locken tagsüber Scharen von Touristen aus Misurina an. Diese Tatsache lassen sich die beiden Hüttenchefs Milka und Hugo Reider reichlich vergolden, denn nirgendwo sonst findet der müde, durstige und hungrige solch gepfefferte Preise wie auf der Dreizinnenhütte. Für unser kapriziöses Doppelzimmer berappen wir den bisherigen Rekordpreis von je 53000 Lire. Obwohl die Hütte von außen den Eindruck eines luxuriösen Grandhotels macht, fehlt eine warme Dusche. Irgendjemand will von irgendjemand anderem gehört haben, dass es irgendwo eine verborgene Dusche gebe, versteckt hinter irgendeiner geheimen Wand, die sich bei Zahlung von 10000 Liren auf magische Weise öffnen solle. Geht zu Unrecht neben den Drei Zinnen unter: der PaternoGewiss nur ein Gerücht. Für das Geld besorge ich mir lieber einen Teller Spaghetti. Später am Abend werden wir Zeugen eines immer wieder überwältigenden Naturschauspiels. Durch einen aberwitzigen Zufall finden die Strahlen der tiefstehenden Sonne noch für einen Augenblick ihren Weg an all den Bergen im Nordwesten vorbei und tauchen den Paternkofel und die Drei Zinnen in ein sattes Orangerot. Alle Hüttengäste stehen staunend draußen, Kamera bei Fuß, bereit, die letzte Millisekunde vor Sonnenuntergang abzuwarten und das perfekte Postkartenmotiv einzufangen.
Auch Herr Braun aus Bad Hersfeld oder Umgebung ist darunter und er erzählt uns noch eine Gutenacht-Anekdote: von der Großen Zinne, wie sie vor Jahren durch einen Blitzschlag einen Kopf kürzer gemacht wurde und seitdem streng genommen kein Dreitausender mehr sei. Prost und Gute Nacht.

Siehe auch: Paternkofel Fotospecial

Paternkofel Fotospecial

So präsentiert sich der Osthang des Paterno aus der Ferne…

…und so aus der Nähe. Beim Durchklettern einer tiefen Spalte galt es ein rutschiges Schneebrett zu überqueren.

Zwei junge Italienerinnen fliehen vor uns durch ein Loch im Fels.

Der Invalidensteig führt durch eine groteske Landschaft über schmale Felsbänder…

…und lustige Holzbrücken zur Gamsscharte.

Von dort kraxeln wir über einen gesicherten Steig die senkrechte Wand hinauf…

…zum Gipfel des Paterno.

Die Drei Zinnen zum Greifen nah…

Der Abstieg durch den Kriegsstollen. Zwerge sind hier ausnahmsweise im Vorteil.

Unverhoffte Aussicht am Ende eines Lichtschachtes.

Die Erlösung naht in Gestalt der Dreizinnenhütte.

Abendlicher Hüttenzauber. Der Paterno glüht…

…die Drei Zinnen glühen, …wir auch…

3.Tag: Die Besteigung der Schusterplatte

© Stefan Maday 13.08.2001

Die Besteigung der Schusterplatte (2957m)

Die Besteigung der Schusterplatte (2957m)

03.07.2001

(i) Milka und Hugo der Boss Reider (Vorspiel)
Nach den gestrigen Strapazen hatten wir einen erneuten nächtlichen Achtstünder wirklich verdient. Die SchusterplatteAbgesehen von einem bleiernen Muskelkater in den Oberschenkeln fühlen wir uns fit und voller Tatendrang wollen wir uns in Kürze einen richtig hohen Brocken vornehmen. Bereits gestern abend haben wir für heute die Besteigung der Schusterplatte angedacht, jenes unförmigen Kolosses, dessen Südwand unseren Fensterblick ziert. Aus der Ferne betrachtet scheint dort nicht übermäßig viel Schnee zu liegen.
Draußen vor der Hütte erwischen wir Hüttenboss Hugo Reider denkmalgleich auf einem Sockel stehend und mit seiner Handyantenne herumwedelnd um Netzempfang ringend. Mit Erfolg, und so erfahren wir, dass es offenbar technische Probleme mit seinem Bagger gibt. Schade, dadurch verzögert sich der Ausbau der sympathischen Kloakengrube neben der Hütte. Milka ist besserer Laune, als wir ihr erneut 106000 Lire für die kommende Nacht in die Hand drücken. Derart gebeutelt lassen wir das Frühstück aus und bauen stattdessen auf unseren Proviant.

(ii) Der Anstieg
Mit halbem Gepäck gehen wir die Sache zuversichtlich an. Die Klettergurte haben wir vorsorglich eingesteckt, denn eventuell möchten wir auf unserem Rückweg noch einmal den Toblinger Knoten (2617m) besuchen. Dort wurde ein Leiternsteig aus dem Krieg rekonstruiert, der heute allgemein als das El Dorado für Möchtegernfeuerwehrleute gilt. Der Weg führt uns locker an den beiden Seen vorbei hin zur Innichriedlscharte. Auf einer netten Wiese gönnen wir uns ein Frühstück bestehend aus Keksen, Salami sowie Wasser unbekannter Herkunft und Konsistenz.
Hinter unserer Wiese beginnt abrupt die lebensfeindliche Zone in Gestalt einer riesigen Schotterpiste, die es zu traversieren gilt. Der Pfad windet sich einen guten Teil um den Westhang des Innichriedlknotens (2885m) herum und wir sind nicht besonders überrascht, dass er immer einmal wieder unter Firnschneebächen verschwindet.
Endlich gelangen wir zum Kar südöstlich der Schusterplatte. Nun heißt es Höhe gewinnen. Teils über rutschigen Schotter, teils über felsige Terrassen. Der Pfad ist oft gar nicht zu erkennen. Die Sonne brennt derweil auf uns herab. Ein kleines Bächlein hilft uns beim Strecken unserer Wasserreserven. Atemlos erreichen wir schließlich einen Felsabsatz. Dort werden wir bereits erwartet.

