05.07.2001

(i) Drei Leitern
Selten habe ich das Morgengrauen so sehr herbeigesehnt wie heute. An Schlaf war kaum zu denken, denn die alten Haudegen haben die ganze Nacht geschnarcht und gefurzt.
In Rekordzeit haben wir gepackt und kehren dem Dachboden den Rücken. Das Wetter ist nicht das Gelbe vom Ei, doch allemal besser als gestern. Nur ein paar wenige tiefhängende Wolken trüben den Gesamteindruck. Ten o’clock postman, bring me a ladder (c) by MBEin leckeres Frühstück ist noch drin, dann ruft schon wieder der Berg. Michael war schon einmal hier und empfiehlt den Leitersteig auf der Cima Cadini jenseits des Schneefeldes.
Wir durchqueren es mit einem mulmigen Gefühl, denn irgendwo unter der Schneedecke hören wir ein Bächlein rauschen. Da möchte man nicht unbedingt schon am frühen Morgen hineinplumpsen. Die Kletterei bis zum Einstieg führt über tropfenden Fels und ist ziemlich spannend, doch auf den Leitern vergeht mir bald die Lust. Das obligatorische Klick-Klack beim Umsichern erweist sich als lästig und zeitaufwendig. Bei Licht betrachtet scheint die Leiterkletterei eine ziemlich öde Angelegenheit zu sein und nichts für ungeduldige Naturen. Michael ist erst gar nicht mitgekommen, denn er war schon einmal hier. So steige ich gipfel- und reuelos wieder ab. Die Kletterdamen hängen mittlerweile tapfer in der Wand einer anderen Cima Cadini*.

(ii) Zwei teuflische Scharten
Für uns heißt es jedoch Ade sagen und der 117 hoch zur Diavolo Scharte folgen. Das nördliche Kar zwischen beiden Cime Cadini erweist sich als steil und – oh Wunder – schneebedeckt. Wenn wir auch immer noch quälend lange brauchen, entwickeln wir doch allmählich eine gewisse Routine im Rauf- und Runterschlittern, ohne es jedoch wirklich zu genießen. Lass jucken: Forcella Diavolo mit Blick auf Cima Cadini, Cima Cadini und Cima CadiniWas an der Scharte nun so teuflisch sein soll? In jedem Fall bietet sie eine schöne Aussicht auf eine Reihe gehörnter Cadinis und ein verlockendes Rastplätzchen für den Atemlosen. Über uns hören wir Stimmen von Bergsteigern, die sich an der Cima Cadini versuchen.
Der Abstieg erfolgt schneelos weil über den Südhang. Wir müssen einige Leitern überwinden, ehe wir gnadenlos abfallendes Schottergelände erreichen. Was wären die armen Kniegelenke ohne Stöcke und Bandagen. Endlich am Absatz angelangt, gönnen wir uns die nächste Pause und orientieren uns erst einmal, wo wir überhaupt hin müssen. Wieder hoch zu irgendeiner Scharte, soviel ist sicher. Glücklicherweise nicht zu der hohen direkt gegenüber, der Weg führt rechts versetzt einen steilen Hang hinauf. Ein Jüngling kommt diesen Weg hinab, gefolgt von seiner bedauernswerten Lebensabschnittspartnerin. Die bewegt sich ziemlich langsam und unsicher, so als sei jeder Schritt Wagnis und Tortur. So hat sie sich ihren Urlaub sicherlich nicht vorgestellt.

Wir durchqueren ein verschneites Bett und finden uns alsbald am Anstieg wieder. Der führt schweißtreibend über Humus und Schotter sowie einige künstliche Holzstufen hinauf bis unter eine Felswand. Dort beginnen Drahtseilsicherungen, die uns immer wieder sporadisch auf dem weiteren Weg nach oben begleiten. Abwechselnd darf geklettert und Schotter getreten werden. Auch ein schikanöses Schneebrett ähnlich dem am Paternkofel darf nicht fehlen. Die letzten Meter durch das immer steiler und enger werdende Kar arten in völlig unkontrolliertes Gekraxel und Gerutsche aus, denn der Fels ist seltsam bröckelig und der eigentliche Weg liegt unter einem Gletscher verborgen. Ein bisschen Glück muss man im Leben schon haben. Endlich am Scheitelpunkt angelangt, ist auch schon Mittagszeit. Heute kredenzt Maitre Aldi zur Abwechslung Salami und Kekse, wobei mir erstere allmählich zum Halse heraushängt.
Der Abstieg verläuft unspektakulär, nach einem kurzen Steilstück dümpelt der Weg endlos und kaum abfallend über einen tristen Schutthang dahin, bis wir endlich im Garten der Col de Varda Hütte (2201m) stehen. Der Sessellift befördert uns für je 9000 Lire gen Misurina, der Glitzermetropole mit Straßenverkehr und adretten Menschen.

(iii) Versuchungen
Hübsch haben sie es hier. Nicht zuletzt dank des idyllischen Sees, umrahmt von schicken Hotels und putzigen Souvenirshops. Und trotz Tallage (unter 1800m) lässt das Panorama keine Wünsche offen: im Westen erhebt sich der Monte Cristallo, nach Süden blickt man auf das eindrucksvolle, schneebedeckte Sofa mit Namen Sorapis. Hier lässt es sich aushalten…Am Nordosthimmel dürfen die Drei Zinnen nicht fehlen und so kommt es uns vor, als hätten wir uns in den letzten drei Tagen kaum vom Fleck bewegt. Nur unsere geschundenen Füße sprechen eine andere Sprache.
Zwei Stunden vertrödeln wir am Ufer des Sees, bis zur Abfahrt unseres Busses. Eine zähe aber erstaunlich preiswerte Fahrt nach Sexten beginnt. Dort fallen wir in die Pension Weberhof ein und verlustieren uns nach langer Askese an den Errungenschaften der Zivilisation: der warmen Dusche, frischen Klamotten, Television, der Pizza bei Marlies und Markus und und und… einem frisch bezogenen Bett.

(*) Der aufmerksame Leser wird vielleicht bemerkt haben, dass beinahe alle Gipfel der Cadini Gruppe „Cima Cadini“ heißen. Das liegt daran, dass sie alle gleich aussehen und hat den Vorteil, dass man sich hier schnell zurechtfindet („Wetten um ein Bier, dass das da vorne die Cima Cadini ist?“)

6.Tag: Die Besteigung des Herrstein am Pragser Wildsee

© Stefan Maday 13.08.2001