Der Ötztal Report 2010

Hochsommer in Nordtirol – heiße Drinks und warme Gedanken

von Stefan Maday
Vorwort

Dolomiten, Ortler, Wallis, Dolomiten. Dies sind die Alpenregionen, die Michael und meine Wenigkeit während der letzten zehn Jahre gemeinsam besucht haben. Alle haben eine wichtige Eigenschaft gemeinsam – sie liegen südlich des Alpenhauptkammes, was diese Gegenden klimatisch begünstigt. Die Nordalpen, das wissen wir aus früheren Jahren und aus Lehrbüchern, sind ein schier unüberwindliches Bollwerk gegen grimmige Tiefdruckgebiete vom Nordatlantik. Praktisch jede Wolke, die es nicht geschafft hat, sich auf ihrer Deutschlandtour abzuregnen, tut dies bereitwillig über Österreich, um endlich als warmes Föhnlüftchen in der Poebene zu verpuffen. Wohl jeder hat irgendwelche Bekannte oder Verwandte, die nach einer Woche Dauerregen in den Hohen Tauern oder in den Zillertaler Alpen schon erbost geschworen haben: „Nie wieder Österreich! Nächstes Jahr geht es nach Sizilien!“ Auch unsere Erfahrungen mit dem kleinen Bruderland sind recht zwiespältig. Auf unseren Fahrten in die und aus den Dolomiten haben wir Austria stets passiert und dabei vor lauter Wolken und Niederschlag selten Berge gesehen. Unsere Tour auf die Hohe Munde im letzten Jahr war genauso feucht wie viele meiner Tage im Alpbachtal. Warum verbringen dann so viele ihre wenigen, kostbaren Urlaubstage ausgerechnet in den Nordalpen? Womöglich aus der selben blauäugig-arroganten Haltung heraus, aus der Menschen heiraten, rauchen, falsch parken oder regelmäßig bei Burger King dinnieren: „Eigentlich soll man es ja nicht machen, aber bei mir wird es schon gut gehen“.

Abgesehen davon hat Österreich alpinistisch sehr viel zu bieten und so haben auch wir uns in diesem Jahr für ein meteorologisches Roulette entschieden und hoffen wider besseres Wissen auf einige freundliche Tage im August. Die Auswahl der Region fiel nicht leicht, am Ende schien uns das lange Ötztal die meiste Abwechslung zu versprechen. Mehr als 300 Gipfel warten auf ihre Besteigung – vom billigen Wander-Dreitausender bishin zu seriösen Gletscherriesen wie der Wildspitze.

Von allen möglichen Stützpunkten im Ötztal stellt Sölden mit Sicherheit den komfortabelsten dar. Der famose Schiort bietet reichhaltiges Programm, dutzende von Restaurants, Supermärkte und sogar Table Dance Bars. Auf jeweils sechs Einwohner scheint ein Sportgeschäft zu kommen (in dem drei der erwähnten sechs Einwohner angestellt sind und der vierte ist der Chef). Unser Michael war schon einmal in Sölden – in den Siebzigern – und hat ein oder zwei Häuser wiedererkannt. Die meisten der großen Hotelklötze sind allerdings neuerer Natur und ein Dorn im Auge jedermannes, der dort nicht logiert. Im Sommer haben viele Hotels und Etablissements geschlossen und der Ort wirkt ein wenig verlassen. Das stört uns jedoch nicht übermäßig, denn wir nächtigen lieber in Frühstückspensionen und nach einer harten Tagestour im Gebirge sind die Füße auch meist zu müde zum Table Dancing.

30.7.2010 Besteigung des Schwarzkogel über Sölden

Gipfel: Schwarzkogel (3016m)
Ausgangspunkt: Hochsölden
Herausforderungen: Nebel
Höhendifferenz: 950m
Gesamtdauer: 6h

Zum Einlaufen suchen wir uns heute einen leicht zugänglichen Gipfel westlich über Sölden. Wir fahren mit dem Wagen nach Höchsölden hinauf auf mehr als 2000m Seehöhe und parken auf einem abschüssigen Platz kurz vor dem Ortseingang. Das artifizielle Dörfchen besteht praktisch ausschließlich aus großen Skilifte über HochsöldenHotels, von denen die meisten im Sommer verwaist sind. Wir folgen einer breiten Kiesstraße den grünen Hang hinauf und überlegen, was man hier so machen kann. Im Norden thront der kesse Grieskogel (2911m), sicherlich einer der interessanteren Berge in dieser Ecke. Alternativ liegen im Westen der Rotkogel (2947m) und dahinter der Schwarzkogel (3016m). Um die Tour nicht zu kurz zu gestalten, opten wir für den letzteren. Das Wetter macht einen recht unentschlossenen Eindruck, immer wieder ziehen Wolken über die Gipfel. Überall stehen Liftanlagen herum, jeder Quadratmillimeter der Langeggwiesen verwandelt sich im Winter in eine Schipiste.

Als wir nach einem kürzeren Steilstück die Rotkogelhütte (2660m) erreicht haben, bietet sich uns ein eindrucksvolles Schauspiel. Unterhalb des düsteren Gratberges im Westen, den wir für den Schwarzkogel halten, beobachten wir einige Baufahrzeuge dabei, wie sie einen künstlichen See ausheben und planieren. Hinauf zum SchwarzseeDer Ausblick auf die vergletscherten Dreieinhalbtausender oberhalb des Rettenbachtales bleibt uns allerdings wegen Wolken verwährt. Ein gut getretener Weg führt uns nun am Fuße des Rotkogels vorbei hinauf zu einem Joch, an der Grenze zwischen rotem Gestein im Norden und schwarzem im Süden. Wir überholen einen älteren Herrn, der noch nicht so genau weiß, wohin es ihn heute treiben wird. Er lebe nur noch für die jeweils nächsten fünf Minuten. Das Joch erweist sich schließlich als flacher Sattel, in dessen Einkerbung ein schmucker Weiher – der Schwarzsee – liegt.