(iii) Gefahrvolle Augenblicke
Ein Mädchen und sein Großvater. Sie waren schon auf dem Gipfel und können es gar nicht erwarten, uns den Weg zu zeigen: statt geradeaus auf den Sattel, wie wir vermutet hatten, führt der tatsächlich links eine schmale Felsenschlucht hinauf. Die ist allerdings unverschämt steil. Damit nicht genug: sie ist bedauerlicherweise auch mit Schnee bedeckt. Stolz berichten die beiden, wie sie auf allen Vieren dort rauf- und wieder runtergeklettert sind. Die Hände nur immer schön tief in den Schnee bohren, dann klappt das schon. Wir sind entgeistert.
So kurz vor dem Ziel wollen wir jedoch nicht unverrichteter Dinge wieder umkehren. Wir versuchen es mit unseren Stöcken. Es gibt Momente im Leben, da möchte man nicht um jeden Preis der Erste sein. Deshalb lasse ich gerne den skierprobten Michael vor. Wenn er auch hier und da einmal durch den Schnee bricht, bastelt er mir doch hübsche Treppenstufen. So arbeiten wir uns unendlich langsam den Steilhang hinauf, dessen Höhe wahrscheinlich kaum 20 Meter beträgt. Doch ein Sturz könnte hier fatale Folgen haben, da das Schneefeld nur wenige Meter breit ist und überall Felsen lauern, die bekanntlich nicht sehr gut flauschen.

(iv) Der Gipfel
Schließlich erreichen wir den Absatz. Nun kann es nicht mehr weit sein bis zum Gipfel. Links windet sich ein schmaler Pfad um einen Felsen herum und führt uns auf ein Geröllfeld. Der Weg verschwindet, doch ein kleines Schneefeld weist Fußspuren auf. Bald haben wir die Platte erreicht. Sie macht ihrem Namen Ehre: flach und ausladend ist das Gelände hier oben. Dazu roter Fels wie auf einem lanzarotischen Vulkan. Die höchste Stelle ist durch einen leeren Wegweiser markiert und lädt uns zum Gipfelglück. Beim Salamiessen auf dem Gipfel (c) by MB’s SelbstauslöserDie Laston dei Scarperi erweist sich als grandiose Aussichtsplattform im wahrsten Sinne des Wortes. Fast level mit der Großen Zinne erschließt sich uns ein beinahe 360 Grad umfassender Rundblick. Nur unmittelbar im Norden blockt die noch höhere Dreischusterspitze (Punta Tre Scarperi, 3151m). So lernen wir die schneebedeckten Gipfel der Marmarole ebenso kennen wie das Cristallomassiv, Ziel unseres letzten Ausflugstages. Fern im Südwesten glauben wir sogar den altbekannten Marmolada-Gletscher ausmachen zu können.

Vier Stunden haben wir von der Hütte aus benötigt. Stellt man die Frühstückspause und die Schneeschikane in Rechnung, liegen wir damit durchaus im Normalbereich. Ausnahmsweise. Mein Kopf fühlt sich wieder wie in Watte gepackt und ich beschließe, heute abend einmal versuchsweise dem Dämon Alk abzuschwören. Der kleine Zurbrüggen auf 2958mDie Sonne knallt gnadenlos vom Himmel und erzeugt selbst in dieser luftigen Höhe einen Hauch von Club Mediterrane. Die riesige Schneerolle, die sich am Nordrand des Gipfel breit gemacht hat, zeigt sich davon unbeeindruckt. Weil sie 90 Prozent der Sonnenstrahlung einfach zu reflektieren vermag, darf sie sich die kleine Hoffnung wahren, diesen Sommer zu überleben und vielleicht zum Fundament eines neuen Gletschers zu werden.
Ein einsamer Mann kommt zu uns herauf. Seine vermeintlich bessere Hälfte hat er unten am Schneefeld zurückgelassen. Da war doch was… Ich könnte noch den ganzen Tag hier faul in der Sonne herumliegen, doch Michael kann es offenbar gar nicht mehr erwarten, wieder durch den kalten Schnee zu robben. Die Entspannung weicht von mir und ich gebe mich geschlagen. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend steigen wir ab und finden uns wenige Minuten später – viel zu früh – an der pathologischen Stelle wieder.

(v) Gefahrvolle Augenblicke (Reprise)
Von oben betrachtet wirkt der verschneite Kamin noch viel gefährlicher. Wir beherzigen den Rat von Rotkäppchen und Großvater und gehen die Angelegenheit auf allen Vieren an. Die Füße voraus, die Finger in den Schnee gekrallt, immer bereit, bei der kleinsten Unregelmäßigkeit das Gesicht in das kalte Nass zu drücken. Schritt für Schritt. Nicht sehen können, wo man hintritt. Mit den Füßen nach Stufen im Schnee tasten und hoffen, dass sie halten. Das zieht sich in die Länge. Bald sind meine Hände taubgefroren. Will ich sie zum Aufwärmen kurz aus dem Schnee ziehen, beginnen meine Oberschenkel wie von Spasmen getrieben zu zittern. Kälte? Anstrengung? Panik?
Michael sitzt schon zum Trocknen in der Sonne und auf halber Höhe verlasse auch ich endlich das Schneefeld und rette mich in die Felsen. Entnervt. Ohne Steigeisen werde ich dergleichen nicht noch einmal machen.
Die Hände beginnen vehement zu schmerzen, das ist ein gutes Zeichen. Nur einige Fingerkuppen bleiben weiterhin ohne Sinn. Wir begrüßen die bessere Hälfte und machen uns an den Abstieg. Der führt den bekannten Weg zurück, das ist eher langweilige Routine und so erreichen wir irgendwann am frühen Nachmittag unsere Frühstückswiese.

(vi) Der Ausklang
Kein Gedanke mehr an Leiternstress beim Toblinger Knoten, wir verplempern den Rest des Tages lieber hic et nunc mit einer Serie von 5-Minuten-Schläfchen. Das kommt meiner Vorstellung von einem Erholungsurlaub schon recht nahe. Während über uns die Sonne glänzt, ziehen von Südwesten her dicke Wolken auf. Praktische ZinnenVerzweifelt versuchen sie, uns den Tag zu verderben, verheddern sich jedoch stets in den Drei Zinnen, die wie Türme in der Schlacht jeder Angriffswelle standhalten. Ein unterhaltsames Schauspiel. Und noch ein Schläfchen…
Nach geraumer Zeit lockt das Abendessen und wir stiefeln zurück in Richtung Hütte. Auf dem Pfad unterhalb des Toblinger Knotens machen wir eine merkwürdige Entdeckung: ein schmaler Riss zieht sich mehrere Meter über den Hang. Möglicherweise eine Sollbruchstelle für den nächsten Bergsturz. Das braucht uns wohl nicht mehr zu kümmern, wir verdrücken alsbald unser obligatorisches Wiener Schnitzel (22000 L mit Beilage), das auf italienisch eigentlich ein Mailänder Schnitzel ist (bistecca alla milanese). Die Schustergrillplatte hat ihre Spuren hinterlassen: genau wie im vergangenen Jahr haben wir uns die Lippen verbrannt. Der Schmerz beim Essen stellt dabei noch das kleinste Übel dar. Schlimmer sind die nekrosen Hautfetzen, die wir uns in den Folgetagen von den verdorrten Lippen pulen dürfen.
Nach dem Essen macht sich gähnende Langeweile breit, da ich meinen den Alkohol betreffenden Vorsatz eisern in die Tat umsetze. Bei dem auf Berghütten üblichen schmalen Unterhaltungsprogramm kommt dem Nüchternen jede Minute vor wie sechzig Sekunden. Doch selbst das geht vorbei. Wir planen die morgige Tour und landen irgendwann im Bett.

4.Tag: Von der Dreizinnenhütte zur Fonda Savio Hütte

© Stefan Maday 13.08.2001

Von der Dreizinnenhütte zur Fonda Savio Hütte (2367m)

Von der Dreizinnenhütte zur Fonda Savio Hütte (2367m)

04.07.2001

(i) Zu den Drei Zinnen
Nachdem sie fast neun Stunden außer Betrieb waren, sind meine Augen offenbar derart getrübt, dass ich beim ersten Blick aus dem Fenster fast gar nichts erkennen kann. Es hängt ein dichter Grauschleier über meinen Linsen. Als auch vermehrtes Reiben der Glubscherchen nichts an diesem Zustand ändert, schwant mir Böses: die Nebelsuppe ist authentisch. Das Wetter macht dort weiter, wo es gestern abend aufgehört hat.
Nach der üblichen rudimentären Morgentoilette packen wir unsere hundert Sachen und schicken uns an, der Dreizinnenhütte Lebewohl zu sagen. Schön war die Zeit. Und kostspielig.
Unser erstes Ziel für den heutigen Tag soll die Auronzohütte sein. Die liegt auf der anderen Seite der Drei Zinnen und ist von hier aus prinzipiell über zwei Routen erreichbar: den Senioren-Highway 101 an der Westflanke des Paterno oder den Weg 105, der sich etwas schwerfällig durch die Lange Alpe auf und ab windet. Da die Sichtverhältnisse eher bescheiden und die Muskelkater am frühen Morgen noch reichlich schmerzhaft sind, entscheiden wir uns für den einfacheren der beiden. Wir folgen dem breiten, gut ausgebauten Highway 101, der ohne große Höhenschwankungen im „Schatten“ des Paternkofel verläuft. RiesenzinneWir kommen zügig voran, denn Hugo Reider hat hier mit seinem Bagger fleißig Schnee geschippt, auf dass kein Turnschuhtourist aus Misurina den Weg zu seiner Hütte scheue. Neben der Schotterstraße liegt der Schnee noch teilweise mannshoch. Als wir den Paternsattel (Forcella Lavaredo, 2457m) erreicht haben, finden wir uns quasi direkt am Fuße der Kleinen Zinne wieder. Aus unmittelbarer Nähe wirken die drei Hauer richtig ehrfurchtgebietend, denn wir bekommen eine Vorstellung von ihren Dimensionen dank zweier Kletterer, die sich in der Ostwand der Großen Zinne vergnügen. In der gewaltigen 500m-Senkrechten sind sie praktisch nur mit dem Fernglas auszumachen.
Eine Gruppe von Schulkindern kommt von der Gegenseite herauf. Eifrig machen die Ragazzi Fotos von uns, denn sie halten uns offenbar für Klettersuperhelden oder – Geruch und Aussehen bedacht – für kuriose Bergprimaten. Vielleicht haben sie es auch nur auf die Drei Zinnen abgesehen und wir sitzen schlicht und ergreifend im Weg. Dennoch sollte ich mir heute abend einmal die Haare waschen.