Wir halten uns an das linke Seeufer und überqueren einiges – dank angetauten Neuschnees rutschiges – Blockwerk, um schließlich auf einem anderen Sattel anzukommen. Hier bemerken wir endlich, dass es sich bei der frechen schwärzlichen Schneide zu unserer Linken gar nicht um unser Gipfelziel handelt, Rotkogel und Schwarzseesondern den Schwarzseekogel (2931m). Das eigentliche Objekt unserer Begierde liegt vielmehr vor uns, verborgen hinter einer Nebelwand. Ein planierter Weg windet sich einen mäßig ansteigenden Hang hinauf, die Schneeinseln wachsen mit zunehmender Höhe zu einer geschlossenen Decke zusammen. Ein junges Paar kommt uns entgegen. Trotz Nebels wird es so hell, dass wir unsere Sonnenbrillen aufziehen. Eine Schiliftstation hinter uns lassend folgen wir einem kleineren Trampelpfad, der uns ziemlich unspektakulär zu unserem ersten 2010er Gipfel bringt. Von den beiden Verliebten finden Michael mit Gipfelkreuzwir keine Spuren, sie hatten den Gipfel offensichtlich niemals erreicht.
Von allen Bergen, die wir heute ausmachen konnten, ist der Schwarzkogel offenbar der unaufregendste. Auf der Habenseite können wir verbuchen, dass er auch bei zweifelhaftem Wetter gut zu erreichen ist und zudem gerade eben die magische Dreitausendmetergrenze durchstößt – ein typischer Alpenreportergipfel, muss man wohl selbstkritisch anmerken… Doch der Urlaub ist noch lang und ich persönlich habe für die nächsten Tage noch ein paar herausforderndere Kandidaten im Blickfeld.

Während unseres Gipfelpicknicks zieht plötzlich glückhafterweise der Himmel auf und gibt ein wenig Aussicht auf die unmittelbare Umgebung frei. Offenbar schießt der Berg noch einige Grate in Richtung NW und SW ab. Eine echte Fernsicht mag aber nicht aufkommen. Nachdem wir nach dem Zustand des Schnees zu Schwarzkogel Gipfelurteilen die ersten Besteiger am heutigen Tag sind, füllt sich nun der Gipfel mit weiteren Gruppen. Man kommt ins Gespräch und ein langweiliger Mann schildert uns seine Touren, die er bis dato im Ötztal absolviert hat. Bei der Erwähnung einer Grattour mit vier Gipfeln am Gletscher & DrinksTimmelsjoch klingelt bei Michael und mir der Freudenalarm und wir einigen uns, diese Tour unserem Repertoire hinzuzufügen.
Irgendwann lässt auch die größte Gipfelfreude nach und man beginnt, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt blau anzulaufen. Der einzig gangbare Weg zurück nach Hochsölden liegt im Zurückverfolgen unserer Spuren. Wieder an der Rotkogelhütte, beschließen wir, der mittlerweile unverhofft scheinenden Sonne auf der Terrasse bei einer eiskalten Limonade zu huldigen und einen Anklang der versprochenen Gletscherschau zu genießen. Doch die Sonnenfreude währt nicht lang und bald sind wir wieder durchgefroren, da wärmen selbst die stoffigen Tiroler aprés ski Hits nicht, die unbestellt aus den Hüttenboxen dröhnen.

Beim weiteren Abstieg beginnt es leicht zu schneien. Wir entdecken einen alternativen Pfad hinunter nach Hochsölden, eine vielbefahrene Mountainbikepiste, wie sich herausstellt. Vom Parkplatz aus können wir auf der gegenüberliegenden Talseite das Brunnenkogelhaus ausmachen, vermutlich ein Meilenstein unserer morgigen Tour. Doch das wird heute abend noch bei Pizza und Radler ausfühlich diskutiert werden.

31.7.2010 Hochstubaier Panoramaweg (Erzherzog Eugen Weg)

Gipfel: Wilde Rötespitze (2966m), Rotkogel (2894m), Hinterer Brunnenkogel (2867m), Vorderer Brunnenkogel (2761m)
Ausgangspunkt: Timmelsjoch
Herausforderungen: 1-2 Engstellen & strammer Abstieg nach Sölden
Höhendifferenz: 500m+, 1500m-
Gesamtdauer: 10h

Heute ist ein vollkommen anderer Tag, das wird uns schnell bewusst. Die Morgensonne brennt kalt von einem makellosen Himmel auf den 3163m hohen Nederkogel, zweifelsohne das Wahrzeichen von Sölden (neben den zahlreichen Sportgeschäften, wie in der Einleitung erwähnt), während wir an der Bushaltestelle vor der Gaislachkogelbahn auf den Bus warten. Als Alpenreporter sind wir uns unserer Vorbildfunktion im Kampf gegen den Klimawandel durchaus bewusst und bemühen Der Nederkogel im Morgenlichtuns daher, einen gewissen Prozentsatz unserer Anfahrten in den Bergen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen. Zufällig ist eine Busfahrt auch das einzige Mittel, die für heute angedachte Grattour über den Hochstubaier Panoramaweg ohne stundenlanges Zurückmarschieren entlang der Straße abzuwickeln. Der Panoramaweg erstreckt sich über mehr als sechs Kilometer Länge zwischen Timmelsjoch und dem Brunnkogelhaus, einer Berghütte, die wie eine Galionsfigur den hohen Bug ziert, der das Windachtal vom Ötztal trennt. Aus logistischen Gründen wollen wir am Timmelsjoch starten, obwohl wir auf diese Weise weitaus mehr Höhenmeter ab- als aufsteigen müssen. Doch der letzte Bus vom Timmelsjoch zurück nach Sölden geht bereits um viertel vor fünf, so dass wir uns ständig unter Zeitdruck gesetzt sähen.

An der Haltestelle vor der Gaislachkogelbahn in Sölden treffen wir auf die nette Familie Busmeister (Anmerkung der Redaktion: Name erfunden), die ebenfalls zum Timmelsjoch hinauf möchte. Studien haben aufgezeigt, dass der größte Stress beim Busfahren bereits vor Fahrtbeginn auftritt – zunächst hetzt man sich ab, um pünktlich an der Bushalte in SöldenHaltestelle zu sein, die man folglich viel zu früh erreicht. Dann wartet man sich ungeduldig ein Loch in den Bauch, um sich schließlich bei Eintreffen des Transportmittels von seinen hart erarbeiteten Euros trennen und mit anderen Fahrgästen um einen der freien Sitzplätze kämpfen zu müssen. Danach kann man endlich entspannen. Bei der Fahrt mit dem eigenen Pkw ist es genau umgekehrt, man startet guter Dinge und verwandelt sich mit zunehmender Dauer im Verkehr in ein nervöses Wrack.
Die Fahrt nach Obergurgl nimmt eine gute halbe Stunde in Anspruch. Hier steigen wir wie fast alle Insaßen in den Bus zum Timmelsjoch um. An der Mautstation stoppt der Bus unerwartet und ein Kontrolleur steigt zu. Er schickt mehrere Fahrgäste zum Busfahrer nach vorne, um Maut zu bezahlen. Offenbar ist die Passage nur für Inhaber des Ötztal-Passes, den man beim Tourismusverein erwerben kann, gratis. Diesen haben wir uns allerdings gespart. Als der Wegelagerer unsere Sitzbank erreicht, wedele ich mit einem Geldschein, doch er winkt ab und lässt uns überraschenderweise ohne Ablass davonkommen.

Das Timmelsjoch (2491m) stellt die Grenze zwischen Österreich und Italien dar und besteht im Wesentlichen aus einem Wellblechklo plus Parkplatz. Wir Kunst am Bergverlassen den Bus und sehen uns von jetzt an wieder auf uns gestellt. Ein Wegweiser schickt uns in Richtung Brunnkogelhaus.Bummeln vor der Kulisse des Weißkammes Auf einem grünen Hügel haben Sechstklässler „Kunst am Berg“ ausgestellt. Wir vergnügen uns beim gegenseitigen Fotografieren auf den überdimensionalen Möbelstücken vor der herrlichen Kulisse der gletscherbedeckten Riesen im Nordwesten. Der Pfad könnte nicht einfacher zu begehen sein und führt leider zunächst unterhalb des Bergkammes, der an dieser Stelle von Dreitausendern wie dem Schraakogel und dem Wannekogel gebildet wird (was dem Walliser sein Horn ist dem Ötzi offenbar sein Kogel). Die Aussicht nach Westen ist berauschend, Geigenkamm und später der Weißkamm mit der alles dominerenden Wildspitze (3774m), dem zweithöchsten Berg Österreichs, geben den Ton an.

Auf dem gemütlichen Wiesenpfad vertreiben wir uns ferner die Zeit, indem wir uns Wettrennen mit den Busmeisters liefern, die wie viele andere für den Panoramasteig zum Timmelsjoch gereist sind. Der Pfad windet sich auf und ab, an einer Stelle wird er unangenehm schmal und ausgesetzt, doch erst nach etwa zwei Stunden, nach Erreichen des Wannekars, beginnt er, über einen steilen Grat an Höhe zu gewinnen. Einige Minuten gilt es nun ordentlich zu pumpen, dann Die Wildspitze vom Gipfel des Wilden Rötespitzefinden wir uns auf dem Gipfel der Wilden Rötespitze (2966m) wieder. Wenn sie ihrem Namen auch nicht Ehre macht, stellt sie immerhin den höchsten Punkt unserer heutigen Unternehmung dar und bietet darüber hinaus einen phänomenalen Blick auf die westlichsten Stubaier Alpen – Schußgrubenkogel, Wilde Leck und Kühscheibe, um nur die lustigsten Namen zu nennen. Erwähnenswert ist noch, dass kein christliches Symbol den höchsten Punkt ziert, sondern ein Steinhaufen, aus dem ein Holzpflock herausragt, dem eine Socke übergestülpt ist (möglicherweise ein heidnisches Symbol).

Ein Blick gegen Südosten offenbart, warum wir erst hier auf den Hauptgrat gestiegen sind – hinter uns ist der Grat schmal und zerfetzt und hätte eine Menge heikler Auf-un Abkletterei mit sich gezogen. Die zweite Grathälfte vor uns sieht sehr viel runder und familienfreundlicher aus. Wir verabschieden Der Grat zum Hinteren Brunnkogeluns von den Busmeisters, die kurz nach uns den Gipfel betreten haben und gehen den nächsten Abschnitt an. Der Grat ist komfortabel breit und der nächste Zacken in der Krone des Erzherzogs ist flugs erreicht in Gestalt des Rotkogel (2894m). Die Wanderkarte von Kompass weist für diesen Gipfel ein Kreuz aus, doch in Wahrheit ist es wieder nur die Kombi Steinhaufen und Socke. Dafür trägt der nächste, der Hintere Brunnkogel (2867m) eines. Dieser ist eigentlich ein Doppelgipfel und nur ein halbes Stündchen mit leichter Schrofenkletterei entfernt – wieder ein Gipfel für die Liste… Das letzte Häkchen, der Vordere Brunnkogel (2761m), ist nicht viel mehr als ein markiertes Hügelchen, der Hüttenberg des nun zum Greifen nahen Brunnkogelhauses, das verlockend auf einem Boulderhügel residiert.