(ii) Selbst ist der Mann
Dachten wir bis hierhin, die Sicht sei heute eher la la, werden wir auf der Südseite der Zinnen eines besseren belehrt. Während unseres Abstieges zur Auronzohütte stapfen wir durch einen fiesen nässenden Nebel, der es uns kaum gestattet, bis zur nächsten Biegung zu sehen. Die Südwände der Zinnen sind unsichtbar, nur die riesigen abgeschlagenen Felsbrocken am Wegesrand zeugen von ihrer Existenz.
Viele Wanderer kommen uns entgegen, aus der Anzahl der „Ciao“s und „Grüß Gott“s pro Minute können wir die Entfernung zur Auronzohütte gut abschätzen. Bald schält sie sich vor uns aus dem opaken Dunst. Keinen Augenblick zu früh, denn wir sind hungrig, nass und durchgefroren. Meine Kopfschmerzen melden sich wieder, folglich sind sie wohl eher hypoxischen als alkoholischen Ursprungs. Das freut mich sehr, so kann ich heute abend auf der Hütte wieder guten Gewissens zulangen. Das wird auch nötig sein, denn schließich haben wir auf der Fonda Savio Bettenlager gebucht. Auch Michael fühlt sich heute schlapp, meint, er hätte sich wohl müde geschlafen heute nacht.
An der Selbstbedienungstheke holen wir uns das lange überfällige Frühstück: zwei gigantische Käsebrötchen und eine Dose koffeinhaltiger Limonade aus Atlanta für 14000 Lire. Draußen scheint gar kurzzeitig die Sonne, der Nebel lichtet sich und gibt für einen Moment den Blick auf unseren weiteren Weg frei. Das vermag unsere merkwürdig gedrückte Stimmung zumindest ein wenig zu erhellen.

(iii) Zur Fonda Savio, 1.Versuch
Der Weg mit der Nummer 117 ist kongruent mit dem Dolomiten-Höhenweg Nr.4 und derart bedeutend, dass er einen eigenen, wohlklingenden Namen führt: Sentiero Bonacossa. Von der Auronzohütte ausgehend durchschneidet er die Cadini Gruppe bishin zur Col de Varda-Bergstation oberhalb von Misurina. Ihm folgen wir die Grashänge des Monte Campedelle (2345m) hinauf bis zu einem Sattel unterhalb des vollkommen unbedeutenden Gipfels.
Von nun an schlängelt sich der Pfad über ein schmales Felsband um unzählige Vorsprünge herum. Unter uns liegt das Valle Campedelle und im Dunst können wir nur erahnen, wie weit es links von uns in die Tiefe geht. Einstieg in den Bonacossa SteigEin sehr interessanter Weg, der jedoch ständige Konzentration erfordert. Wir passieren einige künstliche Nischen im Fels, wie es sie überall in dieser Gegend gibt: Pockennarben des Krieges. Noch eine Biegung nach rechts und wir stehen endlich vor dem Einstieg in den Bonacossa Klettersteig.
Michael bekommt mit einem Male kalte Füße, meint, er fühle sich schon den ganzen Tag wackelig auf den Beinen und er würde einen etwas zivilisierteren Weg zur Fonda Savio Hütte bevorzugen. Ausgerechnet das allererste Stück ist nicht gesichert, ein kurzer aber sehr schmaler Sims. Da ist den Bergführern offenbar das Seil ausgegangen. Dahinter sind wieder Sicherungen vorhanden, soweit man im Dunst sehen kann (etwa fünf Meter). Es ist zwar nicht so, dass ich unter allen Umständen auf die Kletterei im Nebel erpicht wäre. Sie würde uns nur helfen, eine Menge Zeit und Energie einzusparen. Doch meine Motivationskünste versagen kläglich und so kehren wir wieder um. Vielleicht besser so, möglicherweise wäre wirklich etwas passiert und ich hätte mich in der Rolle der Advocatus Diaboli wiedergefunden.