Nach mehr als fünf Stunden Bräunungstour auf dem Panoramaweg lassen wir uns gerne zum Chill-out auf der kleinen Hüttenterrasse nieder. Leider befinden wir uns immer noch ca. 1200 Höhenmeter oberhalb Söldens. Es gibt eine Alternative zum Direktabsteig: hinunter ins Windachtal und von dort aus mit dem Bus Das Brunnkogelhauszurück könnte uns 400 Höhenmeter und den einen oder anderen Marschkilometer ersparen. Michael zaubert seinen Busfahrplan hervor, dieser ist aber alles andere als leicht verständlich und wir vermögen die Haltestellen nicht mit den Namen auf unseren Karten in Einklang zu bringen. Es scheint aber, dass auch hier der letzte Bus gefährlich früh fährt und sollten wir diesen versäumen, hätten wir einen richtig langen Hatscher vor uns. Hier wird deutlich, warum das eigene Fahrzeug in den Alpen dann doch die komfortabelste und flexibelste Lösung bedeutet. Ferner ist die Fortbewegung mit Muskelkraft immer noch die umweltfreundlichere Alternative zum Fahren mit einem Dieselbrummi.

Wir entscheiden uns also für die direttissima nach Sölden, in drei Stunden sollten wir unten sein, ohne unsere Gliedmaßen über Gebühr zu Abstieg nach Söldenruinieren. Wieder einmal verabschieden wir uns von den Busmeisters. Über den grünen Westhang unterhalb der Hütte serpentinen wir uns hinunter bis zu einer Latschenkolonie. Mit zunehmender Vegetation wird es schwüler und schnell beginnen wir, den teilweise unangenehm frischen Gratwind zu vermissen. Das Wasser wird knapp und der Kopf schmerzt mittlerweile, es ist erst der zweite Tag in Höhenluft und ich verliere ein wenig den Bezug zu Raum und Zeit. Eine Erscheinung, eine Alm, schon wieder die Busmeisters, ein Wald, hoch über Sölden, weniger hoch über Sölden, in Sölden, daheim.

1.8.2010 Wildes Mannle und Breslauer Hütte

Gipfel: Wildes Mannle (3023m), Urkundholm (3134m)
Ausgangspunkt: Vent (Bergstation der Wildspitzbahn)
Herausforderungen: Mini- Via Ferrata im Abstieg vom Mannle
Höhendifferenz: 1000m
Gesamtdauer: 7h

Wildes Mannle und Breslauer Hütte

Tag drei im Ötztal und der Tag, an dem wir Sölden vorerst den Rücken kehren. Heute steht ein weiterer Damen-Dreitausender an mit Startpunkt in Vent am Ende des Venter Tales. Danach wollen wir das Ötztal hinabgondeln und nach Osten in Richtung Sellrain abbiegen, wo es einen 2000m hoch gelegenen Ort geben soll, Kühtai genannt. Dort gedenken wir das für morgen angedrohte Schlechtwetter auszusitzen oder so ähnlich. Gestern abend beim Bierchen klang das jedenfalls stichhaltig.
Die Talleitspitze hoch über VentFür heute ist noch einmal freudiges Wetter angekündigt, das wir gerne nutzen wollen. Dazu begeben wir uns nach Vent, mit 1895m ü.NN eines der höchstgelegenen Dörfchen Austrias. Spirituelles Wahrzeichen ist die Kirche zum Hl.Jakob, säkulares die Talleitspitze (3406m), die nach Adam Riese 1500 Höhenmeter über dem Dorf aufragt und die beiden Höchtäler des Rofen- und des Niederbaches voneinander trennt. Im Westen liegt – von unten unsichtbar – die Wildspitze (3774m) und ihr vorgelagert das ‚Wilde Mannle‘, ein populärer Wander- und Aussichtsberg. Auf dem Papier eine Halbtagestour, planen wir ferner einen Abstecher zur Breslauer Hütte und den dortigen Hüttenberg ‚mitzunehmen‘, den Urkundholm (3134m).

Nachdem wir in Vent eingetroffen sind, drücken wir einem zwölfjährigen Jungen 4 Euro ab, auf dass wir auf seinem Acker parken dürfen. Bequem wie wir sind, ersparen wir uns Schrofenkraxeln am Wilden Mannledie ersten 450 Höhenmeter über eine langweilige Piste, indem wir die Wildspitzbahn bis hinauf zur Bergstation nehmen. Ab hier schälen wir uns auf einfachen Wanderwegen den sonnenüberfluteten Osthang empor. Heute ist es richtig warm und ich bereue nicht, in Shorts und T-Shirt aufgebrochen zu sein. Das Wilde Mannle ist bereits über uns sichtbar, ein rundlich-schrofiger Gratlümmel mit Kreuz an höchster Stelle. Wenn es irgendwo wild zugehen sollte, dann wahrscheinlich auf einer der anderen Seiten.
Der Hauptweg führt zur Breslauer Hütte, daher verlassen wir ihn schließlich nach rechts und halten auf den Südgrat zu. Ein Schild stellt uns vor die Wahl, den ‚Normalweg‘ oder den ‚Rofenkarsteig‘ zum Gipfel zu nehmen. Für uns scheint es günstiger, den Normalweg für den Aufstieg zu nutzen und den Steig für den Abstieg. Ersterer marschiert schnurstracks weiter den Grat hinauf. Wir nehmen eine unserer gefürchteten langen Pausen, während uns viele Wanderer passieren. Keine Frage, auf dem Gipfel wird es voll sein. Das Vorankommen wird nun anstrengender. Wir überwinden einige leichte Kraxelstellen, um schließlich keuchend auf den Gipfelkamm zu gelangen. Noch ein paar Höhen und Tiefen über grobschlächtiges Blockwerk und das Gipfelkreuz ist erreicht.