(iv) Zur Fonda Savio, 2.Versuch
Kurz vor der Auronzohütte kürzen wir über den Hang zur Autostraße ab. Für kurze Zeit tauchen wir in eine andere, vergessen geglaubte Welt ein. Chromblitzende Motorräder und Cabriolets kommen uns entgegen. Hinter dem Parkplatz beginnt endlich ein Trampelpfad, der uns immer weiter absteigend bis unter die Baumgrenze geleitet. Hier unten ist es gleich ein paar Grade wärmer und Schnee wurde seit Monaten nicht mehr gesichtet. Schließlich geht es wieder aufwärts, wir lernen ein paar Kühe kennen, schleppen uns unter ärgsten Anstrengungen ein ausgetrocknetes Bachbett hinauf, überqueren ein interessantes Plateau mit hausgroßen Bouldern und erreichen letzlich die Rimbianco Scharte (2206m). Die Cima Cadini und der BonacossasteigHier treffen wir wieder auf den guten alten 117er. Ob wir über den Klettersteig wirklich schneller vorangekommen wären, werden wir niemals erfahren.
Wir umkreiseln die Cima Cadini und finden uns in einem schmalen Tälchen wieder, dessen Grund trotz der geringen Höhe über und über mit Schnee bedeckt ist. Der offizielle Weg führt selbstredend mitten durch die weiße Pampe. Wir schlagen uns alternativ oberhalb davon durch die Felsen, bis wir direkt unter der Fonda Savio Hütte stehen. Wir haben uns schon oft gefragt, wie auf all diesen einsamen Berghütten die Abwasserentsorgung geregelt ist. Nun sind wir schlauer, denn wir treten gerade durch ein Geröllfeld der besonderen Art: bestehend aus Müll und zementhartem Klopapier mit „Gimmick“. Lecker, lecker. Mal schauen, ob wir morgen früh nicht auch einen bescheidenen Beitrag leisten können.

(v) Hüttenzauber
Ein bisschen Kletterspaß haben wir dann doch noch, bevor wir die Hütte über den blau markierten Pfad erreichen. Die Hüttentochter zeigt uns sofort einmal unser „Zimmer“, das verdächtig nach einem niedrigen, dunklen und stickigen Dachboden aussieht. Rifugio Fonda SavioErreichbar nur über den härtesten aller Klettersteige in Gestalt einer gut zwei Meter hohen Holzleiter, an deren oberen Ende die Dachluke gähnt. Wer möchte da nicht zu gerne nachts betrunken mit voller Blase heruntersteigen?
Nach und nach trudeln immer mehr Gäste ein und die kleine Hütte wird gerammelt voll. Das Bier fließt und das Schnitzel mundet. Am Nebentisch sitzt eine Gruppe von Kletteranfängern, die ein einwöchiges Rauf- und Runterseminar mitmachen. Wir sind angenehm überrascht, dass dreiviertel der Teilnehmer weiblich sind und ich bin froh, dass ich noch ein frisches Shirt ohne hässliche Salzränder in petto habe. Wir lernen zwei Jungs aus Köln kennen, die aus der Gegenrichtung über die Diavolo Scharte gekommen sind und morgen in Richtung der Drei Zinnen weiter wollen. Sie sind bestens ausgerüstet mit Eispickel und Steigeisen, solcherlei Equipment hätte ich mir an der einen oder anderen Stelle auch gewünscht. Wir empfehlen ihnen jedenfalls guten Gewissens den Paternkofel.
Da wäre dann noch die Gruppe alter Haudegen, welche zumindest an der Bierfront alles geben. Wir haben das Privileg, den Dachboden mit ihnen teilen zu dürfen. Hoffentlich schnarchen und furzen die nicht die ganze Nacht…

5.Tag: Durch die Cadini Gruppe nach Misurina

© Stefan Maday 13.08.2001

Durch die Cadini Gruppe nach Misurina

Durch die Cadini Gruppe nach Misurina

05.07.2001

(i) Drei Leitern
Selten habe ich das Morgengrauen so sehr herbeigesehnt wie heute. An Schlaf war kaum zu denken, denn die alten Haudegen haben die ganze Nacht geschnarcht und gefurzt.
In Rekordzeit haben wir gepackt und kehren dem Dachboden den Rücken. Das Wetter ist nicht das Gelbe vom Ei, doch allemal besser als gestern. Nur ein paar wenige tiefhängende Wolken trüben den Gesamteindruck. Ten o’clock postman, bring me a ladder (c) by MBEin leckeres Frühstück ist noch drin, dann ruft schon wieder der Berg. Michael war schon einmal hier und empfiehlt den Leitersteig auf der Cima Cadini jenseits des Schneefeldes.
Wir durchqueren es mit einem mulmigen Gefühl, denn irgendwo unter der Schneedecke hören wir ein Bächlein rauschen. Da möchte man nicht unbedingt schon am frühen Morgen hineinplumpsen. Die Kletterei bis zum Einstieg führt über tropfenden Fels und ist ziemlich spannend, doch auf den Leitern vergeht mir bald die Lust. Das obligatorische Klick-Klack beim Umsichern erweist sich als lästig und zeitaufwendig. Bei Licht betrachtet scheint die Leiterkletterei eine ziemlich öde Angelegenheit zu sein und nichts für ungeduldige Naturen. Michael ist erst gar nicht mitgekommen, denn er war schon einmal hier. So steige ich gipfel- und reuelos wieder ab. Die Kletterdamen hängen mittlerweile tapfer in der Wand einer anderen Cima Cadini*.