Die Sonne knallt und kein Wort kann der Aussicht auf die Wildspitze und den Gletscherabbruch des Rofenkarferners auch nur annähernd gerecht werden. Welch ein fantastisches Naturschauspiel. Wir beobachten einige schwarze Pünktchen auf dem blendend weißen Firn des Ferners und fragen uns, ob die Wildspitze Blick auf die Wildspitzeauch für uns in diesem Jahr erreichbar sein wird. Leider sind die Wetteraussichten für die nächsten Tage wenig hoffnungsvoll, eine Schande, nun da wir halbwegs akklimatisiert sind. Doch Jammern hilft bekanntlich nichts, wenn man keinerlei Kontrolle über eine Situation hat. Lieber wollen wir die sonnigen Stunden des Lebens wie diese hier voll auskosten.
Eine auf den ersten Blick alleinstehende Dame fertigt einige Gipfelfotos von uns beiden an. Tatsächlich sei sie gar nicht allein unterwegs, sie warte nur Gipfelfoto Wildes Mannleauf ihre langsameren ‚Männer‘, die offenbar weit weniger auf den Röhren haben als sie. Auf dem weitläufigen Gipfelkamm tummeln sich ein dutzend Grüppchen beim mittäglichen Schmackofatz. Wir beschließen den Aufbruch. Dazu halten wir uns weiterhin in nördlicher Richtung, bis links eine Markierung auf den Rofenkarsteig hinweist. Wie wir bald feststellen, ist der RKS kein technisch anspruchsvoller und mit Kilometern von Stahlseilen gesicherter Sportsteig, sondern ein alpiner Bergwanderweg mit einer einzigen Krux: einer etwa zehn Meter tiefen Rinne, die jedoch selbst im Absteig dank Fixseil keine Schwierigkeit darstellt.

Bald erreichen wir die ehemalige östliche Seitenmoräne des Rofenkarferners. Während die heutige Gletscherzunge prekär über einer steilen Böschung hoch Die Rinne im Rofenkarsteigüber dem Kar hängt, hat der Gletscher bis vor wenigen tausend Jahren an seinen Rändern zwei steile Schuttdämme angehäuft. Sie wirken ein wenig wie Nordseedeiche, auf dessen Kronen man vergessen hat, Gras zu pflanzen. Auf dem linken verlieren wir langsam an Höhe, bis wir schließlich die Moräne nach rechts verlassen und auf den Boden des ehemaligen Gletscherbeckens hinuntersteigen, wo eine kleine Holzbrücke den Übergang über den Gletscherbach erleichtert. Welch ein herrliches Gefühl, breitbeinig auf der Brücke zu stehen und den unter mir tosenden Wassermassen zuzusehen, wie sie ihren langen Weg ins Tal antreten.

Ein kurzer Anstieg führt uns auf die Westmoräne, die wir später nach rechts verlassen, wo uns uns der knackige Gegenanstieg zur Breslauer Hütte erwartet. Die Moränen im RofenkarDort vertrödeln wir keine Zeit mit Rumhängen auf der ohnehin überfüllten Hüttenterrasse. Nach kleinem Verschnaufer zotteln wir weiter in Richtung Hüttenberg. Wie wir vom Wilden Mannle aus erkennen konnten, ist der Urkundholm lediglich ein kleiner Buckel auf dem Südsporn des Ötztaler Urkund (3554m), der wiederum ein Satellit der Wildspitze ist. Nach anfänglicher Verwirrung ob der vielen Wege, die von der Hütte in Hat der Mika gut gemachtRichtung Nordwesten führen, zeichnet sich der Weg bald deutlicher ab. Mein Haupt hat wieder begonnen, in Synchronisation mit meinem Herzschlag schmerzhaft zu pochen, hoffentlich zum letzten Mal für dieses Jahr.
Das Gelände ist recht anspruchslos, an einer Stelle müssen wir etwas Hand anlegen. Eine knappe Dreiviertelstunde nach Aufbruch von der Breslauer Hütte stehen wir endlich am Gipfelkreuz. Der Blick wird von der firnbedeckten Südflanke des großen Bruders dominiert und man hat nicht unbedingt das Gefühl, auf einem besonders prominenten Gipfel zu stehen. Kurioserweise weist das Kreuz eine Gipfelhöhe von 3113m aus, die Kompasskarte 3134m und die Karte von Freytag & Berndt 3140m. Möglicherweise ist der Berg einfach zu unbedeutend, als dass er genau vermessen wurde. Außerdem scheint der höchste Punkt etwa 30m weiter am Grat zu liegen.

Mehr und mehr Wolken verhüllen die Sonnenscheibe, bald sind wir kalt und hungrig und machen uns auf den Rückweg. Dieses Mal nehmen wir den direkten Weg von der Breslauer Hütte zur Bergstation Stablein. Am Wagen angekommen steht uns noch eine Fahrt durch das komplette Ötztal bevor, ehe wir auf Dusche und Schnitzel hoffen dürfen.

2.8.2010 Die Mute oder nicht so hoch über Kühtai

Gipfel: Die Mute (2398m)
Ausgangspunkt: Kühtai
Herausforderungen: n/a
Höhendifferenz: 400m
Gesamtdauer: 5h30m (etwa 50% davon mit Unterstellen verbracht)

Die Mute oder nicht so hoch über Kühtai

Kühtai ist weniger eine Ortschaft denn eine Akkumulation von Hotels entlang einer Passstraße, wie man sie in den Alpen öfters antrifft. Immerhin haben wir gestern abend in der ‚Schönen Aussicht‘ einen angenehmen Gasthof zwischen den (meist geschlossenen) Hotelkästen ausfindig machen können. Beim bemerkenswert guten Abendmahl auf der sonnenbestrahlten Terrasse mochten wir nicht glauben, dass wir ab heute mit deutlich trostloserem Wetter vorlieb nehmen sollen. Der Chef, ganz Lokalpatriot, hatte uns erklärt, dass es nicht unbedingt so weit kommen müsse, denn Kühtai sei klimatisch gesehen ziemlich einzigartig, liege es doch inmitten von vier Himmelsrichtungen. Wir zeigten uns beeindruckt, denn welcher Ort auf Gottes grüner Erde kann dies schon von sich behaupten? Für den Fall widriger Bedingungen empfahl er uns einen Besuch auf der Drei-Seen-Hütte, von der er offenbar ebenfalls der Chef ist.

Ursprünglich hatten wir es auf den Sulzkogel (3016m) abgesehen, wieder einen dieser Alpenreporter-Dreitausender. Doch angesichts des heute tief hängenden Am FinstertalspeicherGewölks beschließen wir, zunächst zum Finstertal Speicher aufzusteigen und uns dort je nach Lage für einen (oder zwei) Gipfel zu entscheiden. Der Speicher ist ein größerer Stausee südlich von Kühtai, wie die Biene fliegt. Wir erreichen ihn allerdings über eine Fahrstraße und später einen gewundenen Trampelpfad. Wir treffen eine Gruppe von Teenagern, deren Ziel die Schweinfurter Hütte ist. Ein langer Weg, der über die 2777m hohe Finstertalscharte führt, bei drohenden Gewittern eine nicht uninteressante Wanderung. Nach 75 Minuten genießen wir unsere erste Pause auf einer Sitzbank am Ufer des Sees auf etwa 2350m. Die Wolkengrenze liegt nur unwesentlich über uns, keiner unserer Kandidaten ist vollständig sichtbar. Es riecht verdächtig nach Regen.

Über dem entgegengesetzten Seeufer erhebt sich ein mächtiger Kamm, der im Zwölferkogel (2986m) seinen Apex erreicht. An seinem Nordende liegt Die Mute Die Mute lugt aus dem Nebel(2398m), ein kecker kleiner Aussichtsgipfel mit eigenem Kreuz. Wir entscheiden uns für eine Besteigung, dazu ist lediglich die Staumauer zu überqueren und eine Auswahl schmieriger Pfade führt in Minuten auf den Gipfel. Dort stellen wir erstaunt fest, dass die Gruppe um den Pirchkogel (2828m) nördlich von Kühtai wolkenfrei ist. Eventuell haben wir heute von zwei Alternativen die schlechtere gewählt… Zurück am Stausee Typischer Anblick dieser Tageschwinden die Hoffnungen auf eine Dreitausenderbesteigung. Es donnert, ein Gewitter scheint zu nahen. Hurtig folgen wir dem breiten Pfad hinunter zur Drei-Seen-Hütte, wo der Chef uns bereits mit einem Gratis-Schnäpschen erwartet. Nach Aussitzen einiger leichter Regenschauer entscheiden wir uns für einen Abstecher auf den Gipfel des Neunerkogels (2640m), der anfangs als Notalternative geplant war. Doch kaum zurück am See öffnet der Himmel alle seine Schleusen und wir retten uns in einen verlassenen Unterstand. Nach Abflauen der Sintflut trollen wir uns geschlagen hinunter nach Kühtai, wo wir eine zweite Nacht verbringen wollen. Für morgen sind ähnliche Wetterunbilden vorhergesagt, wir werden den Tag nutzen, um Söldens Sportgeschäfte ausgiebig zu erforschen und am späteren Nachmittag zur Martin-Busch-Hütte aufzusteigen, unser Basislager für die Bezwingung des Similaun.

 

4.8.2010 Besteigung des Similaun

Gipfel: Similaun (3606m), Marzellkamm (3143m)
Ausgangspunkt: Vent
Herausforderungen: Gletscher mit Spalten
Höhendifferenz: 1700m
Gesamtdauer: 3+11h (Übernachtung auf Martin-Busch-Hütte)

Besteigung des Similaun

Um vier Uhr morgens erwache ich auf meiner Pritsche auf unserem Zimmer in der Martin-Busch-Hütte (MBH). Das Verb ‚erwachen‘ ist in diesem Zusammenhang als Rustikales Ambiente auf der MBHEuphemismus zu verstehen, setzt es doch voraus, dass man vorher eine Serie von Traum- und Tiefschlafphasen absolviert hat. Diese Nacht im Zwölferzimmer war für mich jedoch eher eine Folge von Sekunden-Nickerchen, die jedes Mal abrupt endeten, sobald sich einer meiner Zimmergenossen knatschend in seinem Holzbettchen umgedreht hatte. Nun macht sich bereits die erste Gruppe im Licht ihrer Stirnlampen abmarschbereit. Kaum wieder eingeschlafen, folgt die nächste. 5 Uhr. 6 Uhr. Michael gibt ein Lebenszeichen von oben, meint, er habe de facto nur auf einem Holzbrett gelegen und wir beschließen, unserem Leid ein Ende zu bereiten.