(ii) Zwei teuflische Scharten
Für uns heißt es jedoch Ade sagen und der 117 hoch zur Diavolo Scharte folgen. Das nördliche Kar zwischen beiden Cime Cadini erweist sich als steil und – oh Wunder – schneebedeckt. Wenn wir auch immer noch quälend lange brauchen, entwickeln wir doch allmählich eine gewisse Routine im Rauf- und Runterschlittern, ohne es jedoch wirklich zu genießen. Lass jucken: Forcella Diavolo mit Blick auf Cima Cadini, Cima Cadini und Cima CadiniWas an der Scharte nun so teuflisch sein soll? In jedem Fall bietet sie eine schöne Aussicht auf eine Reihe gehörnter Cadinis und ein verlockendes Rastplätzchen für den Atemlosen. Über uns hören wir Stimmen von Bergsteigern, die sich an der Cima Cadini versuchen.
Der Abstieg erfolgt schneelos weil über den Südhang. Wir müssen einige Leitern überwinden, ehe wir gnadenlos abfallendes Schottergelände erreichen. Was wären die armen Kniegelenke ohne Stöcke und Bandagen. Endlich am Absatz angelangt, gönnen wir uns die nächste Pause und orientieren uns erst einmal, wo wir überhaupt hin müssen. Wieder hoch zu irgendeiner Scharte, soviel ist sicher. Glücklicherweise nicht zu der hohen direkt gegenüber, der Weg führt rechts versetzt einen steilen Hang hinauf. Ein Jüngling kommt diesen Weg hinab, gefolgt von seiner bedauernswerten Lebensabschnittspartnerin. Die bewegt sich ziemlich langsam und unsicher, so als sei jeder Schritt Wagnis und Tortur. So hat sie sich ihren Urlaub sicherlich nicht vorgestellt.

Wir durchqueren ein verschneites Bett und finden uns alsbald am Anstieg wieder. Der führt schweißtreibend über Humus und Schotter sowie einige künstliche Holzstufen hinauf bis unter eine Felswand. Dort beginnen Drahtseilsicherungen, die uns immer wieder sporadisch auf dem weiteren Weg nach oben begleiten. Abwechselnd darf geklettert und Schotter getreten werden. Auch ein schikanöses Schneebrett ähnlich dem am Paternkofel darf nicht fehlen. Die letzten Meter durch das immer steiler und enger werdende Kar arten in völlig unkontrolliertes Gekraxel und Gerutsche aus, denn der Fels ist seltsam bröckelig und der eigentliche Weg liegt unter einem Gletscher verborgen. Ein bisschen Glück muss man im Leben schon haben. Endlich am Scheitelpunkt angelangt, ist auch schon Mittagszeit. Heute kredenzt Maitre Aldi zur Abwechslung Salami und Kekse, wobei mir erstere allmählich zum Halse heraushängt.
Der Abstieg verläuft unspektakulär, nach einem kurzen Steilstück dümpelt der Weg endlos und kaum abfallend über einen tristen Schutthang dahin, bis wir endlich im Garten der Col de Varda Hütte (2201m) stehen. Der Sessellift befördert uns für je 9000 Lire gen Misurina, der Glitzermetropole mit Straßenverkehr und adretten Menschen.

(iii) Versuchungen
Hübsch haben sie es hier. Nicht zuletzt dank des idyllischen Sees, umrahmt von schicken Hotels und putzigen Souvenirshops. Und trotz Tallage (unter 1800m) lässt das Panorama keine Wünsche offen: im Westen erhebt sich der Monte Cristallo, nach Süden blickt man auf das eindrucksvolle, schneebedeckte Sofa mit Namen Sorapis. Hier lässt es sich aushalten…Am Nordosthimmel dürfen die Drei Zinnen nicht fehlen und so kommt es uns vor, als hätten wir uns in den letzten drei Tagen kaum vom Fleck bewegt. Nur unsere geschundenen Füße sprechen eine andere Sprache.
Zwei Stunden vertrödeln wir am Ufer des Sees, bis zur Abfahrt unseres Busses. Eine zähe aber erstaunlich preiswerte Fahrt nach Sexten beginnt. Dort fallen wir in die Pension Weberhof ein und verlustieren uns nach langer Askese an den Errungenschaften der Zivilisation: der warmen Dusche, frischen Klamotten, Television, der Pizza bei Marlies und Markus und und und… einem frisch bezogenen Bett.

(*) Der aufmerksame Leser wird vielleicht bemerkt haben, dass beinahe alle Gipfel der Cadini Gruppe „Cima Cadini“ heißen. Das liegt daran, dass sie alle gleich aussehen und hat den Vorteil, dass man sich hier schnell zurechtfindet („Wetten um ein Bier, dass das da vorne die Cima Cadini ist?“)

6.Tag: Die Besteigung des Herrstein am Pragser Wildsee

© Stefan Maday 13.08.2001

Die Besteigung des Herrstein (2447m) am Pragser Wildsee

Die Besteigung des Herrstein (2447m) am Pragser Wildsee

06.07.2001

(i) Wildsee statt Firnschnee
Es ist bereits halb zwölf mittags, als wir uns vor dem Hotel am Pragser Wildsee wiederfinden. Nicht, dass wir wegen Völlerei und nächtlicher Exzesse so lange in unseren gemütlichen Federn gelegen hätten. Vielmehr sind wir heute morgen schon fast 3 Stunden lang mit dem Auto in der Gegend herumgekurvt auf der Suche nach einem adäquaten Gipfelchen.
An der Talstation der Cristallobahn kurz vor Cortina d’Ampezzo wusste man zu erzählen, dass der Lift erst ab morgen fahre und dass man in der Gipfelregion wegen des vielen Schnees sowieso nicht viel unternehmen könne. Der wildeste ist er eigentlich nichtSchade, hatten wir uns doch für unseren letzten Tag einen hübschen Törn über den Dibonasteig ausgedacht nebst Besteigung eines Dreitausenderzinkens, welcher doch einen würdigen Jubiläumsgipfel (Nr.25) für mich dargestellt hätte. So hieß es – wieder einmal – umdisponieren, die Karte auf der Motorhaube ausbreiten und aus den vielen grauen Flecken einen als angemessenen Ersatz auswählen. Schließlich landete Michaels Finger auf eben jenem kleinen blauen Etwas am Nordrand der Pragser Dolomiten mit angeschlossenem Zweitausender – genannt Herrstein (Sasso di Signore).
Der Pragser Wildsee (Lago di Braies) präsentiert sich uns als ein wirklich idyllisches Gewässerchen mit klarem, blaugrünem Wasser und in drei Himmelsrichtungen umsäumt von den steilen Bergen der Pragser Dolomiten. Auf knapp 1500m Seehöhe gelegen, bietet er ein angenehmes Klimat für Seeumrunder und Tretbootkaleuns.

(ii) Apostolo Grande – ein Hauch von Italien
Wir umkurven den kleinen Nordzipfel des Sees und kehren seinem Ufer bald den Rücken, denn unser Weg mit der Nummer 58 führt uns direkt in den Wald hinein. Beim ersten geringen Anstieg tropft uns bereits der Schweiß in der Mittagsschwüle. Der große EinzelkämpferbaumWir entschließen uns, oben ohne weiterzustiefeln. Das schont die Kleidung und ergibt dank der Rucksackriemen attraktive Sonnenbrandmuster auf der Haut. Der Wald weicht schließlich einem weißen Schotterfeld und wir gönnen uns die erste Trinkpause.
Hinter dem großen Einzelkämpferbaum beginnt die Nordwand der Apostelkette, in der sich der Pfad allmählich in Ost-West-Richtung aufwärts windet. Die Strecke stellt keine besonderen Ansprüche an den Berggeher, lediglich an einer Stelle wird uns etwas mulmig: über uns vernehmen unsere Lauscher ein verdächtiges Geriesel, und als wenig später neben uns kleine Steinchen einzuschlagen beginnen ist alle Müdigkeit mit einem Male weggefegt und wir beschleuingen unseren Schritt vehement. Wie wir später feststellen werden, befindet sich oberhalb der Wand ein 45 Grad steiler Schotterhang und wir können uns lebhaft vorstellen, wie instabil so eine Rampe ist. Da mag schon ein Hüsterchen ausreichen und ab geht die Post.
Schweißgetränkt betreten wir schließlich einen kiefernüberwucherten Sattel. Nach rechts führt ein Trampelpfad zum Gipfel des Großen Apostel (1995m) hinüber, der nur einen halben Steinwurf entfernt liegt. Auf der Sitzbank stehend genießen wir den schwindelerregenden Ausblick auf den 500m unter uns liegenden See.

Das ist er also, mein 25. Alpengipfel, fast schon über der Baumgrenze… nicht gerade einer, von dem ich meinen imaginären Enkeln berichten müsste…und doch eigentlich ein ganz gemütlicher.

Bis zum Pass am Fuße des Herrstein haben wir noch 200Hm netto zurückzulegen und diese erweisen sich in der drückenden Hitze als äußerst beschwerlich. Lästige Insekten besummen uns und das mediterrane Kiefergestrüpp schrammt an unserer Haut herum, während wir uns den ausgetretenen Pfad im Schneckentempo hinaufquälen. Unsere Wasservorräte haben sich bereits bedenklich verknappt. Das vermeintlich nahe Rauschen eines Baches enttarnt sich als akustische Fata Morgana. Am Fuße des Herrstein pennt dieser Herr einEndlich weicht die Vegetation dolomitösem Schotter, wir entdecken gar ein wenig Schnee und haben irgendwann – wer zählt schon die Minuten – den Weisslahnsattel (Sella Lavina Bianca, 2194m) erreicht.
Wir werfen einen Blick auf die Südseite des Herrstein, dessen Gipfel immer noch steile 250Hm von uns entfernt liegt. Plötzlich macht sich seitens der Opposition heftige Kritik an der Sinnhaftigkeit der Besteigung breit, mit anderen Worten: Michael hat keine Lust mehr. Hört er denn das Rufen nicht? Sind wir soweit vorgedrungen, um im Angesicht des Ziels aufzugeben? Ich jedenfalls fühle mich bei meiner Masochistenehre gepackt. Ein wenig Kalkül ist natürlich auch dabei. Sollte es tastächlich einen Gott geben, so könnte man die Option auf ein wohltemperiertes Jenseits doch gewiss ein wenig vergrößern, indem man unter schlimmsten Entbehrungen auf seinen ureigenen Stein pilgerte.
Für lange Dispute sind wir viel zu müde und gelangen deshalb zu einem schnellen Konsens: ich werde solo hochsteigen, während Michael die verantwortungsvolle Aufgabe obliegt, das Basislager zu bewachen und die Grasmatten auf ihre Elastizität hin zu testen. Eine Stunde bis anderthalb werde ich wohl benötigen. Sollte ich länger fortbleiben, dann hätten wir beide ein kleines Problem.