Unsere letzte Hüttenübernachtung liegt vier Jahre zurück und wir sind mittlerweile offenbar völlig verweichlicht durch den Luxus der Frühstückspensionen, Die Martin-Busch-Hütte in voller Herrlichkeitso dass uns auch das Frühstück auf der MBH reichlich karg dünkt und am ehesten noch den Würgereflex anspricht. Wir fühlen uns jedenfalls äußerst schlecht gewappnet für den vermeintlichen Höhepunkt unserer diesjährigen Alpentour. Doch beginnen nicht viele Der Alpenhighway mit Mika. Im Hintergrund die beliebte Kreuzspitzegroßen Abenteuer mit einem unerwarteten Handicap? Am Ende gilt es stets, das Beste aus den vorgegebenen Rahmenbedingungen zu machen.
Gegen halb acht verlassen wir die MBH bei strahlend blauem Himmel. Ein kleiner Endorphinschub. Im Wesentlichen kann der Wanderer zwischen zwei Routen auf den Similaun wählen: die ‚Via Alpina‘ durch das Niederjochtal hinauf zum Niederjoch und über den Niederjochferner und die Westflanke auf den Gipfel oder alternativ über den Marzellkamm, der sich von der MBH bis zum Nordrand des Niederjochferners erstreckt. Die zweite Variante gilt gemeinhin als die landschaftlich interessantere, weswegen wir die erste wählen.

Der Alpenhighway startet gemütlich und wir lassen sukzessive Kreuzspitze, Kreuzkogel und Saykogel hinter uns, als nach rechts der Weg zum Hauslabjoch abzweigt, wo 1991 die berühmte ‚Mumie vom Similaun‘ gefunden wurde, besser bekannt als Ötzi. Die Busmeisters von Tag 2 hatten uns erzählt, dass der Weg Similaun mit Niederjochfernerhinauf über den Gletscher ohne Eisausrüstung ziemlich unangenehm gewesen sei. Wir halten uns aber geradeaus, steigen auf eine alte Moräne und sehen endlich unser heutiges Ziel vor Augen – den Similaun mit seinem gewaltigen, vorgelagerten Gletscher, dem Niederjochferner. Gestern beim etwa dreistündigen Aufstieg von Vent zur MBH lagen die Wolken zu tief, als dass man irgendeinen der weißen Riesen hätte ausmachen können. Die Similaunhütte (3010m) markiert unser nächstes Ziel, vorher gilt es noch einige verschüttete Wegstellen zu überbrücken. Circa zwei Stunden nach Aufbruch erreichen wir den Anseilplatz am Niederjoch.

Auf dem Ferner sind mehrere Gruppen zu erkennen, es sollte ein Leichtes sein, ihren Spuren zu folgen und so die Spaltengefahr zu minimieren. Dennoch seilen wir uns an, schnüren Steigeisen unter und halten Eispickel und Sonnencreme im Anschlag. Als leichterer von uns beiden gehe ich vor, Michael darf Spalte mit Brückemich im Ernstfall aus der Bredouille ziehen. Auf den ersten paar hundert Metern ist der Gletscher vollkommen aper, d.h. schneefrei. Das Eis knirscht unter unseren Schuhen, von Spalten ist nichts zu sehen. Doch die tummeln sich meistens dort, wo es steil wird oder wo der Gletscherfluss seine Richtung ändert. Dies ist weiter oben der Fall, wo der Gipfel des Kleinen Similaun die Eismassen einer Schikane im Motorsport gleich zu einer Rechts-Links-Kombination nötigt. Hier oben liegt noch Schnee, wir folgen der dünnen getretenen Spur unserer Vorgänger und stehen bald leicht verstört vor einer Schneebrücke, die über eine gut zwei Meter breite Spalte führt. Der Riss im Gletscher ist vom Schnee zugeweht, seine wahre Tiefe daher nicht auszuloten. Ich habe gelesen, dass Gletscherspalten typischerweise um die 30m tief sind. Das darunter befindliche Eis verhält sich durch den Druck der oberen Schicht derart plastisch, dass sich dort keine Spalten bilden. Tröstlich.

Zwei Jungs kommen uns von oben entgegen und zeigen uns, wie man eine Schneebrücke überquert: einer bleibt stehen – bereit, im Notfall zu sichern – und der andere huscht zügig drüber. Das hätten wir beiden wahrscheinlich auch ausgetüftelt, doch nun wissen wir, dass die Brücke auch tatsächlich hält! Die beiden Am Abschirrplatzerklären uns, dass sie über den Marzellkamm aufgestiegen seien und dass uns auf unserem weiteren Weg keine größeren Spalten mehr erwarteten. Man verabschiedet sich. Ich mache mich leicht wie eine Feder und bin in Nullkommanichts auf der anderen Seite und auch der Michael schafft es irgendwie. Das war ein feines Abenteuer und nun wird uns nichts mehr schocken können, ab hier ist Genießen angesagt.
Um viertel nach elf gönnen wir uns eine Pause, kurz vor dem felsigen Gipfelaufbau des Similaun. Wir sind nicht allein, vier junge Damen seilen sich für den Abstieg an. Es ist uns nicht entgangen, dass die Frauenquote beim Bergsport in den letzten Jahren stetig zugenommen hat. Offenbar sind Berge gerade bei jungen Dingern immer mehr angesagt, schon aus ästhetischen Gesichtspunkten eine begrüßenswerte Entwicklung, wie wir Alpenreporter finden. Um jetzt nicht in eine Schublade gesteckt zu werden – natürlich freuen wir uns auch nahezu ebenso sehr, wenn wir auf unseren Touren bärtige alte Männer treffen.

Der einfachste Weg zum ersehnten Oben scheint über den verfallenen Westgrat zu führen. Von weiter unten konnten wir einige Bergsteiger auf dem Die letzten Meter noch mal pumpennordwestlichen Firnhang entdecken, doch diesen trennt ein übel gelaunt wirkender Bergschrund vom angeschweißten Gletscher. Wir entseilen uns und trennen uns von den stählernen Sandalen, nur um sie nach wenigen Minuten Kraxelei wieder unterzuschnallen, denn die letzte Passage führt über einen luftigen Firngrat zum ersehnten Gipfelkreuz. Nachdem wir nun zwei Stunden lang keuchend über viele Meter dickes Eis marschiert sind, finden wir den Gipfel völlig eis- und schneefrei vor. Die Aussicht ist phänomenal, besonders beeindruckend erscheint der im Gletschermeer ertrinkende Grenzkamm im Osten von der Hinteren Schwärze bis zur Hochwilde.

Michael glaubt im Westen Grawand und Im Hintern Eis auszumachen, zwei Gipfel, die wir vor vier Jahren im Rahmen unseres Urlaubs in der Ortlerregion Grenzkamm im Ostenbestiegen haben. So klar und deutlich wie heute haben wir König Ortler damals nicht zu Gesicht bekommen. Hier sitzen wir also auf unserem dritthöchsten Berggipfel und doch überragt er mit seinen 3600 Metern die beiden Schweizer Viertausender Breit- und Allalinhorn um Längen, die doch beide letztlich käuflich erworbene Halbtagesziele ohne jedes persönliches Risiko für uns waren. Auch wenn der Similaun auf dem Normalweg ein technisch anspruchsloser Berg ist, haben wir ihn doch rechtschaffen vom Tal bestiegen. Und auch meine allmählich aufkeimenden Höhenkopfschmerzen zeugen von seiner Statur.

Schweren Herzens trennen wir uns letztlich vom (zumindest heute dank Sonnenschein) gemütlichen Gipfel. Gerne hätten wir uns hier noch Stunden in der Sonne Die Similaun Nordwandgesuhlt und versucht, jeden erkennbaren Berg zu identifizieren, doch eine kurze Milchmädchenrechnung ergibt, dass wir bis zu unserer Ankunft in Vent noch etwa sechs Stunden und 1700 Höhenmeter Abstieg absolvieren müssen. Am Anseilplatz unterhalb der Felsen beschließen wir, über den Marzellkamm abzusteigen. Der Marsch über den Nordlappen des Niederjochferners geht relativ zügig vonstatten, an einigen Stellen machen wir allerdings kleinere Unstetigkeiten unter der dünnen Schneedecke aus, die wir respektvoll überhüpfen. Gegen halb zwei Uhr haben wir den Einstieg zum Marzellkamm erreicht. Die Eisausrüstung werden wir nun nicht mehr benötigen.

Der Kamm erweist sich zunächst als relativ breit und dank der herumliegenden groben Blöcke nicht so einfach begehbar, wie wir es uns gewünscht hätten. Wir Marzellferner und Hintere Schwärzeüberqueren mehrere Höhepunkte (von denen der höchste als Berggipfel zählt, sagt jedenfalls der Michael), bevor der Weg auf die Ostflanke wechselt. Hier eröffnet sich uns ein atemberaubender Ausblick auf den Marzellferner, seines Zeichens Hausgletscher der Hinteren Schwärze (3624m). Der Ferner ist in seinem unteren Teil aper und vollkommen von Spalten durchsetzt, für potenzielle Besteiger der Hinteren Schwärze sicherlich eine ordentliche Herausforderung, wenn es darum geht, einen Pfad durch dieses Labyrinth zu finden.

So unterhaltsam wie der Marzellkamm auch ist (an einem anderen Tag würde ich hier mit Pläsier stundenlang herumbouldern), im Abstieg scheint er doch kein Similaun von kurz vor VentEnde nehmen zu wollen. Längst zollen die durchwachte Nacht, Höhenluft und Dehydration ihren Tribut in Form von Koordinationsschwierigkeiten und Lethargie. Kurze Pausen werden zur Notwendigkeit, die Vorräte sind allerdings aufgebraucht. Der Kamm wird grüner und endlich beginnt der Abstieg. Um viertel nach vier erreichen wir die MBH und gönnen uns eine Limonade auf der Terrasse, umsäumt von dutzenden anderer, müder Bergsteiger. Der weitere Abstieg nach Vent über die Dreckstraße verläuft ereignislos, abgesehen von den zahllosen Blicken nach hinten auf die schmucke Nordwand ‚unseres‘ Berges. Dies war zweifellos der Höhepunkt unseres diesjährigen Aufenthaltes in den Alpen. Auch wenn wir noch zwei weitere Tage im Ötztal verbringen werden, wird das Wetter eine vergleichbare Tour wohl nicht mehr zulassen. Wahrscheinlicher ist es, dass wir vor lauter Langeweile stattdessen unsere Grand Tour durch Söldens Sportgeschäfte vollenden werden. Nächstes Jahr geht es zwar nicht unbedingt nach Sizilien, aber gerne wieder auf die Südseite der Alpen.

 

© Stefan Maday 2011