(iii) Die Besteigung des Herrstein (2447m)
Da der Anstieg sich anfangs nur mäßig steil den Hang durch Kiefergestrüpp hinaufschlängelt, gehe ich selbigen ziemlich forsch an. Zu forsch, denn bald schon droht mir die Puste auszugehen. Im mittleren Drittel wird es steil und äußerst rutschig. Ich muss meine Stöcke immer wieder tief in die Humusschicht rammen und mich selbst auf kraftraubende Art und Weise hinterherziehen. Im oberen Drittel dominiert endlich fester griffiger Fels. Ich arretiere die Stöcke am Rucksack, denn hier ist des öfteren Handarbeit angesagt. Nach etwa zwanzig Minuten bin ich an einer Felsmauer angekommen. Vor dem Überwinden mache ich zum letzten Mal Winki-Winki zum Michael, danach verliere ich den Sichtkontakt mit dem Basislager.
Jenseits der Mauer angelangt ist meine Verwirrung groß: vom ersehnten Gipfel fehlt jede Spur. Der schmale Pfad windet sich ebenerdig um mehrere Felsblöcke herum und schlüge mir das Herz nicht schon bis zum Halse, so würde mich der gähnende Abgrund unter mir zur Langsamkeit ermutigen. Die Dolomiten haben in ihrer Entwicklungsgeschichte besonders viele schroffe Klippen hervorgebracht, doch dank des hellen Gesteins wirken diese nicht gar so düster und bedrohlich wie andererorts in den Alpen. Durch die gute Ausleuchtung hat man zumindest nicht dieses unangenehme Gefühl, im Ernstfall von einem schwarzen Loch verschluckt zu werden. Das sollte aber noch lange kein Grund sein, übermütig zu werden.
Endlich kommt der Gipfel in Sicht, rund wie ein Pudding und umsäumt von einem steilen Felsband. Die Seilsicherung nutzt mir herzlich wenig, denn meine Kletttersteigtakelage liegt beinahe 1000 Meter tiefer im Kofferraum des Wagens. Doch die abgewetzten Felsen verraten mir, dass die Ideallinie sowieso um ein gutes Stückchen links vom Seil liegt. Vorsichtig ziehe ich mich die wenigen Meter hinauf, laufe erstaunt noch eine kleine Wiese hinauf und stehe alsbald auf dem Gipfel des Herrstein.

Ein Blick auf die Uhr: exakt eine halbe Stunde habe ich gebraucht. Ich entlocke meiner ausgedörrten Kehle einen krächzenden Jodler als Gruß an den Zurückgebliebenen und gebe mir selbst 10 Minuten Zeit für das Gipfelglück-Management. BeweisfotoDie Aussicht ist schnell abgehakt, zu waschküchig ist die Atmosphäre, als dass ich mir irgend etwas genauer betrachten wollte. Wenigstens ist von dem befürchteten Gewitter weit und breit nichts zu sehen. Das Gipfelkreuz ist relativ neuwertig, aus Metall, sehr schön, auch ein Sponsorenschild fehlt nicht. Das Beweisfoto mit Selbstauslöser ist obligatorisch. Ebenso das Zigarettchen, sobald der Puls nicht mehr gar so sehr flattert.
Schließlich kann ich der Versuchung nicht widerstehen, meinen Namen in den hölzernen Sitzbalken zu kratzen, der wohl einst der Längsbaum des ursprünglichen Kreuzes war. Viele Markierungen habe ich während der letzen Tage in den Dolomiten hinterlassen. Sie alle zeugen von meiner Existenz, meinen Hoffnungen, meinen Wünschen und meinen Taten. Doch wird nur diese eine länger bestehen als bis zum nächsten Regenschauer. Während des Abstieges habe ich zwanzig Minuten Zeit, meinen überstürzten Aufbruch vom Gipfel zu bereuen. Das ging alles viel zu hektisch vonstatten, eigentlich hätte ich den Michael ein wenig schmoren lassen sollen. Gelohnt hat sich der kleine Abstecher jedoch allemal. Ein interessanter Gipfel, nicht zu einfach, nicht zu schwer. Wie für mich und den heutigen Tag gemacht.
Im Mitteldrittel der Südwand stolpere ich beinahe meiner eigenen Schotterlawine hinterher. Erst im letzten Augenblick finde ich Halt und Gleichgewicht wieder. Das Schicksal meint es bekanntlich gut mit Helden, Kindern und Dummköpfen.

(iv) Das Ende
Michael hat sich während der letzten Stunde im Basislager ausgiebig erholt und angeödet. Wir meditieren noch ein wenig über der Frage, ob der formlose Klotz weit im diesigen Osten vielleicht unsere gute alte Schusterplatte sein könne. Im Südosten machen wir eine Gestalt auf dem nahegelenen Gipfel des Großen Rosskofl (2559m) aus. Dieser wäre vielleicht auch ein lohnenswertes Ziel für uns gewesen, doch jetzt hören wir kein Rufen mehr.
Wir brechen auf. Der Abstieg führt uns über den 26er durch ein nicht enden wollendes Schotterfeld. Ein Bach rettet uns vor der Dehydration und nach zahlreichen Serpentinenkilometern begrüßen wir einen Senioren-Highway, der uns um den Seewald herumführt, uns kurz einmal in St.Veith ausspuckt und uns endlich bleierner Beine zum Pragser Wildsee zurückbringt. An dessen Ufer ist es mittlerweile einsam geworden, sechseinhalb Stunden nach unserem Abmarsch heute mittag. Auch auf die Gefahr hin, ein katastrophales Artensterben anzustoßen, lassen wir es uns nicht nehmen, unsere Stinkfüße im kalten Wasser zu baden. Was kümmert’s uns, schon morgen hat uns die Realität wieder und das Wunderland wird nur noch in unserer Vorstellung weiter existieren.

Mein spezieller Dank gilt Michael und der Kontinentalverschiebung, denn ohne die beiden wäre dieser Urlaub so nicht möglich gewesen.

© Stefan Maday 13.08.2001